Mauss, Marcel
Marcel Mauss (* 10. Mai 1872 in Épinal; † 10. Februar 1950 in Paris) war ein jüdischer Soziologe und Ethnologe. Mauss war der Neffe von Émile Durkheim.
Inhaltsverzeichnis
Werdegang
Marcel Mauss stammt aus einer jüdischen Familie, die eine kleine Seidensticker-Manufaktur in den Vogesen betrieb. Er ist einer der wichtigsten französischen Soziologen.
„Die Gabe“ (1950)
Sein Werk strahlte auf überhaupt alle kritischen Disziplinen seiner Zeit aus: auf die Philosophie, auf die Verhaltensforschung, auf die Frühgeschichtsforschung, auf die Psychologie. Besonders sein vielgelesener Groß-Essay „Die Gabe“ (1950), eine brillante Untersuchung der Formen des materiellen Austauschs — ihrer Symbolmacht, ihr Bindungsfunktion und ihrer sozialpsychologischen Verknüpfungen von Verpflichtung, von Gegenseitigkeit, von informellem Kredit (und Phänomenen wie dem Potlatsch) — ist ein Klassiker der Wissenschaftsliteratur des 20. Jahrhunderts.
Diese systematische, vergleichende Studie über den Geschenkaustausch — als ethnologische Erscheinung in allen Kulturen — bietet einen Schlüssel für das Verständnis von Brauchtum, gerade auch in den Fällen, in denen wir Brauchtum als Zivilisationsschock, als befremdliche, als eigenartige oder auch als bedrohliche Sache empfinden.
Kapitalismuskritik
Besonders seit den Ereignissen des 15. Septembers 2008, dem schockartigen Wegbrechen der größten Investmentbanken der Welt, mit globalen, katastrophischen Auswirkungen bis in die Gegenwart, richtet sich der Blick auch aller Geisteswissenschaftler erneut auf die primären, auf die naturwüchsigen und ursprünglichen Formen des materiellen Austauschs in den Zivilisationen.
Wie sich herausstellt, hat die neoliberale Ideologie der unbeschränkten Markt-Deregulierung eben keineswegs diese urtümlichen Kräfte der Marktteilnahme und des Marktzugangs freigesetzt, sondern stattdessen bloß Millionen abhängig Beschäftigte in eine noch weitaus schwächere Verhandlungsposition, als zuvor schon, gebracht und zudem bestehende Traditionen nicht-kapitalistischer gegenseitiger Verpflichtung noch weiter zermürbt und marginalisiert.
Die Lektüre des Klassikers „Die Gabe“ von Marcel Mauss ist geeignet, unsere begründeten Zweifel am bestehenden scheinrationalen ökonomischen System entschieden zu bestärken. Es weckt zugleich heilsame Erinnerungen wach an die vielen Formen der sittlichen Transaktion, also derjenigen Übertragungen von materiellem Eigentum, die persönliche Beziehungen zwischen Individuen stiften und aufrechterhalten, anstelle formell kreditberechneter, mechanisch-abstrakter Abhängigkeitsverhältnisse.
Die geradewegs lächerliche Naivität, die darin besteht, bestehende gesellschaftliche Einrichtungen als notwendig und unwandelbar bestehende Einrichtungen mißzuverstehen (gegen alle historische Erfahrung), sollte insbesondere Geisteswissenschaftlern eigentlich fremd sein. Aber das ist eine ihrerseits naive Prämisse. Faktisch ist kritischer Geist eine Nano-Ressource, die selbst in verschärften Ausnahmesituationen der Geschichte nur ganz am Rande und nur ganz ungefestigt sich Geltung zu verschaffen vermag. In diesem Sinne ist dieser Großessay von Marcel Mauss ein Schulbeispiel für waches, eigenständiges Denken.
Literatur
- Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von Edward Evans-Pritchard. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1968; damals noch keine ISBN [Originalausgabe: Essai sur le Don (1950)]