Quelle / Deutschland 1938. Ein Reisebericht
- Die Reiseaufzeichnungen des Deutsch-Amerikaners Henry Louis Mencken (1880–1956)
Ende 1989 erschien bei Alfred A. Knopf in New York „The Diary of H. L. Mencken“, herausgegeben von Charles A. Fecher, der nur ein Drittel des Manuskripts für publizierenswert befand. Er äußerte, für ihn bestehe nach der Lektüre des gesamten Materials kein Zweifel mehr, daß Mencken ein Antisemit gewesen sei. Dies rief jüdische „Political correctness“-Vertreter zur Empörung auf, die die gängige Diffamierungskampagne lostraten. Menckens Zeitung, die „Baltimore Sun“, gab sich betroffen und ging auf Distanz zu ihrem ehemaligen Starjournalisten; Prominente äußerten ihr Befremden, der National Press Club in Washington entfernte das „H. L. Mencken“ aus dem Namen seiner Bibliothek und der Träger des Mencken-Preises gab die Auszeichnung pikiert zurück.
– Mencken, Ausgewählte Werke Bd. II. Autobiographisches 1930-1948Es war der Schock des Ersten Weltkriegs, der mich verwandelte. Schon im Vorfeld ahnte ich etwas von dem Kampf auf Leben und Tod, der zwischen der deutschen und der angelsächsischen Weltanschauung bevorstand. Sehr schnell wurde mir damals klar, auf welcher Seite ich stehen würde. Genau wie die führenden Leute in Deutschland hatte ich erhebliche Zweifel am Nutzen der Demokratie. Auch ich empfand eine instinktive Abneigung gegen das Puritanische mit seiner widerwärtigen Heuchelei, seiner törichten Theologie, seinen moralischen Obsessionen, seinem penetranten Philistertum. Zu meiner eigenen Überraschung wurde mir urplötzlich klar, daß alles, was ich bisher gepredigt hatte, einen anti-angelsächsischen Grundton hatte. Wenn es für mich irgendwo eine spirituelle Heimat gibt, das wußte ich jetzt, dann muß sie im Land meiner Vorväter liegen.
Ich reiste im Juni 1938 nach Deutschland, hauptsächlich, weil ich erschöpft war und Erholung brauchte, aber auch, weil ich es noch einmal sehen wollte, bevor der nächste Krieg begann – besonders jene Teile, die ich auf meinen früheren Reisen nur ganz kurz oder überhaupt nicht gesehen hatte. Patterson war bereits nach Europa aufgebrochen, als ich in See stach, aber da er sich in England aufhielt und zusammen mit Jim Bone eine Reise nach Frankreich plante und da ich in Deutschland blieb, kam ein Treffen zwischen uns nicht zustande. Bevor er abreiste, gab er mir ein Beglaubigungsschreiben als „Sun"-Korrespondent und bat mich, einige Artikel für die „Sun" zu schicken, aber obwohl ich das Schreiben mitnahm, das nützlich sein konnte, falls ich meine Reise über Deutschland hinaus ausdehnte, weigerte ich mich, irgendwelche Artikel zu liefern, denn es war bereits offensichtlich, daß die „Sun" fest auf englischer Seite stand, und alles, was ich schreiben konnte, würde mit einiger Sicherheit ihren Grundsätzen zuwiderlaufen. Auf der „Columbus“ begegnete ich der Ehefrau von Walter Paepke, einer Enkelin meines alten Freundes Henry G. Hilken, und nach unserer Ankunft in Bremen verbrachte ich ein paar annehme Tage bei ihr und ihren deutschen Verwandten; unter ihnen war ein sympathischer Bonner Professor, dessen Namen ich vergessen habe.
Inhaltsverzeichnis
Berlin
Dann fuhr ich nach Berlin und schlug mein Hauptquartier im Hotel Bristol auf. Von den amerikanischen Zeitungskorrespondenten hielt ich mich fern (sie waren, wie ich wußte, überwiegend Pfuscher, was sie im Ersten Weltkrieg bewiesen hatten und im Zweiten wiederum beweisen sollten) und suchte nur ein paar deutsche Freunde auf: zum Beispiel Otto J. Merkel, heute Flugzeughersteller, Dr. Georg Kartzke, Professor an der Universität Berlin, und Friedrich Schönemann, ebenfalls dort Professor und früher einer der Berliner „Sun"-Korrespondenten. Ich konnte Schönemann nicht leiden, aber er hatte viele nützliche Informationen zu bieten. Von Merkel erfuhr ich noch weit mehr. Ich kannte ihn seit dem letzten Krieg, und da er mir vertraute, erlegte er sich im Gespräch keine Zurückhaltung auf. Er hatte Zugang zu den höchsten Armeekreisen und teilte mir mit, daß der deutsche Generalstab einen weiteren Weltkrieg für unvermeidlich halte. Das deutsche Heer sei noch nicht ganz bereit, aber es mache rasche Fortschritte, und wenn der Krieg bis 1940 hinausgezögert werden könne, werde es sich dem Kampf zuversichtlich stellen. Merkel sagte, nach Meinung der besten deutschen Experten sei die Maginotlinie im Grunde ein Trugbild, und man werde die Franzosen fast so rasch überwältigen wie 1870. Das überraschte mich natürlich, aber ich hatte Vertrauen in Merkels Kenntnisse und in sein Urteilsvermögen, weshalb ich seine Ansicht akzeptierte. Wie er ausführte, erwarteten alle, daß die Russen früher oder später auf anglo-französischer Seite in den Krieg eintreten würden. Und sie könnten allein wegen der ungeheuren Größe ihrer Luftflotte im ersten Stadium erheblichen Schaden anrichten. „Aber wahrscheinlich werden sie nicht durchhalten", fuhr er fort. „Es mag einige Zeit dauern, sie zu erledigen, aber langfristig werden sie nicht nur geschlagen, sondern vernichtet werden."
