Linguistische Wende
Als Linguistische Wende (auch sprachbezogene Wende oder Wende zur Sprache genannt) wird eine von den Künsten ausgehende und später die europäische Philosophie stark bestimmende Entwicklung bezeichnet, die – mit einer weithin empfundenen Sprachkrise – etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Im Jahre 1902 erschien die Prosaarbeit „Ein Brief“ (heute zumeist „Chandos-Brief“ genannt) von Hugo von Hofmannsthal. Darin formuliert der Autor eine abgrundtiefe Sprachskepsis, einen Ekel vor abstrakten Begriffen und einen grundlegenden Zweifel, ob es überhaupt irgendeine Brücke zwischen Sachverhalt und Wort geben könne.
Diese Sprachskepsis, nur wenige Jahre vor dem sogenannten „expressionistischen Jahrzehnt“, wird oftmals der europäischen Decadence-Literatur zugeordnet. Tatsächlich gibt es Parallelen, eine als hohl und unglaubwürdig erscheinende Zivilisation, deren hohe Konventionalität besondere Energien absorbiert, nicht länger verteidigen und aufrechterhalten zu wollen. Allerdings war Hofmannsthal ein zutiefst katholisch-konservativer Autor. Wie auch im Falle der Werke von Joris-Karl Huysmans, schon im ausgehenden 19. Jahrhundert, erschien der fundamentale Zweifel mitten in einem bürgerlich-konservativen Umfeld und mitten in einer ausgeformten bürgerlichen Lebenswelt.
Alle gegenwärtig sehr populären Theorien über marxistische oder marxistisch-freimaurerische Ursprünge der europäischen Zivilisationsskepsis im frühen 20. Jahrhundert werden dadurch widerlegt, daß gerade das Bürgertum selbst (wie die Roman- und Erzählungsfiguren Thomas Manns ebenfalls deutlich erweisen) bürgerliche Rollenmuster als unecht empfindet, dringlich Ersatz sucht, aber keinen Ersatz findet und dadurch bedingt immer orientierungsloser agiert. Weder Okkultismus noch Lebensreform, weder politisches Revolutionsgehabe noch künstlerische Avantgarde können das intensive Mißbehagen jemals abdämpfen. Die hysterische Kriegsbegeisterung im August 1914 war Ausdruck eines glühend-tief empfundenen Ekels vor der eigenen Zivilisation.
In der europäischen Philosophie gilt das Frühwerk von Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“ (Logisch-philosophische Abhandlung) von 1921 als das wichtigste Dokument der linguistischen Wende, das heißt, einer fundamentalen Hinwendung des abendländischen Denkens zu der Brücke zwischen Sprache und Objekt und zwischen Sprache und Handlung. Diese Beschäftigung mit Übersetzungsfragen (im weitesten Sinn des Wortes) hat die später erscheinende Philosophie des Existenzialismus (in der Version Martin Heideggers: „Existenzialontologie“) faktisch nie wieder einholen können. Alle existenzialistischen Ankündigungen, zur Tat, zum Leben, zur Situation, zur Kraft oder zum „eigentlichen Sein“ hinzuführen, blieben leere Ankündigungen. Europa versank in Schutt und Asche, die Skepsis blieb erhalten.
In unserer Gegenwartszivilisation – die Technik, soziale Sicherheit und laxe Unverbindlichkeit zu höchsten Werten ernannt hat – ist von spiritueller Existenz ebenso weit entfernt, wie unsere Urgroßeltern um 1900 es waren. Nur daß alle die funktionierenden Symbolordnungen, die es damals noch gab, inzwischen weggebrochen sind – Überfremdung, Vermassung, Verhäßlichung und toxische Durchseuchung haben so krasse Formen angenommen, daß nur sehr bequeme Menschen sich in dieser nun wirklich entarteten Lebenssphäre gerne aufhalten.