Bosnische Annexionskrise
Als Bosnische Annexionskrise bezeichnet man die Krise, welche auf die Annexion der bis dahin völkerrechtlich zum Osmanischen Reich gehörigen Gebiete von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 folgte. Es ist sehr fraglich, mit welchem Recht der Kaiser auf Bosnien Anspruch erhob. Ideologisch wurde dies mit dem Panslawismus begründet.
Die bosnische Annexionskrise wurde auf diplomatischem Wege beigelegt, da weder die zumeist betroffenen Anrainerstaaten Serbien und die Türkei, noch Rußland im Hintergrund zu einem Waffengang gerüstet waren. Die mittelbaren Folgen sollten sich aber als unübersehbar erweisen. Die serbische Todfeindschaft zur habsburgischen Donaumonarchie, das Wiederaufleben des für ein Jahrzehnt begrabenen russisch-österreichischen Antagonismus in Südosteuropa, der sich schon beim österreichischen Sandschakbahn-Projekt angekündigt hatte, die Entstehung des Balkanbundes und die Balkankriege der Jahre 1912/13 und das Attentat von Sarajevo führten letztlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Auf dem Berliner Kongreß erhielt Österreich die Erlaubnis, das zum Osmanischen Reich gehörende Bosnien und Herzegowina zu okkupieren, um den russischen Machtzuwachs am Balkan zu kompensieren. Formal blieben diese Gebiete aber weiterhin ein Bestandteil des Osmanischen Reiches.
Am 3.Juni 1908 brach im Osmanischen Reich die Jungtürkische Revolution aus, wodurch es vorübergehend in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt wurde. Der Sultan war gezwungen, die Verfassung von 1878 wiederherzustellen und freie Wahlen auszuschreiben. Dabei bestand durchaus die Gefahr, daß auch bosnische Abgeordnete in das türkische Parlament entsendet werden würden. Man sah in Österreich nun eine günstige Gelegenheit für eine förmliche Annexion von Bosnien und Herzegowina gekommen, das zwar seit dem Berliner Kongreß von 1878 von Österreich okkupiert worden war, aber formal weiterhin ein Bestandteil des Osmanischen Reichs blieb. Man erkannte, daß vor allem Rußland durch den verlorenen Krieg gegen Japan von 1905 militärisch noch schwer angeschlagen war und zusätzlich auch noch innenpolitisch durch soziale Unruhen geschwächt wurde. Am 15. und 16. September 1908 berieten sich der russische Außeminister Iswolski und der österreischische Außenminister Graf von Aehrenthal auf Schloß Buchlau in Böhmen. Man einigte sich darauf, daß Rußland eine österreichische Annexion von Bosnien und Herzegowina anerkennen würde, wenn Österreich-Ungarn einer freien Durchfahrt russischer Kriegsschiffe durch die türkischen Meerengen zustimme. In der Folge versuchte der russische Außenminister auch die restlichen europäischen Großmächte zu einer Anerkennung der russischen Ansprüche auf eine freie Durchfahrt durch die Dardanellen zu bewegen. Dieses Ansinnen scheiterte aber letztendlich an der Zustimmung Großbritanniens, das die russischen Ansprüche nicht anerkannte, da es seine eigenen Interessen als gefährdet ansah.
Am5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn die bosnischen Provinzen überfallartig nun auch formell. Kaiser Franz Joseph verfaßte ein Schreiben an seinen Außenminister, in dem er schrieb, “daß er gedenke, seine Souveränitätsrechte auf Bosnien und Herzegowina zu erstrecken und die für sein Haus geltende Erbfolge auch in diesen Ländern in Wirksamkeit umzusetzen wolle.“ Da Österreich es aber vorher unterließ, die Annexion mit den Signaturmächten des Berliner Kongresses abzusprechen und Rußland seine freie Durchfahrt durch die Dardanellen nun doch nicht erhielt, fühlten sich vor allem die Russen von Österreich hintergangen und es brach eine europäische Krise aus.
Auswirkungen
Die Haltungen der europäischen Großmächte waren verschieden, es zeigte sich aber eine deutliche Verstimmung über die vorher nicht mit den anderen Mächten abgesprochene Eingliederung der bosnischen Provinzen. Vor allem England und Rußland drohten, das Osmanische Reich in seiner alten Rechtsstellung wieder einzusetzen. In Serbien, dessen Beziehungen mit Österreich ohnehin durch den „Schweinekrieg“ bereits bis auf das äußerste belastet waren, kochte der Haß. Österreich hatte die serbische Landwirtschaft dadurch, daß es 1906 die Grenzen für serbisches Schweinefleisch sperrte, an den Rande des Ruins gebracht. Dadurch war in Serbien die Abneigung gegen Österreich noch weiter gewachsen. Serbien fühlte sich nun wegen der österreichischen Annexion in seinen großserbischen Bestrebungen angegriffen. Eine Zeitlang schwebte Europa in einer massiven Kriegsgefahr.
