Wuot
Wuot (neuhochdeutsch Wut, an. óðr, got. wôd-) ist ein germanischer Begriff, vergleichbar mit lat. furor, der Vorstellungen von psychischer Erregtheit, begeisterter oder besessener Raserei und dichterischer oder mantischer Inspiration verbindet. In einem anderen Sinne steht Zorn (lat. ira), der die einfachere aggressive Gemütsbewegung ohne kreativen Aspekt bezeichnet.
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Etymologie
Die urgermanische Form mag *wōđaz m., *wōđō f., auch ein u-Stamm *wōđuz gewesen sein, letztlich von einer idg. Wurzel *wat- mit einer Kernbedeutung „blasen, hauchen“, wozu früh die übertragene Bedeutung „inspirieren, begeistern“ tritt, offenbar durch die Vorstellung von Geist oder „Temperament“ als einem Feuer, dessen Hitze durch etwas wie Hauch oder Atem angefacht wird.[1] Die Wurzel erscheint auch im Namen der keltischen oder italo-keltischen Priesterkaste der *wāti- (lat. vātēs, gall. ουατεις, air. fāith).
Die poetische Komponente is sichtbar in der Bedeutung vom altnordischen óðr, neben furor und „Vernunft, Geist“ auch „Lied, Dichtkunst“ und in angelsächsisch wóþ f. „Ton, Schrei, Stimme, Gesang, Dichtung“, daneben wōþcræft „Dichtkunst“. Von óðr abgeleitet ist das an. Abstraktum œði "Besessenheit, heftige Erregtheit". Im Deutschen konkurrieren zwei Bildungsweisen, ein -în- gegenüber einem -i-Stamm, was im Neudeutschen zu wüte gegenüber wut führt. Beide Formen verbreiten sich im ganzen Sprachgebiet, wobei Grimm eine oberdeutsche (schwäbisch-alemannische) Vorliebe für wut einer mittel- und niederdeutschen Vorliebe für wüte gegenüberstellt. Erst im späten 17. Jahrhundert setzt sich Wut endgültig gegen Wüte durch. Oberdeutsch ist das Wort bis im 18. Jahrhundert gelegentlich maskulin, oft durch Anlehnung an begleitende Begriffe wie „Zorn und Wut“, „Grimm und Wut“, „Wut und Heldenmut“. Das altenglische Adjektiv wōd „rasend, tollwütig“ überlebt dialektal in die Moderne, als wood oder wud. Ahd. wuot ist bezeugt in einer Glosse aus dem 9. Jahrhundert als insanitis uuuaten; daneben ahd. ferwuot "Raserei".
Kultische Raserei im historischen Heidentum
Im germanischen Heidentum ist *wōđ- eng mit dem Gott Wuotan verbunden. Der Göttername ist von derselben Wurzel abgeleitet, *Wōđ-in-az oder *Wōđ-an-az, eigentlich „der dem *wōđ Zugehörige, der Herr des *wōđ“, von einem vorgermanischen *wātinos, nach Rübekeil[2] möglicherweise ein in gemeingermanischer Zeit von den keltischen Watis entlehnter Gott der poetischen Ekstase, dessen Kult sich erst in der Völkerwanderungszeit gegen den früheren Hauptgott Tîwaz nach und nach durchsetzte.
