Zerschlagung historischer Buchbestände in der DDR

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Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Ihre Bestände gelangten über die 1953 gegründete Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände teils in andere Bibliotheken, teils wurden sie zu Altpapier eingestampft, zur Hauptsache aber wurden die oft bedeutenden Sammlungen zur Devisenbeschaffung an Antiquariate im Westen verschachert.

Quelle
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Systematisch sind in der DDR, vor allem im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform von 1952/53, fast alle kleineren und mittleren historischen Bibliotheken liquidiert worden. Die Landesbibliotheken in Altenburg, Dessau, Neustrelitz und Sondershausen, dazu Dutzende von alten Rats-, Schul-, Archiv- und Klosterbibliotheken in Eisenach, Grimma, Güstrow, Meissen, Plauen, Saalfeld, Wernigerode und anderswo – sie alle wurden ausgeschlachtet, zerschlagen, geschlossen oder zu Stadtbibliotheken degradiert. Man favorisierte vermeintlich fortschrittliche Büchereien für Arbeiter und Bauern sowie wissenschaftliche Allgemeinbibliotheken mit „einem an den Grundwerten des Sozialismus orientierten Buchbestand“. Frühere Feudalbibliotheken aus Zeiten der deutschen Kleinstaaterei, voll mit verstaubten bürgerlichen Bildungsgütern, wollte man nicht fortführen in der DDR. So wurden im sächsischen Grimma die Bücher der 1543 gegründeten Fürstenschule über viele Jahre hinweg verfeuert, verteilt, veruntreut oder verramscht. Ein „Sachsenspiegel“ von 1474 verschwand spurlos, Pergamentbände wurden für zwei Mark das Stück verkauft, Briefe von Melanchthon und anderen Humanisten wanderten vermutlich ins Altpapier.

Die vielen hunderttausend Bücher, die allerorten mit Lastwagen abtransportiert wurden aus all den Bibliotheken, die zwar eine grosse Vergangenheit, nun aber keine Zukunft mehr hatten, wurden überwiegend der nächstbesten Universitäts- oder Grossbibliothek zugeschlagen, wo sie die oft beträchtlichen Kriegsverluste ersetzen sollten. Interesse und Kapazitäten der Bibliotheken in Berlin, Dresden, Gotha, Halle, Jena, Leipzig und Schwerin waren jedoch begrenzt, denn dort lagerten in feuchten Kellern oder baufälligen Aussenmagazinen schon zahllose Schloss- und Adelsbibliotheken, deren Besitzer 1945 in den Westen geflüchtet oder durch die anschliessende Bodenreform enteignet worden waren.

Altpapier oder Devisen

1953 wurde deshalb die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände gegründet, die zunächst der Gothaer Landesbibliothek, ab 1959 der Ostberliner Staatsbibliothek angegliedert war. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Bestände der aufgelösten Bibliotheken sowie die Dubletten der Grossbibliotheken zu sichten, bibliographisch zu erfassen und dann an solche Bibliotheken zu verteilen, die Bedarf an diesen Werken anmeldeten. Die vielen alten Bücher sollten andernorts neue Leser finden. So weit die Theorie. Die realsozialistische Praxis sah dann ganz anders aus. Zwischen 1959 und 1989 gingen der Zentralstelle mehr als sechs Millionen Bücher zu. Die Bibliotheken, denen all diese Bücher zugute kommen sollten, interessierten sich jedoch für nur etwa 700 000 Werke, rund zehn Prozent des Altbestandes. Was geschah mit dem riesigen Rest? Man versuchte, ihn volkswirtschaftlich sinnvoll zu verwerten. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: Die eine davon hiess „VEB Sekundärrohstoffverwertung“, das heisst auf Deutsch: Ab zum Altpapier. Fast drei Millionen Bücher, überwiegend neuere Literatur, aber auch alte Werke in beklagenswertem Zustand, um die man weiter kein Aufhebens machen wollte, wurden eingestampft und zu Papierbrei vermahlen. Die zweite Möglichkeit war etwas eleganter, vor allem aber sehr viel profitabler: Sie hiess „Zentralantiquariat Leipzig“. Gut drei Millionen Bände gingen diesen Weg.

