Judt, Tony

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Tony R. Judt (* 2. Januar 1948 in London; † 6. August 2010 in Neuyork) war ein jüdischer Historiker. In Aufsätzen und Vorträgen kritisierte der aus einer jüdischen Familie stammende Wissenschaftler den Zionismus. Eine seiner Forderungen lautete, Israel müsse sich in einen binationalen, säkularen Staat umwandeln, solle der Konflikt mit den Palästinensern jemals gelöst werden.

Werdegang

Herkunft

Tony R. Judt wurde 1948 in London als Sohn jüdischstämmiger, aber nicht gläubiger Eltern geboren. Die Vorfahren seiner Mutter stammten aus Rußland, sein Vater stammte aus Belgien.[1]

Ausbildung

Tony Judt besuchte eine hebräische Schule, und den Bezug zu jüdischer Kultur erhielt er auch über seine Großeltern vermittelt. Ebenso interessierte sich Judt schon als Jugendlicher für israelische Politik, wurde begeisterter Zionist und brachte es mit 15 Jahren zum Generalsekretär der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation „Dror“. 1966 arbeitete er in einem Kibbutz in Machanaim. Nach dem „Sechstagekrieg“ 1967 unterbrach Judt sein Geschichtsstudium in Cambridge und ging nach Israel. Hier arbeitete er als Übersetzer für Freiwillige, die sich zur israelischen Armee meldeten. Seine zionistische und pro-israelische Haltung begann aber danach zu bröckeln, wie Judt später bekannte; dies v. a. wegen des „Triumphalismus“ gegenüber den Arabern. Tony Judt erwarb am King's College der Cambridge University 1969 den B.A. und graduierte 1972 zum Ph.D.. Er studierte außerdem in Paris.

Wirken

In seinen Arbeiten setzte sich Tony Judt zunächst vornehmlich mit der Geschichte der Linken in Frankreich auseinander und machte sich einen Namen als Spezialist für französische Ideen- und Intellektuellengeschichte. Ebenso zählte er aber auch zu den wenigen europäischen Intellektuellen, die sich frühzeitig mit den Umbruchprozessen in Osteuropa jenseits des „Eisernen Vorhanges“ beschäftigten. Tony Judt lernte Anfang der 1980er Jahre sogar Tschechisch und in London und Paris stand er in ständigem intellektuellen Austausch zu seinen aus Ostmitteleuropa emigrierten Kollegen.[2]

1995 übernahm Tony Judt in Neu York die Leitung des neu gegründeten Remarque-Institutes für Europäische Studien an der New York University (NYU). Das Remarque-Institut ist nach dem Schriftsteller Erich Maria Remarque (er war mit der Jüdin Paulette Goddard Pauline Levy verheiratet) benannt.

Große Beachtung wurde 2005 seinem voluminösen Werk „Postwar: A History of Europe Since 1945“ geschenkt, das eine Pulitzer-Nominierung erhielt. Die über 1.000-seitige Abhandlung erschien 2006 auf Deutsch („Europa. Die Geschichte eines Kontinents von 1945 bis zur Gegenwart“) und weiteren Übersetzungen und stieß bei den Kritikern auf fast einhelliges Lob. So würdigte Claus Leggewie in der ZEIT (28. September 2006) das Werk als „eine meisterliche Synthese“ zur europäischen Geschichte nach 1945, die spannend zu lesen und gut übersetzt sei. Tony Judt sei es dabei gelungen, das „einzigartige Projekt der Europäisierung nach 1945 ins Bewusstsein zu rufen“ und eine „wirklich paneuropäische Geschichte“ (und nicht die übliche Aneinanderreihung nationaler Monographien) zu schreiben. Und Dan Diner beeindruckte Judts „seltene Fähigkeit“, neben der traditionellen Politikgeschichte „die komplexen währungswirtschafts- und sozialgeschichtlichen Phänomene der unmittelbaren Nachkriegszeit eindringlich und verständlich zu beschreiben“.[3] Judts Buch sei auch eine „Programmschrift des von Rumsfeld belächelten alten Europa“, denn Tony Judt glaube an dessen Überlegenheit und Konfliktlösungsmodelle, hieß es weiter im Rheinischen Merkur (21. September 2006). Das sozialstaatliche Europa und die Lebensverhältnisse könnten „Modellcharakter“ für andere Regionen der Erde haben, erklärte Tony Judt dazu (Deutschlandradio, 31. Oktober 2006).

