Friedell, Egon
Egon Friedell ( 21. Januar 1878 in Wien; 16. März 1938 ebenda) war ein jüdischer Schriftsteller, Kulturphilosoph, Theaterdichter und Schauspieler.
Inhaltsverzeichnis
Leben und Wirken
Friedell war der Sohn des jüdischen Tuchfabrikanten Moriz Friedmann und seiner Frau Karoline, geb. Eisenberger. Noch bevor er 1899 in Heidelberg seine Abiturprüfung bestand, konvertierte er 1897 zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis. 1916 änderte er seinen Zunamen in den skandinavisch klingenden Künstlernamen „Friedell“.
Als sein Hauptwerk gilt seine — in 3 Bänden zwischen 1927 und 1931 erschienene — „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Friedmann war Anhänger von Houston Stewart Chamberlain und distanzierte sich öffentlich vom Judentum, indem er bekannte, daß „das Gesetz Mose in seinem Kopf keinen Platz“ mehr finde. Dem Judentum ermangelte es — seiner Beobachtung nach — an jeglichem philosophischen Idealismus. 1935 schlug Friedell vor, sein nächstes Buch in einem NS-Verlag erscheinen zu lassen. Im selben Jahr widmete er seine „Kulturgeschichte des Altertums“ Knut Hamsun.
1938 nahm sich Friedell in Wien das Leben. Er war seit Jahrzehnten Alkoholiker und mehrfach in Behandlung, so daß eine unkontrollierte Handlung im Vollrausch möglich erscheint, zudem hatte Friedell bereits vorher mehrfach seine Selbsttötung angekündigt.[1] Die Offizielle Geschichtsschreibung machte dann daraus einen „Freitod als Folge eines Besuches der Gestapo“.
Geschichtsphilosophie
Mit seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ hat Egon Friedell nicht allein einen neuen Stil der Geschichtsbetrachtung eingeführt. Er schildert detailliert Gewänder und Gebärden, Umgebungen und Geschmackspräferenzen, Haltungen und Bedürfnisse der geschichtlich Handelnden. Sittengeschichte und Stilgeschichte fließen in seiner Schilderung zwanglos ein ins Große und Ganze der kausalen Linien. Das zuvor übliche Einschmelzen geschichtlicher Prozesse auf die blanke Machtgeschichte von Schlachtordnung und Schlacht, von Feldherr und Expansionsdrang, von Imperium und Vasallentum, kippt ins Schematische gegenüber dieser von Friedell ausgemalten eigentlichen Kulturgeschichte.
Darüber hinaus folgt seine monumentale Darstellung einer Reihe von geschichtsphilosophischen Prämissen, die er in seiner Einleitung zwar deutlich benennt, die aber in der vielfältigen Rezeption seines Werks stets vernachlässigt oder sogar übersehen wurden. Egon Friedells Geschichtsauffassung ist wesentlich idealistisch. Ihm zufolge strömt alles, was geschieht, aus den Ideen, und das Versickern der Idee beschreibt er als die regelmäßige Ursache des Einsturzes großer, mächtiger und scheinbar substanzhaltiger Geschichtsentitäten.
Friedell zufolge kann es keine wissenschaftliche Geschichtsforschung geben. Er schreibt: „Wenn die genetische Geschichtsschreibung annimmt, ebenso streng wissenschaftlich Ursache und Wirkung ergründen zu können wie die Naturforschung, so befindet sie sich ebenfalls in einer Täuschung. Die historische Kausalität ist schlechterdings unentwirrbar, sie besteht aus so vielen Gliedern, daß sie dadurch für uns den Charakter der Kausalität verliert. [...] Kurz: Der einzige Weg, in die historische Kausalität einzudringen, ist der Weg des Künstlers, ist das schöpferische Erlebnis.“[2] Ebenso entschiedenen und scharfen Widerspruch durch Friedell findet die Auffassung, Geschichtsforschung müsse „unparteilich“ sein. Er schreibt: „Schließlich [...] erweist sich auch die Forderung der Unparteilichkeit als völlig unerfüllbar. Daß die Geschichtsforschung im Gegensatz zur Naturforschung ihre Gegenstände wertet, wäre noch kein Einwand gegen ihren wissenschaftlichen Charakter. Denn ihre Wertskala könnte ja objektiver Natur sein, indem sie, wie in der Mathematik, eine Größenlehre oder, wie in der Physik, eine Kräftelehre wäre. [...] Daß Shakespeare der größte Dramatiker sei, der je gelebt hat, kommt uns ganz selbstverständlich vor, aber diese Meinung ist erst um die Wende des 18. Jahrhunderts allgemein durchgedrungen; [...]“[3] Weder Umfang und Dauer geschichtlicher Impulse lasse sich — so Friedell — objektiv messen, noch seien die Volten der kommenden Deutungen vergangenen Geschehens vorhersehbar.
