Diskussion:Promesberger, Ludwig
Karl Betting
Karl Betting gelingt die Flucht aus Stalingrad
DENKINGEN - Der Denkinger Unteroffizier Karl Betting ist der Hölle knapp entkommen. An Silvester 1942 ist er aus dem Kessel von Stalingrad ausgebrochen.
Über 334 000 deutsche Soldaten gerieten im November 1942 in die russische Winteroffensive um Stalingrad. 90 000 von ihnen wurden in die Gefangenschaft getrieben. Nur knapp 5 000 überlebten eine teilweise bis zu zehn Jahren dauernde Gefangenschaft . Einer der Überlebenden ist der 85-jährige Denkinger Karl Betting, einer der 21 Autoren, die in einem Band ihre ganz persönlichen Kriegserinnerungen der Nachwelt hinterlassen haben.
Stalingrad wurde nie vollständig erobert. Im Gegenteil: Im November 1942 begann die zweite russische Winteroffensive, der es gelang, die 6. Armee von der Landverbindung zum deutschen Nachschub abzuriegeln. Die drei Flugplätze innerhalb des Kessels konnten fast bis zur Kapitulation am 31. Januar und 2. Februar 1943 mit Versorgungsgütern angeflogen werden. In den „Genuss“, ausgeflogen zu werden, kamen nur Verwundete, ungefähr 29 000, darunter auch der Denkinger Wilhelm Roth. Außer Karl Betting waren noch fünf weitere Denkinger im Kessel: Moritz Schnee, Erich Schnee, Viktor Benne, Max Fetzer und Richard Mauch. Sie haben die Heimat nie mehr gesehen. Ein Ausbruch der Armee aus dem Kessel wäre durchaus erfolgversprechend gewesen, durch das Machtwort des Führers zwei Tage vor Weihnachten aber wurde die gesamte Truppe in die Vernichtung geführt. Stalingrad ist zum Inbegriff eines unsinnigen und überaus unmenschlichen Krieges geworden.
Karl Betting bezeichnete es mehrfach als höhere Vorsehung, wenn ihm und 20 weiteren Kameraden der Ausbruch aus dem Kessel gelungen ist. Als Gerätewart war er für die Instandsetzung von Kanonen, MGs und Zielfernrohren und deren Justierung zuständig. Diese wurden abgeschossenen Panzern zur Wiederverwendung ausgebaut. Das bedeutete gleichzeitig, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten toten Kameraden aus den Fahrzeugen zu bergen.
Dafür stand ihm ein Lastwagen, ein Dreitonner, zur Verfügung. Mit dem Gedanken, den Kessel zu verlassen und jede Möglichkeit erwägend, hatte sich jeder Landser beschäftigt, seit vom 22. November an der Kessel geschlossen war. Als Lastwagenfahrer konnte sich Karl Betting vorsorglich mit Kraftstoffvorräten für zwei Lastwagen und eine Zugmaschine eindecken.
Als der Russe am Tag vor Silvester 1942 nochmals einen Großangriff gestartet hatte und die Truppe in völlige Auflösung geraten war, hielten es die 21 Mann für höchste Zeit, das Vorhaben zu riskieren.
- „Wenn wir liegenbleiben, haben wir keine Chance mehr“
Am Tag vor Silvester 1942 brach Karl Betting mit weiteren 20 Kameraden aus dem Kessel von Stalingrad aus. „Von dem Standort ausgehend, stellten wir fest, dass der Don, den wir ja überqueren müssten, 180 Kilometer entfernt ist. Wir waren uns auch darüber klar, dass, wenn wir in der Steppe liegenbleiben und am andern Tag die Sicht gut ist, keine Chance mehr haben. Auf jeden Soldaten machten die russischen Flugzeuge Jagd.“
Wir riskierten dieses gewagte Unternehmen. Ich hatte einen russischen Marschkompass, der wie eine Armbanduhr getragen wurde. Wir fuhren in westlicher Richtung ohne Straße, alles Steppengebiet, Stunde um Stunde. Mit dem Wetter hatten wir großes Glück. Es war nicht ganz Vollmond, nebelfrei. In der Steppe lag eine leichte Schneedecke, und wir konnten kilometerweit sehen.