Dem 1959 gegründeten Zentralantiquariat (ZA) waren die alten Bücher eine überaus willkommene Ware, die sich blendend verkaufen liess, aber nicht im Inland, sondern via „Buchexport“ an das kapitalistische Ausland. Schon im Mai 1958 war im Leipziger „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ dazu aufgerufen worden, „alle Reserven zu mobilisieren, um exportfähige Titel zur Verfügung zu stellen“, die dadurch zu erzielenden Devisen sollten „der Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung“ dienen. Die Bibliothekare aus Berlin arbeiteten Hand in Hand mit den Antiquaren aus Leipzig. Man sichtete gemeinsam die Altbestände und zerschlug oft schon an Ort und Stelle die fraglichen Sammlungen, indem man die Bücher kurzerhand auf drei grosse Haufen verteilte: einen für die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA), einen für das Zentralantiquariat und einen für die Makulatur. Nachdem 1961 in der Landesbibliothek Dessau 13 500 Bände flüchtig gesichtet worden waren, fiel die Bilanz folgendermassen aus: „1 Tonne ältere Zeitschriften – unbrauchbar. 5 Tonnen Monographien und Serien – an das ZA. 2,5 Tonnen Biographien, Genealogien, Rara, Länder- und Reisebeschreibungen – an die ZwA.“ Dass sich jedoch „auch unter angeblichen Makulaturbergen wertvolle Stücke“ verbargen, war dem ersten Leiter der Zentralstelle, Gerhard Pachnicke, zwar bewusst, änderte aber wenig an der Praxis.

Weil viel Geld zu verdienen war mit diesen alten Büchern und da zugleich auch die staatlichen Planvorgaben bezüglich der zu erzielenden Exporterlöse höher wurden, begannen die Antiquare bald, sich mit den Bibliothekaren darüber zu streiten, wer zuerst zugreifen durfte. Das Zentralantiquariat wollte sich nicht länger mit den minderwertigen Restbeständen begnügen, sondern die besten Bücher zum Verkauf haben, und zwar möglichst vorab. Fortan ging nicht nur Dutzendware aus dem 18. und 19. Jahrhundert ans Zentralantiquariat, es gelangten vielmehr immer wieder auch kostbare Werke des Barock, Rara und Illustrata, Erst- und Prachtausgaben nach Leipzig, wo in zehn Lagern unter miserablen Bedingungen Millionen von Büchern und Zeitschriften gehortet wurden. Weil der Verkauf jedes einzelnen Titels per Katalog oder Auktion langwierig war und die Begehrlichkeiten westlicher Händler grösser wurden, ging man bald dazu über, an bevorzugte Grosskunden wie Thulin in Stockholm, Hans Horst Koch in Westberlin und nicht zuletzt Ulrich Keip in Frankfurt Jahr für Jahr ganze Lastwagen, später Container voller Bücher zu verkaufen. Aus Kulturgut war Stückgut geworden.

Sehr trüb wurden die Geschäfte mit den alten Büchern dann in den achtziger Jahren, als die Devisenknappheit der DDR einerseits und die Nachfrage aus der BRD andererseits immer grösser wurden. Eine besonders zwielichtige Rolle spielte dabei Johannes Wend, der lange Jahre die Geschäfte des Zentralantiquariates mitbestimmte, ehe er 1987 zum volkseigenen Betrieb „Kunst und Antiquitäten“ mit Hauptsitz in Mühlenbeck bei Berlin wechselte. Die von der Staatssicherheit geführte Firma unterstand dem Ministerium für Aussenhandel des Staatssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski und hatte nur ein Ziel, der DDR mit allen Mitteln Devisen zu verschaffen.

Gezielter Ausverkauf

Überfallartig suchten die Angestellten der Firma die privaten Sammler des Landes heim und beschlagnahmten unter dem Vorwand angeblicher Steuerhinterziehung Bilder, Antiquitäten, Münzen, Porzellan und andere Preziosen im Wert von vielen Millionen Mark, plünderten nebenbei die Depots der staatlichen Museen und verscherbelten dann alles in den Westen. Der Berliner Journalist Günter Blutke hat über diese „Obskuren Geschäfte mit Kunst und Antiquitäten“ (Berlin 1990) einen Kriminalreport geschrieben. Für diese Firma hat Wend in den letzten zwei Jahren der DDR von Leipzig aus Bücher und Grafik aus privatem und staatlichem Besitz erst begutachtet, dann beschlagnahmt (oder pro forma aufgekauft) und schliesslich verschoben. So liess Wend beispielsweise Ende 1988 aus den Archiven im thüringischen Altenburg und im sächsischen Döbeln Hunderte von alten Büchern abtransportieren, vorgeblich, um sie vor dem Verfall zu retten, tatsächlich, um sie an Ulrich Keip in Frankfurt zu verkaufen, wie Bernt Ture von zur Mühlen im Frankfurter „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ (12/1990) berichtet hat.

Dass die systematische Zerschlagung historischer Buchbestände, mit der die Geschichte und die Identität ganzer Regionen ausradiert wurde, ein „Akt der grossen Kulturbarbarei“ (so der Münchner Buchhistoriker Reinhard Wittmann) und der gezielte Ausverkauf von mehreren Millionen Büchern unverantwortlich, teilweise auch kriminell gewesen ist, darüber besteht kein Zweifel. Und dennoch muss man zugleich berücksichtigen, dass die vielerorts von Feuer angesengten, von Wasser aufgeweichten, von Schimmel überzogenen oder von Mäusen und Würmern angefressenen Bücher kleiner Bibliotheken fallweise tatsächlich besser aufgehoben waren in den grossen Häusern und dass es verantwortliche Bibliothekare gegeben hat, die einzelne Bestände vor Zerschlagung und Verkauf bewahrt haben. Und wahr ist auch, dass der planwirtschaftliche Ausverkauf von Kulturgütern in das kapitalistische Ausland nie ein solches Ausmass hätte annehmen können, wenn es nicht im Westen sehr geschäftstüchtige, sehr skrupellose Antiquare gegeben hätte, deren teils unwissende, teils gutgläubige Kunden mehr Begehrlichkeiten als Bedenken hatten.

