Merseburger Zaubersprüche
Die beiden Merseburger Zaubersprüche wurden 1841 in der Bibliothek des Domkapitels Merseburg in einer theologischen Handschrift des 9./10. Jahrhunderts gefunden. Es sind die einzigen erhaltenen Zauberformeln welche die germanisch-heidnische Religiosität in althochdeutscher Sprache bezeugen können.
Inhaltsverzeichnis
Form
Beide Sprüche sind zweigliedrig. Einem episch-erzählenden Einleitungsteil, der ein früheres Ereignis schildert, folgt die eigentliche magische Beschwörung in Form eines Analogiezaubers (So wie damals ... so soll auch jetzt ...). In der Form ihrer Verse stellen die Zaubersprüche ein Übergangswerk dar - die Langzeilen zeigen teils Stabreime, teils schon den Endreim, der in der christlichen Dichtung des 9. Jahrhunderts erfunden wurde.
Geschichte
In der vorschriftlichen, heidnischen germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche (Galster) dazu, „durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte, die sich der Mensch dienstbar machen will, nutzbar zu machen“ (Quelle 1). Zaubersprüche sind, speziell aus dem germanischen Sprachraum, in großer Zahl überliefert. Alle diese Sprüche stammen aber aus dem Mittelalter und sind daher christlich geprägt bzw. beeinflusst.
Das Einzigartige an den Merseburger Zaubersprüchen ist, daß sie ihren vorchristlichen Ursprung (vor 750 u. Z.) noch sehr rein reflektieren. Sie wurden im 10. Jahrhundert von einem schriftkundigen Kleriker, vielleicht noch im Kloster Fulda, auf eine freigebliebene Seite eines liturgischen Buches eingetragen - zu welchem Zweck, ist unbekannt. So wurden uns die Zaubersprüche in Karolingischer Minuskel auf dem Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars überliefert.
Spruch 1 - Befreiung von Gefangenen
Der erste Zauberspruch ist eine Art „Lösesegen“. Er beschreibt, wie eine Anzahl „Idisen“ (walkürenartige Frauen) auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger von ihren Fesseln befreit. Den eigentlichen „magischen“ Spruch stellt die letzte Zeile mit „Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!“ dar, der die Krieger erlösen soll.
Eiris sazun idisi |
Einst saßen Frauen (vgl. Disen), |
Spruch 2 - Pferdeheilung
Phol und Wodan reiten durch den Wald, wobei sich Phols Pferd den Fuß verrenkt. Wodan bespricht es mit: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien.“
So zeigen Darstellungen aus dem 5./6. Jahrhundert Wodan beim Heilen eines Pferdes. Bisher können nicht alle genannten Götternamen eindeutig identifiziert werden. Klar ist nur „Uuôdan“ (Wodan, Wotan, Odin) und „Frîia“ (Freya, seine Gemahlin). Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es wirklich Namen von Göttern sind.
Phol ende uuodan sose benrenki, |
Phol und Wodan Sei es Knochenrenke, |
Erklärungen
- walkürenartige Frauen: Walküren (altnd. „diejenigen, die bestimmen, wer auf dem Kampfplatz fallen soll“), in der germanischen Mythologie die Botinnen des Gottes Wodan (nordgerm. Odin), die über die Schlachtfelder reiten, die gefallenen Einherierer durch ihren Kuss zu ewigem Leben erwecken und sie nach Asgard entrücken. Eventuell identisch mit den Disen, weibliche Gottheiten aus der nordischen Mythologie. Eine Dise altnordisch dís / dísir, altschwedisch dis ist eine Art weibliche Fruchtbarkeitsgottheit, eventuell mit den angelsächsischen Idisi verwandt.
- Wodan: Der germanische Gott Wodan entspricht weitgehend dem nordischen Odin und wurde vor allem in den südlicheren Gefilden Germaniens verehrt.
Indogermanische Vergleiche
Neben weiteren europäischen Überlieferungsvarianten jüngeren Datums findet sich zum zweiten Merseburger Zauberspruch kurioserweise eine Parallele in der altindischen Überlieferung Atharvaveda (Text IV 12 in der Saunaka-Version, IV 15 in der Paippalada-Version) wieder. Der indische Text besteht aus der Anrufung der in der Pflanze Arundhatî ruhenden Heilkräfte:
Übersetzung[1]
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Übereinstimmungen zwischen diesem Text und MZ2 bestehen sowohl in der Rahmenhandlung (ein Gott greift ein) als auch in der Formel nach dem Schema X zu Y; wobei überdies in beiden Texten Blut, Knochen und Glieder in dieser Formel gebraucht werden.
Analoges gilt auch für die altsächsische Fassung des Wurmsegens, der als ältester deutscher Zauberspruch gilt:
Transliteration |
Übersetzung[2] |
Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen den Merseburger Zauberspruch und der altindischen Überlieferungen ist bisher nicht geklärt, da viele altindische Überlieferungen erst nach und nach herausgegeben und damit der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich werden. Klaus Mylius sieht in den Gemeinsamkeiten lediglich Parallelentwicklungen, während Heiner Eichner zumindest vorsichtig auf einen möglichen genetischen Zusammenhang verweist, der freilich erst durch weiterführende Forschungen zu festigen oder zu widerlegen ist.
Quellen
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 2. Auflage 1995
Literatur
- PDF Gotthold Bötticher: Hildebrandlied und Waltharilied, nebst den „Zaubersprüchen“ und „Muspilli“ als Beigaben, 1894
- Friedrich Kluge: „Hildebrandslied, Ludwigslied und Merseburger Zaubersprüche“, 1919 (Netzbuch und einzelne Seiten als PDF-Dateien speicherbar) Für Nicht-USA-Bewohner nur mit US-Proxy abrufbar!
- Wolfgang Beck: Die Merseburger Zaubersprüche. Eine Einführung, Imhof-Verlag 2010, ISBN 978-3865686404
Verweise
- Merseburger Zaubersprüche (Artgemeinschaft: Asatru.de)