Metaphysisch entscheidend ist für Friedell folgender Umstand: „Viel schwerer aber wiegt der Einwand, daß ein großer Teil der historischen Wirkungen unterirdisch verläuft und oft erst sehr spät, bisweilen gar nicht ans Tageslicht tritt. Wir kennen die wahren Kräfte nicht, die unsere Entwicklung geheimnisvoll vorwärtstreiben; [...]“[4] Als Beispiel für diese Tatsache dient ihm eine Bemerkung des Sueton über das frühe Christentum, der es ganz unbefangen als einen „obskuren jüdischen Skandal“ beschreibt, ohne im Mindesten zu bemerken, daß er, wie Friedell sagt, faktisch zu jener Zeit schon von einer „Weltmacht“ redet.
Oswald Spengler und Friedell
Die zeitliche Nähe der Veröffentlichung — und teilweise stofflichen Überschneidung — des Spengler´schen Hauptwerkes mit Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“, wirft klarerweise die Frage auf, wie abhängig Friedells Arbeit von der Spenglers ist. Wie ausgeführt, weist Friedell einer „organischen“ Geschichtsbetrachtung (also damit auch einer genetischen oder generischen „Geschichtsmorphologie“ im Sinne Spenglers) eine vergleichbare Zeitabhängigkeit zu, wie einer — von ihm so genannten — „ästhetischen“ und einer „ethischen“ Geschichtsbetrachtung. Am Beispiel der weit voneinander abweichenden Bewertungen etwa des Lebenswerkes von William Shakespeare oder auch Johann Sebastian Bachs in verschiedenen Jahrhunderten, begründet Friedell sein eigenes Verfahren eines dichterisch-schöpferischen Geschichtszugangs. Friedell folgt damit der Auffassung: „Alle Geschichte ist Legende“. Und nur Illusionen der Wissenschaftsgläubigkeit täuschen — so Friedell — über diese Grundtatsache hinweg. Dies ist zugleich eine implizite Kritik an der Spengler´schen Kulturmorphologie, gegen deren determinierende Anschauungsweise Friedell an der Vorstellung einer unvorhersehbaren, unausschöpflichen und irreduziblen Individualität festhält.
Schriften (Auswahl)
- Der Petroleumkönig, 1908
- Goethe. Eine Szene (mit Alfred Polgar); C.W. Stern, Wien 1908. Wiederabgedruckt in: Lutz R. Gilmer (Hg.): Klassische Einakter und Kurzspiele, Erster Band. Grafenstein-Verlag, ohne Verlagsort 1981; S. 43-52 [Ein Frankfurterisch antwortender Goethe, er selbst, fällt durch eine mündliche Prüfung zum Thema »Goethe«]
- Ecce poeta, [Biographie zu Peter Altenberg]; S. Fischer, Berlin 1912
- Von Dante zu d’Annunzio, Rosner & Stern, Wien 1915
- Die Judastragödie. In vier Bühnenbildern und einem Epilog, Strache, Wien 1920
- Das Jesusproblem, Mit einem Vorwort von Hermann Bahr, Rikola, Wien 1921. online lesen
- Steinbruch. Vermischte Meinungen und Sprüche, Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte, Wien 1922
- „Das ist klassisch!“ Nestroy-Worte; hg. von Egon Friedell. Mit acht Rollenbildern, Wiener-Drucke, Wien 1922
- Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg, 3 Bände, C.H. Beck, München 1927–31; ungekürzte Neuausgabe in einem Band: 147.-153. Tausend der Gesamtauflage (1989)
- Kleine Philosophie. Vermischte Meinungen und Sprüche, Phaidon, Wien 1930
- Egon Friedells Konversationslexikon; hg. von Peter Haage, Diogenes Verlag, Zürich
- Die Rückkehr der Zeitmaschine. Phantastische Novelle [Erstausgabe: 1946, Piper-Verlag, München]. Diogenes-Verlag, Zürich 1974
- Kulturgeschichte des Altertums. Leben und Legende der vorchristlichen Seele, Erster Teil: Ägypten und der Alte Orient. Helikon, Zürich 1936
- Ist die Erde bewohnt? Essays von 1919 bis 1931, Herausgegeben und mit einem Nachwort »Der ganze Friedell?« versehen von Heribert Illig. Diese Sammlung erschien unter dem Titel »Selbstanzeige« erstmals 1983 im Löcker Verlag, Wien. Diogenes-Verlag, Zürich 1985