Die Ulfhednar der isländischen Sagas scheinen Kriegerbünde gewesen zu sein, die sich Odin geweiht hatten und kultische Raserei oder óðr zelebrierten. Das Wutesheer oder Wütesheer ist die „Wilde Jagd“, belegt seit dem 13. Jahrhundert. Als Anführer erscheint seit dem 16. Jahrhundert Wode oder Wütte, die deutsche Entsprechung von Óðr.[3] Ob *Wōđuz als Personifikation der „kultischen Raserei“ jemals ein von *Wōđanaz getrennter Gott war, lässt sich nicht sicher feststellen. Es wurde auch vorgeschlagen, daß, während *wōđaz oder *wōđō die „Wut“ selbst bedeutet, der u-Stamm *wōđuz als Kollektivum den Totenzug, d.i. die Wilde Jagd bezeichnet, und *Wōđanaz ursprünglich eher der „Herr des Totenzuges“ als direkt der „Herr der 'Wut'“. Diese Auffassung wird allerdings von Ninck (1935) und De Vries (1957) verworfen, und es gilt als wahrscheinlicher, daß der Name des Totenzuges vom Namen des Gottes abgeleitet wurde und nicht umgekehrt, also ahd. *Wuotanes heri.
Sowohl die Wilde Jagd der mittelalterlichen Folkore als auch die Raserei der wikingerzeitlichen Berserker wird verglichen mit antiken Berichten von sogenannter „germanischer Raserei“ (vgl. furor teutonicus). Die einheimische Bezeichnung für kultische oder rituelle „germanische Raserei“ könnte *ansu-laikaz gewesen sein, wörtlich ein „Leich für die Ensi“, d.i. ein Spiel oder Tanz für die Götter.[4] Hermann (1928) sah einen solchen Ansleich in einem herabsetzenden Bericht des Tacitus' über Sieges-Gesänge der batavischen Söldner, die unter Gaius Julius Civilis im Jahre 69 über Quintus Petillius Cerialis gesiegt hatten, sowie in der Siegesfeier der Langobarden im Jahre 529; zu diesem Anlass soll eine Wodan geweihte Ziege enthauptet worden sein und die Langobarden sollen im Kreis um den Ziegenkopf getanzt und dazu ein „abscheuliches Lied“ gesungen haben; anschliessend hätten sie sämtliche christliche Gefangenen getötet.[5]
„Wod“ als Substanz oder Energie
Wayland Skallagrimsson (Pseudonym eines US-Amerikanischen Odinisten)[6] hat in Selbstversuchen den gangr der historischen Berserker zu rekonstruieren versucht. Er benennt eine verwandte Gruppe von ekstatischen Traditionen, denen der germanische „Berserkergang“ zuzuordnen sei, übergeordnet als somafera (von griech. soma „Körper“ und lat. ferus „wild“).[7]
Er benutzt den Begriff wod (von der altenglischen Wortform, inhaltlich aber vom substantivischen altnordischen óðr geleitet[8]) für eine Art von psychischer Energie, die durch bestimmte Praktiken „angereichert“ werden kann ("wod-raising"). Als Techniken, die „wod-anreichernd“ wirken können werden Hyperventilation, rhythmische Bewegung sowie Ausnahmezustände wie Schmerz oder Angst genannt. Die phsyiologische Folge solches „wod-raising“ soll sich durch Ausschüttung von Adrenalin und Erhöhung der Körpertemperatur äussern.[9]
Wayland vergleicht dieses Konzept einer (spirituellen, psychischen oder metaphorischen) „Substanz“ oder „Energie“ wod mit dem Begriff des qi (chi) 氣 in der chinesischen Medizin und Kampfkunst, merkt aber an, daß die beiden Begriffe in mancher Hinsicht genau entgegengesetzte Merkmale aufweisen, insofern als qi durch komplette körperliche Entspannung und geistige Klarheit und Ausgeglichenheit zustande komme und damit in direktem Gegensatz zur durch wod bewirkten ekstatischen Raserei stehe.
Bei genügend angereichertem wod soll sich dann der Berserkergang oder eben „somafera“ einstellen, neurologisch einem sog. unitary state entsprechend, ein Begriff der einen durch religiöses Ritual herbeigeführten Zustand von Ekstase und Verlust des Selbst bezeichnet.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch „Od“, die 1845 von Baron Carl von Reichenbach postulierte „vitale Energie“, auch mit dem Chinesischen qi sowie mit dem Hinduistischen prāṇa verglichen.