Der britische König Eduard VII. erinnerte in einem Schreiben an Kaiser Franz Joseph daran, daß der Berliner Vertrag nur mit der Zustimmung der Signatarmächte des Berliner Kongresses und vor allem der am meisten betroffenen Türkei hätte geändert werden können. Er nahm aber die Erklärung des Kaisers, daß die Annexion die österreichische Orientpolitk nicht beeinflussen werde, gern zur Kenntnis. Das Osmanische Reich reagierte mit einer Mobilmachung seines Heeres und mit einem Handelsboykott gegen Österreich, der dem österreichischen Handel schwer zusetzte. Speziell aber in Serbien, das selbst den Anschluß beider Provinzen angestrebt hatte, löste die Annexion nun eine wüste Kriegshetzte aus. Nur das Deutsche Reich stellte sich demonstrativ hinter seinen Bündnispartner Österreich-Ungarn. Der österreichische Generalstabchef Franz Conrad von Hötzendorf erkannte durchaus die Gefahr für die Monarchie, die durch die großserbische Politik entstehen konnte und plädierte daher für einen „Vorbeugungskrieg“ gegen Serbien. Gegenüber dem britischen Botschafter in Wien bekräftigte der Kaiser trotzdem, daß er nicht die Absicht habe, militärische Vorbereitungen zu treffen, da dies eine zu große Gefahr für den europäischen Frieden wäre. Conrad sah die letzte Möglichkeit für ein Losschlagen gegen Serbien im März 1909 gegeben und es gelang ihm auch, den Thronfolger Franz Ferdinand von seinem Standpunkt zu überzeugen, daß Serbien ausgeschaltet werden müsse, wobei dieser darauf beim Kaiser die volle Mobilisierung der dalmatischen Truppen gegen Serbien durchsetzten konnte.
Doch mittlerweile gelang es dem österreichischen Außenminister Aehrenthal, die außenpolitschen Spannungen zumindest teilweise beizulegen. Das Osmanische Reich wurde mit zweieinhalb Millionen türkischen Pfund abgefunden und stellte den Handelsboykott gegen die Donaumonarchie ein. Serbien gegenüber wurden aber die Mobilisierungsmaßnahmen verstärkt, da es sich immer noch weigerte einzulenken und Rußland anfangs noch eindeutig hinter Serbien stand.
Beilegung
Am 29.März 1909 stellte sich der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg in einer Rede im DeutschenReichstag für den Falle eines Krieges Österreichs gegen Serbien demonstrativ hinter die Donaumonarchie.
Rußland war nun das Risiko einer europäischen Auseinandersetzung aufgrund seiner offensichtlichen militärischen Schwäche durch den verlorenen Krieg gegen Japan doch zu groß, gab nach und überredete Belgrad schließlich zum Einlenken. Kurz bevor die vom Ministerrat beschlossene totale Mobilisierung der österreichisch-ungarischen Streitkräfte durchgeführt wurde, gab Serbien nach einer massiven Einflußnahme Rußlands und anderer Großmächte ebenfalls nach. Am 31.März 1909 überreichte der serbische Gesandte in Wien eine Erklärung, daß Serbien die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn anerkenne und sein Heer wieder auf den Friedensstand zu versetzen gedenke. Die Krise konnte nun doch noch endgültig friedlich beigelegt werden und die Gefahr eines europäischen Krieges war noch einmal gebannt.
Folgen
Die Öffentlichkeit feierte die Beilegung der Spannungen als großen Sieg. Aber dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Annexion letztendlich mehr Nachteile für Österreich und das Deutsches Reich mit sich brachte. Innenpolitisch traten die negativen Folgen der Annexion für Österreich am offensichtlichsten zu Tage, da man sich, ähnlich wie bei der Okkupation 30 Jahre zuvor, nicht über die Verwaltung einig werden konnte. Sowohl Ungarn als auch Kroaten erhoben Anspruch auf die neuen Provinzen. Schließlich entschied man sich, daß Bosnien durch beide Reichshälften gemeinsam verwaltet werden sollte. Auch wirtschaftlich brachte die Annexion keine Vorteile mit sich, da es sich bei Bosnien um eine extrem arme Provinz handelte. Letztlich konnte man sich damit begnügen, daß das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn vor allem gegen Rußland einen Prestigeerfolg errungen hatten und dieses vor der ganzen Welt brüskierten, indem man es zum Nachgeben zwang. Die Spannungen zwischen Österreich und Deutschlands einerseits sowie Rußland und Serbien andererseits hatten einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die diplomatischen Beziehungen zu diesen Staaten waren von nun an auf Jahre hinaus ruiniert. Die Annexionskrise war ein großer Schritt in Richtung einer großen europäischen Auseinandersetzung. Weiterhin zeigte sich immer mehr, daß der Balkan zum Unruheherd Europas wurde. Dieser Eindruck sollte sich in den nächsten Jahren noch verstärken.
Literatur
- Diplomatische Aktenstücke betreffend Bosnien und die Hercegovinia, 1909
- Horst Haselsteiner: Bosnien-Hercegovina. Orientkrise und südslavische Frage. Wien 1996, ISBN 3-205-98376-9.
- Noel Malcolm: Geschichte Bosniens. Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-10-029202-2.
- Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. (=Österreichische Geschichte 1804–1914), Wien 1997, ISBN 3-8000-3619-3.
- Eduard Richter: Bosnien. In: Berger/Glossy (Hg.): Österreichische Rundschau. Band VI. Heft 69. 02/1906. S. 139-152.