Polnisch-Sowjetischer Krieg
Im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 standen sich der wiederentstandene polnische Staat sowie das postrevolutionäre Sowjetrußland gegenüber, in dem die massiv durch Frankreich unterstützten polnischen Truppen am Ende die Oberhand gewannen. Das Ergebnis bedeutete dennoch für beide Seiten eine Niederlage. Nachdem die Novemberrevolte in Deutschland gescheitert war, endeten sowohl die bolschewistische Doktrin der Weltrevolution wie auch vorübergehend die großpolnischen Träume Marschall Piłsudskis.
Das gerade zwei Jahre zuvor mit deutscher Hilfe wieder errichtete unabhängige Polen hatte nach dem Versailler Diktat gegen Deutschland große Teile deutschen Territoriums zugeschanzt bekommen. Das reichte den polnischen Machthabern aber noch nicht. Die von den Alliierten zusätzlich ausgearbeitete Curzon-Linie, die die polnische Ostgrenze entlang des Bugs entsprechend der Volksgrenzen vorgab, war für diese Polen völlig inakzeptabel. Polen wollte in einem imperialistischen Angriffskrieg die eigene Machtposition im Osten mit weiteren Eroberungen stärken und spekulierte auf ein „Polen“ von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer. Marschall Piłsudski, der die polnischen Streitkräfte kommandierte, strebte eine möglichst weit nach Osten reichende polnische Einflußsphäre an. Das noch im Bürgerkrieg befindliche Rußland der Bolschewiki war demgegenüber bestrebt, eine Revolution in Deutschland auszulösen.
Dementsprechend gab es kommunistische Aufrufe, den Polen jegliche Unterstützung zu verweigern:
- „Für Deutschland wurde das Problem der Militärtransporte aber erst akut, nachdem es der Roten Armee gelungen war, den polnischen Vorstoß aufzuhalten und sie nun ihrerseits am 4. Juli eine Offensive begann. Je bedrohlicher die Lage für Polen wurde, um so wahrscheinlicher wurde ein Eingreifen der Entente, vor allem Frankreichs. Polen nahm in dem gegen Sowjetrußland und Deutschland gleichermaßen gerichteten osteuropäischen Cordon sanitaire die zentrale Stellung ein.
- Die Komintern erkannten die Gefahr. Ihr westeuropäisches Sekretariat rief daher noch vor Beginn der sowjetischen Juli-Offensive erneut zum Boykott von Militärtransporten der Entente für Polen auf. Die Presse der USPD und der KPD veröffentlichte den Appell Ende Juni. Aber auch die Gewerkschaft deutscher Eisenbahner und Staatsbediensteter hatte, alarmiert durch Gerüchte über Militärhilfe der Entente für Polen, bereits Ende Juni empfohlen, den Dienst zur Beförderung von Ententetruppen zu verweigern.
- Militärtransporte für Polen über deutsches Gebiet lagen auch nicht im Interesse der deutschen Reichsregierung. Zwischen Deutschland und Polen herrschten wegen noch offener Gebietsfragen und der Behandlung der deutschen Minderheit im neuentstandenen polnischen Staat starke Spannungen, die sich gerade im Sommer 1920 erheblich verschärft hatten. Die Regierung wahrte strikte Neutralität [...].“[1]
Anfänglich erzielten die Polen nach ihrem Überfall auf die Sowjetunion große Erfolge und besetzten weite Landstriche der Ukraine einschließlich Kiews. Bald warf die Rote Armee sie jedoch bis ins polnische Kernland zurück. In der Schlacht von Warschau schlugen die Polen die sowjetische Armee infolge des Versagens von deren Führung jedoch und warfen sie wieder bis in die Ukraine zurück.