Spricht man heute mit den Handelnden von damals, findet man niemanden, der sein seinerzeitiges Treiben bedenklich oder gar verwerflich finden würde. Helmut Kazimirek, der lange Jahre die Geschäfte des von der Staatssicherheit kontrollierten Zentralantiquariates in Leipzig bestimmte und heute als Vertriebsleiter der Fachzeitschrift „Auto & Elektronik“ in Heidelberg arbeitet, behauptet auf Nachfrage, dass das Zentralantiquariat überwiegend Dutzendware, vor allem Dissertationen, in den Westen verkauft habe. Im Übrigen nimmt er für sich und seine damaligen Mitarbeiter in Anspruch, dass sie jederzeit morgens in den Spiegel hätten sehen können. Sein seinerzeit bevorzugter Geschäftspartner und Duzfreund Ulrich Keip, der nach eigener Auskunft von 1965 bis 1989 „mit weitem Abstand der grösste Abnehmer“ der vom Zentralantiquariat verhökerten Bücherberge war, ist heute mit seiner Firma in Goldbach bei Frankfurt ansässig; ihm gehören ausserdem das Hamburger Antiquariat sowie das Geschäft seines früheren Konkurrenten Hans Horst Koch in Berlin.

Normale Geschäfte?

„Ganze Lastzüge“ voller Bücher seien damals über die Grenze gerollt, erinnert er sich, „zig Tonnen“ habe er Jahr für Jahr gekauft, nicht nur beim Zentralantiquariat in Leipzig, sondern auch bei der gefürchteten Firma Kunst und Antiquitäten in Mühlenbeck, am Ende dann auch direkt in der Dépendance von Johannes Wend in Leipzig. Normale deutsch-deutsche Geschäfte seien das gewesen, ordnungsgemäss abgewickelt hüben wie drüben. Wo all die Bücher hergekommen und auf welche Weise seine Geschäftspartner in den Besitz dieser Altbestände gelangt seien, habe ihn „nicht weiter interessiert“. Seine Kunden übrigens auch nicht, so seien seinerzeit grosse Mengen juristischer Literatur vom Bonner Bundesjustizministerium und vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe gekauft worden. Johannes Wend schliesslich, der sich nach der Wende in Leipzig trotz manchen Anfeindungen im Handumdrehen selbständig zu machen verstanden hatte, ist mittlerweile gestorben, sein Sohn Christian führt die Geschäfte fort.

Die meisten der damals zerschlagenen Bibliotheken haben sich bis heute nicht wieder erholt. Die traditionsreichen Fürstenschulen in Grimma und Meissen verfügen über keinen historischen Buchbestand mehr, die Carl-Alexander-Bibliothek in Eisenach besitzt nur noch ein Zehntel ihrer einstmals 60.000 Bücher, viele andere einst prächtige Bibliotheken fristen heute als gehobene Stadtbüchereien eine traurige Randexistenz. Die Aussichten, dass die betroffenen Bibliotheken ihre früheren Bestände zurückerhalten könnten, sind gering, weil in der Regel niemand nachvollziehen kann, wo sich ihre von der Zentralstelle verteilten oder vom Zentralantiquariat verkauften Bücher heute befinden. Ausserdem haben sie – im Gegensatz zu den durch die Bodenreform enteigneten Privatpersonen – rechtlich keinen Anspruch auf Rückgabe, denn gegen geltende Gesetze wurde nur in Einzelfällen verstossen.

Dennoch bemüht man sich mancherorts, die Fehler der Vergangenheit wenigstens teilweise wieder gutzumachen. So hat die Sächsische Landesbibliothek in Dresden kürzlich 2100 alte Drucke an die Christian-Weise-Bibliothek in Zittau, die um 1980 herum rund 20.000 Bände hatte abgeben müssen, retourniert. Die Anhaltische Landesbibliothek in Dessau hat einen Teil ihrer historischen Bestände aus Halle zurückerhalten, und die Universitätsbibliothek Jena hat schon vor der Wende 184 Stahlblechkisten voller Bücher wieder nach Rudolstadt bringen lassen, 1992 dann auch den verbliebenen Rest, eine aparte Sammlung kleinformatiger Erotika. Die über das Zentralantiquariat in alle Welt verkauften Bücher jedoch sind für immer verloren.