2006 tat sich der linksliberale Historiker verstärkt als beißender Kritiker der in seinen Augen „katastrophalen“ Außen- und Sicherheitspolitik der VSA hervor. In Zeitungskommentaren übte er wiederholt scharfe Kritik an Präsident Bush und dem „Irak-Krieg“. Fünf Jahre nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 konstatierte Tony Judt in der Süddeutschen Zeitung (8. September 2006) einen „Kollaps des liberalen Selbstbewusstseins in den USA“. In Washington führten Neokonservative „heute brutale Kriege, für die die Liberalen das ethische Feigenblatt besorgen“, so Judt.

Für Kontroversen sorgte Tony Judt zudem mit seiner israelisch-kritischen Haltung. In einem Aufsatz in der „New York Review of Books“ hatte er 2003 den „Rückfall Israels in den Nationalismus“ angeprangert und einen binationalen, säkularen und palästinafreundlichen Staat befürwortet, wenn der Konflikt mit den Palästinensern je gelöst werden solle. Sein Votum für das Ende des jüdischen Israel in seiner jetzigen Form brachte ihm besonders in den VSA schärfsten Widerspruch und den Vorwurf des Antisemitismus ein. Die Welt (30.10.2006) schrieb in diesem Zusammenhang, J. sei für viele amerikanische Juden „zum selbsthassenden Antizionisten“ geworden. Neuen Wirbel verursachte im Oktober 2006 die kurzfristige Absetzung eines Vortrages von Tony Judt am polnischen Konsulat in Neu York zum Thema „Die Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik“. Laut Veranstalter hatte u. a. die jüdische Anti-Defamation League (ADL) entsprechenden Druck ausgeübt. In einem offenen Protestbrief forderten daraufhin über 150 teils namhafte Intellektuelle das Recht auf freie Meinungsäußerung für Tony Judt ein und protestierten gegen ein „Klima der Einschüchterung, das mit fundamentalen Prinzipien der Debatte in einer Demokratie unvereinbar“ sei.[4][5]

Auszeichnungen

  • Januar 2007: Für seine „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ wurde Tony Judt mit dem „Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch“ 2006 ausgezeichnet.
  • Mai 2007: Tony Judt ist diesjähriger Preisträger des „Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises“. Er erhält die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung für seine Rolle als Vermittler zwischen Europa und den USA.
  • November 2007: Tony Judt wurde der „Hannah-Arendt-Preis“ zugesprochen (mit 7.500 Euro dotierten Auszeichnung).

Mitgliedschaften

Tony Judt war „Permanent Fellow“ des 1982 gegründeten Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Er war seit 1995 Direktor des von ihm gegründeten Remarque-Instituts an der New York University.

Familie

Tony Judt lebte zuletzt mit seiner Frau, der Tanzkritikerin Jennifer Homans, und den zwei gemeinsamen Söhnen in Neu York. Bei Tony Judt wurde im September 2008 Amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert. Bei dieser Erkrankung des motorischen Nervensystems kommt es zu Lähmungen der Muskulatur. Judt mußte in der Folge mit Hilfe einer Maschine beatmet werden und verstarb vor der Zeit.

Werke

  • Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee. Hanser, München/Wien 1996, ISBN 3-446-18755-3
  • Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Hanser, München/Wien 2006, ISBN 3-446-20777-5
  • Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Hanser, München/Wien 2010, ISBN 978-3-446-23509-0
  • Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit. Hanser, München/Wien 2011, ISBN 978-3-446-23651-6
  • Das Chalet der Erinnerungen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23815-2
  • Tony Judt / Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Hanser, München 2013, ISBN 978-3-446-24139-8

Fußnoten

  1. Internationales Biographisches Archiv 51/2006
  2. vgl. Frankfurter Rundschau, 29. November 1996
  3. Die Welt, 19. August 2006
  4. vgl. Die Zeit, 26. Oktober 2006
  5. vgl. taz, 31. Oktober 2006