- „Der Krieg begann als klassischer Eroberungsfeldzug – am 8. Mai 1920 rückten polnische Truppen in Kiew ein. Der Krieg fand zu einem Zeitpunkt statt der günstig schien Gebietsansprüche Polens auf die Ukraine und damit Großpolen von Meer zu Meer militärisch durchzusetzen. In Russland hatte die Rote Armee unter Trotzkis Oberkommando Ende 1919 zwar alle wesentlichen Kräfte der Konterrevolution zerschlagen, doch das Land war zerstört, die Wirtschaft lag danieder, und nicht nur die Bevölkerung war der Kriege müde. Kriegsmüde war auch die 1. Rote Reiterarmee des Kosakengenerals Budjonny, die noch Anfang 1920 die weißen Truppen unter General Denikin bis an den Kaukasus verfolgt hatte und nun, im Frühjahr 1920, nach einem Marsch von über tausend Werst, an die Südwestfront geworfen worden war, um den polnischen Angriff zurückzuschlagen. ‚Geführt wurde dieser Krieg‘, schreibt Peter Urban (in „Genauigkeit und Kürze“, Diogenes Verlag, Zürich 2006), ‚mit der Erbarmungslosigkeit eines Glaubenskrieges. Verstand sich Piłsudski als östlichster Vorposten gegen den Bolschewismus, darin, vom Westen, vor allem Frankreich, nach Kräften unterstützt, so war russischerseits der Gedanke der Weltrevolution noch jedem präsent. ›Wir kommen‹, zitiert Babel 1920 einen Armeebefehl, ›nicht in ein erobertes Land, das Land gehört den Arbeitern und Bauern Galiziens und nur ihnen, wir kommen, um ihnen zu helfen, die Rätemacht zu errichten.‹ Daß es nicht dazu kam, hängt unmittelbar mit Verlauf und Ausgang jenes ›Krieges mit den Weißpolen‹ zusammen; er endete trotz einer Reihe von Siegen – die Rote Armee vertrieb die Polen schon im Juni aus Kiew und stand, zwei Monate später, vor den Toren Warschaus – mit einer verheerenden Niederlage. Und verantwortlich für diese Niederlage war kein anderer als Stalin. Stalin war 1920 Kriegskommissar, also der politisch ranghöchste Funktionär an der Südwestfront, und verfolgte das ehrgeizige Ziel, das schon im Ersten Weltkrieg heftig umkämpfte Lemberg einzunehmen – statt, wie vom Oberkommando empfohlen, der Südflanke Tuchačevskijs [Tuchatschewskis] vor Warschau zu Hilfe zu kommen. Er führte, wie Trockij [Trotzki] es später formulierte, seinen ›Privatkrieg‹. So attackierten Budjonnys [Budjonnijs] Kosaken Lemberg noch eine Woche, nachdem Piłsudski die Rote Armee bei Warschau bereits vernichtend geschlagen hatte.‘ Stalin wurde daraufhin seines Postens enthoben. Diese persönliche Niederlage hat er weder Trotzki noch der roten Generalität noch dem polnischen Offizierskorps verziehen. Trotzkis Entmachtung erfolgte 1927, zehn Jahre später begannen die Säuberungen auch in der Armee [...] Zwischen dem Russisch-Polnischen Krieg und den Morden von Katyn liegen nur zwanzig Jahre. ‚Viele der heute aufbrechenden Fragen‘, meint Urban, ‚haben ihren Grund nicht im Jahr 1945, sondern in der Nachkriegsordnung von 1918.‘“[2]
Im Frieden von Riga, der am 18. März 1921 unterzeichnet wurde, stimmte Sowjetrußland einem Waffenstillstand und Friedensvertrag zu, der Polen erhebliche Gebiete im Osten zusicherte. Die polnisch-sowjetische Grenze verlief stellenweise bis zu 250 km östlich der eigentlichen polnischen Grenze.
Zur Rückeroberung der Gebiete strebte die Sowjetführung in der Folge eine gemeinsame Militäraktion mit dem Deutschen Reich an, dem ebenfalls Gebiete von Polen entrissen worden waren. 1939 konnten sie dieses Vorhaben im Polenfeldzug gemeinsam umsetzen. Polen hatte jedoch, seit es nach dem Ersten Weltkrieg in seinem maßlosen Expansionsstreben erneut entfesselt worden war, noch weitergehende Pläne für eine neuerliche Eroberung von fremden Gebieten, diesmal als „Lebensraum im Westen“. So schrieb der damalige polnische Exilpräsident Wladyslaw Sikorski bereits 1940 (!):
- „Vorrang hat, daß die polnischen Streitkräfte mit neuen Waffen in die Lage versetzt werden, Ostpreußen, Danzig und die deutschen Teile Oberschlesiens unter Austreibung der Deutschen auf wirksamste Weise zu erobern. In diesem geschichtlichen Augenblick werden nur vollendete Tatsachen zählen!“[3]
Dieser Krieg wurde von den deutschen Minderheiten in Polen als „Polnisch-Bolschewistischer Krieg“ bezeichnet. Dabei hatten die deutschen Minderheiten mindestens ein Todesopfer zu beklagen.
Quelle
- Lydia Raeder (1910–1995), Alexandrow bei Litzmannstadt