Archipel Gulag

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Der Archipel Gulag ist ein historisches Sachbuch des russischen Schriftstellers – und Trägers des Nobelpreises für Literatur – Alexander Issajewitsch Solschenizyn. Der 1974 veröffentlichte „Archipel Gulag gilt als sein Hauptwerk und als eines der einflußreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Es ist das bekannteste Werk der, oft im Untergrund entstandenen und verbreiteten, (Samisdat)–Lagerliteratur aus der Stalin- und Chruschtschow-Ära in der Sowjetunion und die bedeutsamste Darstellung und Kritik des Stalinismus innerhalb der Literatur.

Der Titel „Archipel Gulag versteht sich als Kennzeichnung des stalinistischen Justiz- und Lagerwesens. Das waren über die ganze Sowjetunion verteilte, abgeschlossene „Inseln“ der Unterdrückung und Entmenschlichung. Zu Zeiten gab es in Stalins Sowjetunion zehntausend Konzentrationslager (an neu errichteten Eisenbahnlinien alle paar Kilometer eines). Der Titel spielt ferner an auf das Buch „Die Insel Sachalin“ von Tschechow, das Zwangsarbeit und Verbannung im Zarismus beschreibt.

Publikationsgeschichte

Alexander Solschenizyn befand sich seit September 1965 unter ständiger Beobachtung des KGB, nachdem seine geheimgehaltenen Manuskripte zum Roman „Der erste Kreis der Hölle“ und das Theaterstück „Republik der Arbeit“ in dessen Hände gelangt waren.
Bereits 1970 war Solschenizyn der Nobelpreis für Literatur verliehen worden. Zur Preisverleihung reiste er allerdings nicht nach Stockholm, da er befürchtete, die Staatsführung würde ihm die Wiedereinreise in die Sowjetunion verweigern.

Solschenizyn arbeitete ab April 1958 über zehn Jahre lang am „Archipel Gulag“, hielt aber seine Veröffentlichung zurück und versteckte das teils auf dem Papier von Zementsäcken abgefaßte Manuskript. Er schrieb damals am historischen Romanzyklus Das rote Rad, den er als sein wichtigstes Werk ansah. Eine Publikation des „Archipel Gulag“ und die danach mögliche Verhaftung hätten die Arbeit daran unmöglich gemacht, die er erst 1975 abzuschließen dachte. Im August 1973 entdeckte der KGB das Manuskript zum „Archipel Gulag“. Dadurch hatte es für Solschenizyn keinen Sinn mehr, das Werk weiterhin geheimzuhalten. Ein russischer Emigrantenverlag, der über eine Kopie des Manuskriptes verfügte, wurde von ihm angewiesen, das Buch sofort zu drucken. Anfang Januar 1974 erschien es in Paris und kurz darauf in Übersetzungen in vielen westlichen Ländern.

Das ursprüngliche Buch enthält die Teile I und II („Die Gefängnisindustrie“ und „Ewige Bewegung“). Später wurde daraus eine dreibändige Ausgabe, die in sieben Teile gegliedert ist. Band 2 und Band 3 wurden 1975 beziehungsweise 1978 veröffentlicht. 1985 erschien außerdem eine gekürzte, einbändige Gesamtausgabe, die Vielen als leichter lesbar gilt.

Form

Nach der Veröffentlichung des Kurzromans „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ fühlten sich viele ehemalige Lagerhäftlinge persönlich angesprochen und wollten ihre Erinnerungen mit Solschenizyn teilen. Mehr als zweihundert schrieben ihm oder suchten ein Gespräch. Diese Zeugenaussagen sind die Grundlage von „Der Archipel Gulag“. Hinzu kommen Solschenyzins eigene Erlebnissse und offizielle öffentliche und geheime Dokumente und Untersuchungen.

Solschenizyn schrieb einerseits als sorgfältiger Chronist, der die Schicksale der Opfer das Stalinismus getreu wiedergab, andererseits verdichtete er ihre Erlebnisse auch literarisch. Die dichterische Anlage wird in dem Untertitel „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“ deutlich, die Haltung des Zeitzeugen wird in dem Vorspruch betont:

All jenen gewidmet,
die nicht genug Leben hatten,
um dies zu erzählen.
Sie mögen mir verzeihen,
daß ich nicht alles gesehen,
nicht an alles mich erinnert,
nicht alles erraten habe.

Deshalb wirkt der „Archipel Gulag“ teilweise wie ein Sachbuch, wie eine wissenschaftliche Arbeit mit dem dazugehörigen Anhang, einem biographischen Namensverzeichnis und einem Verzeichnis der Abkürzungen. Außerdem existieren zahlreichen „Anmerkungen“ in der Fußzeile der Seiten. Auf der anderen Seite ist das Buch ein im zynischen Tonfall gehaltenes politisch-literarisches Manifest, ein Pamphlet und eine Anklage an die Zustände in Justiz und Lagerwesen der Sowjetunion. Im Kern ist es den Opfern gewidmet, es versteht sich als Erinnerung und Würdigung ihres Lebens und Leidens:

Inhalt

Im Teil I „Die Gefängnisindustrie“ schildert Solschenizyn den seit der russischen Oktoberrevolution betriebenen Ausbau und Aufbau der russischen „Gefängnisindustrie“. Er vergleicht die Zustände im Justizapparat der Sowjetunion mit denen der Zarenzeit. Er nennt die Namen von Opfern und Tätern, wobei die „Täter“ oft nur wenige Jahre später selbst zu „Opfern“ des Systems werden und mit der nächsten Verhaftungswelle selbst im Archipel landen (ein Rollentausch, der zu den kennzeichnenden Eigenschaften bolschewistischer Herrschaft zählt). Solschenizyn selber schreibt, daß oftmals nicht die Straftat (oder ein Verdacht) ausschlaggebend für die Verhaftung war, sondern wirtschaftliche Erwägungen und der Bedarf an Arbeitskräften. Haupttäter – daran läßt Solschenizyn keinen Zweifel – ist für ihn Stalin.

