Bei Betrachtung von Schillers Schädel
Bei Betrachtung von Schillers Schädel ist ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe.
- Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute,
- Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
- Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.
- Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten,
- Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen,
- Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.
- Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen,
- Fragt niemand mehr, und zierlich tätge Glieder,
- Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.
- Ihr Müden also lagt vergebens nieder,
- Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben
- Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,
- Und niemand kann die dürre Schale lieben,
- Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte,
- Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben,
- Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte,
- Als ich inmitten solcher starren Menge
- Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte,
- Daß in des Raumes Moderkält und Enge
- Ich frei und wärmefühlend mich erquickte,
- Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge,
- Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
- Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
- Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
- Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
- Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
- Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?
- Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
- Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
- Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.
- Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
- Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
- Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
- Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.
Literatur
- Goethe's Sämmtliche Werke, Band 1, 1836, S. 226 (PDF-Datei)