Durch eisiges Wasser
Es mochte ungefähr 1 Uhr nachts gewesen sein, als wir am Horizont einen dunklen Streifen entdeckten. Beim Näherkommen konnten wir Bäume und Hecken ausmachen. Tatsächlich, wir waren am Don. Die Uferböschung war bewachsen, und der Fluss lag vier bis sechs Meter tief im Gelände eingeschnitten. Auf beiden Seiten war der Don zugefroren und in der Mitte eisfrei. Die große Frage, wie kommen wir über den Don. Als letzten Ausweg schlug ich noch vor, uns auszuziehen, unsere Klamotten zusammenzubinden und durch das eisige Wasser zu schwimmen.
Russische Einheit
Da wurde es plötzlich auf der anderen Seite lebendig. Eine russische Einheit zog auf der westlichen Seite flußabwärts. Von unserem Vorhandensein wussten sie natürlich nichts. Da es Silvesternacht war, waren sie ziemlich laut. Kaum waren diese vorbei, kam eine motorisierte Kolonne und fuhr in der gleichen Richtung. Uns kam der Gedanke, ob diese Einheiten wohl einer Brücke zustrebten. Kämen sie von einem Übergang, wären sie wohl ins Landinnere gezogen. Wir bestiegen die Fahrzeuge und fuhren auf der Uferböschung in die gleiche Richtung, nur auf der östlichen Seite. Eine Fahrt ohne Licht, so schnell es den Umständen entsprechend ging. Auf der westlichen Seite die russische Kolonne mit vollem Scheinwerferlicht.
Eine Brücke
Unsere Fahrt war jedoch schneller, und wir ließen jene Fahrzeuge zurück. Nach einer Stunde sahen wir in gespenstischen Umrissen - oder war es eine Fata Morgana? - eine Brücke. Wir fuhren bis etwa 50 Meter heran und starrten dieselbe an wie ein Geschenk des Himmels. Uns war klar, diese Brücke entscheidet über Liegenbleiben und Gefangenschaft oder einen Funken Hoffnung. Wir mussten feststellen, ob die Brücke vermint oder eine Brückenwache vorhanden war. In Eile näherte ich mich mit noch einem Kameraden der Brücke, wir schlichen zur Hälfte hinüber, konnten aber nichts Verdächtiges feststellen. Wir sprangen zurück zu den andern und wagten die Überfahrt. Ich weiß noch genau, ich fuhr mit dem zweiten Gang und war kaum fähig, eine Lenkbewegung zu machen. Kaum auf der anderen Seite, und schon leuchteten die Scheinwerfer der russischen Fahrzeuge auf.
„Wir waren nun auf der westlichen Seite. Der Mond wurde von Wolken verdeckt. Bald fielen die ersten Schneeflocken. Der Schneefall wurde stärker, und bei der anbrechenden Morgendämmerung befiel uns eine große Müdigkeit. Wir hatten ja zwei Tage und Nächte kein Auge zugemacht. An einem Waldrand ruhten wir ein bisschen“, erinnert sich Betting.
Hauptkampflinie überquert
Die Fahrt nach Westen ging weiter. Sie hörten in der Ferne MG-Bellen, Stalinorgeln, Artilleriedonner und Motorenlärm. Erst nach etwa 60 Kilometern, nach einem ganzen Tag, trafen sie auf Menschen, deutsche Soldaten bei Schanzarbeiten bei der von Deutschen besetzten Stadt Schachti. Ohne es geahnt zu haben, hatten die 21 Flüchtlinge vor wenigen Stunden die Hauptkampflinie überquert. In Stalino konnten sie sich bei einer Sammelstelle für Stalingrad-Versprengte melden.
Vier Wochen später kapitulierten die Kessel, nachdem auch die Flugverbindung unmöglich geworden war. Für kurze Zeit verschlug es Karl Betting nochmals nach Frankreich, wo er einer neu aufgestellten Einheit zugeteilt wurde. Dann ging es im Herbst 1943 abermals nach Russland in den Kampfraum Kriwoi-Rog.
Anschließend im Sommer 1944 versetzte man ihn nach Rumänien, im Herbst nach Litauen. Die Kompanie lag über den Winter in der Nähe von Riga. Als die Ostfront näher rückte und Danzig abgeschnitten war, blieb nur noch der Wasserweg nach Swinemünde. Von dort ging es zur Berlinverteidigung, später nach Flensburg, wo er in englischer Gefangenschaft bis zu seiner Entlassung am 1. August 1945 von den Besatzern als Ordnungspolizist eingesetzt wurde. Am 7. August erreichte er den Heimatort Denkingen.
Josef Fetzer