Teil II „Ewige Bewegung“ behandelt die „Besiedlung“ des neu geschaffenen Archipels durch die „Häftlingsströme“, die – ab 1917 bis in die Entstehungszeit des Buches – durch Untersuchungsgefängnisse und landesweite Häftlingstransporte in die Straflager fließen.

In Teil III wird die „Arbeit und Ausrottung“ behandelt. Solschenizyn schildert die Lagerwelt und beschreibt den Weg der Häftlinge von der Einlieferung bis zum Tod durch Mangelernährung, Erschöpfung, Krankheiten oder durch sadistische Bewacher. Er beschreibt die repräsentativen (aber teilweise falsch geplanten oder praktisch nutzlosen) Bauwerke der Stalinzeit und das Leben und Arbeiten der daran beteiligten Häftlinge. Ferner beschreibt Solschenizyn die fein abgestufte Rangfolge unter den Gefangenen. Die kriminellen Häftlinge wurden häufig milder bestraft und im Straflager besser behandelt als die politischen Gegner, weil sie nicht als „klassenfremde Elemente“ galten. Die politischen Gegner dagegen (oder wen man dafür hielt) galten als Gegner der Arbeiterklasse und als Konterrevolutionäre; sie wurden schikaniert. Solschenizyn schreibt auch über Fluchtversuche, denen allerdings durch die Weite und Unwirtlichkeit des Landes, durch die widrigen Witterungsverhältnisse und durch die Niedergeschlagenheit der Häftlinge enge Grenzen gesetzt waren.

In Teil IV („Seele und Stacheldraht“) wagt Solschenizyn einen Blick in das Seelenleben und das Empfinden der Häftlinge. Er schreibt, wie zeitlich festgelegte Gefängnishaft und ungewiß lange andauernde Lagerhaft die Menschen verändert. Im Straflager gab es seiner Meinung nach wenig Möglichkeiten, auf einander Rücksicht zu nehmen, einander zu helfen oder etwas Positives zu lernen. Denn das Leben im Straflager war so eingerichtet, daß „auf einen Überlebenden ein oder zwei Tote kommen“. Die Essensrationen wurden z. B. nicht gleichmäßig verteilt, sondern derart, daß mindestens zwei Häftlinge darum kämpfen mußten. Im letzten Kapitel von Teil IV beschreibt Solschenizyn die Auswirkungen des Gefängnissystems auf die in Freiheit lebende Bevölkerung der Sowjetunion. Er schildert, wie viele Zeitgenossen Stalins in einem Klima der Angst und des Mißtrauens lebten und nur durch List und Tücke überleben konnten, und wie manche von ihnen sogar bis zum Verrat getrieben wurden.

In Teil V „Die Katorga kommt wieder“ und Teil VI „In der Verbannung“ beschreibt Solschenizyn die Psychologie der Gulag-Bewohner und vergleicht deren Schicksal innerhalb der Verbannung mit dem der Inhaftierung in den berüchtigten Gefängnissen „zu Hause“.

Teil VII „Nach Stalin“ gibt einen kritischen Ausblick auf die Zeit der 1960er Jahre nach Stalin und der vielfach illusionär verwendeten Redeweise von einer sogenannten Entstalinisierung.

Wirkung

Kurz nach der Veröffentlichung des „Archipel Gulag“ wurde Alexander Solschenizyn am 14. Februar 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen und lebte fortan in Zürich und später siebzehn Jahre lang im VS-Staat Vermont.

Im Westen wurde „Der Archipel Gulag“ als wichtiges politisch-literarisches Zeitereignis betrachtet und der Titel namensgebend für die Straflagerregion der Sowjetunion. In Amerika und England verstärkte dieser umfassende Bericht die Ablehnung des kommunistischen Systems sowjetischer Prägung und des Kommunismus überhaupt.

In den romanischen Ländern, insbesondere in Frankreich, wo bedeutende Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler kommunistische Parteien als Mitglieder oder Sympathisanten unterstützt hatten, wandten sich diese vielfach von diesen Parteien und in Frankreich teilweise von den Ideen des Sozialismus ganz ab (→ Eurokommunismus). Lange vor dem Ende der Sowjetunion, wurden durch diese Bewegung die ehemals starken kommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien fortlaufend geschwächt. Die verbliebenen Kommunisten führten schwere ideologische Kämpfe darum, ob das bis dahin nahezu kritiklos unterstützte Modell Sowjetunion, die „Diktatur des Proletariats“ unter Führung der Kommunistischen Partei als „Avantgarde der Arbeiterklasse“, weiterhin bedingungslos unterstützt werden könne, oder ob der Kommunismus, insbesondere die sogenannte „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“, unter Erhaltung der Menschenrechte – und damit in Distanz zum Sowjetmodell – angestrebt werden sollte.

Diese letztere – Eurokommunismus genannte – Bewegung setzte sich in Italien unter dem Parteiführer Enrico Berlinguer durch, die stalinistisch-orthodoxe Richtung konnte in Frankreich und Spanien Fuß fassen, wo die Masse der kommunistischen Wähler jedoch lange vor den unübersehbaren schweren wirtschaftlichen Krisen der kommunistischen Staaten Osteuropas bereits zu den sozialistischen Parteien abwanderte.

Das Buch wurde auch von einigen konspirativen oppositionellen Verlagen der Bewegung Solidarność in Polen in den 1980er Jahren veröffentlicht.