Ostpreußen und polnischer Korridor
Von Berlin aus machte ich – mit dem Zug oder mit dem Auto – Ausflüge nach Ostpreußen, Sachsen und nach Oldenburg. Außerdem fuhr ich nach Potsdam, um die nun verwitwete Mrs. Henry Wood zu besuchen. Sie hatte viele Geschichten über die Brutalität der Polen gegen einige ihrer Freunde zu erzählen. Diese Freunde waren Junker mit Gütern im früheren Posen, das mittlerweile zur polnischen Provinz Poznan geworden war. Man hatte ihnen gestattet, ihre Anwesen zu behalten, aber sie wurden durch übermäßige Besteuerung und strikte Paßvorschriften grausam bedrängt. Nur ein paar Tage zuvor hatte eine von Mrs. Woods Vertrauten, eine Dame aus einer aristokratischen Familie, im polnischen Konsulat in Berlin drei Stunden lang Schlange stehen müssen, während die Beamten überlegten, ob sie ihr ein Visum zum Besuch von Verwandten in Posen erteilen sollten. Sie war krank, und die Prozedur machte ihr sehr zu schaffen. Am Ende teilten die Polen ihr brüsk mit, sie könne das Visum haben, aber nur für drei Tage. Da sie geplant hatte, vier oder fünf Wochen zu bleiben, um wieder gesund zu werden, mußte sie den Besuch aufgeben. Ich selbst ging zum polnischen Konsulat, um mir ein Visum für die Durchquerung des polnischen Korridors nach Ostpreußen zu besorgen, aber es war von einer großen Menge anderer Antragsteller, hauptsächlich Juden, umringt. Man erreichte den Büroeingang durch einen Hof, und dieser war durch ein hohes Eisentor von der Straße abgetrennt. Das Tor war verschlossen, und der wachhabende Pole ließ mich nicht durch, weshalb ich nicht ins Konsulat gelangte. Am folgenden Tag erfuhr ich, daß Passagiere, die ohne Aufenthalt mit dem Zug durch den Korridor fuhren, kein Visum benötigten. Also kaufte ich mir eine Fahrkarte für einen solchen Zug, der am folgenden Sonntagmorgen von Berlin nach Königsberg fuhr.
Ich hatte einen Platz reserviert, aber ich kam nicht einmal bis auf zwei Waggons an ihn heran, denn der Zug war überfüllt. Schlimmer noch, ich fand überhaupt keinen Sitzplatz - nur noch im Speisewagen. Ich dehnte das Mittagessen so lange wie möglich aus und stellte mich dann auf eine der Plattformen, wo ich auf mein Gepäck aufpaßte. Direkt neben der Tür war eine Toilette, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Bemühungen von Frauen zu beobachten, die sich mit keuchenden und heulenden Kindern durch die Menge drängten. Einmal ging eine Frau in die Kabine, verschloß die Tür und setzte sich anscheinend hin, um sich auszuruhen. Nach einer halben Stunde pochten andere ungeduldige Passagiere an die Tür, und beim nächsten Halt rief man den Schaffner vom Bahnsteig herbei, damit er sie herausholte. Er rüttelte am Türgriff und brüllte Befehle und Beschimpfungen, doch die Dame brauchte weitere zehn Minuten. In jenen Tagen summte Deutschland vor emsiger Geschäftigkeit, und alle Züge waren überfüllt. In den Großstädten waren nicht viele Soldaten zu sehen, da sich die meisten Kasernen in kleineren Orten befanden, aber auf den Landstraßen konnte man zahlreiche Uniformierte beobachten, und der Himmel schien voller Flugzeuge zu sein. Einen ganzen Monat hindurch schaute ich in Deutschland tagsüber buchstäblich kein einziges Mal in die Höhe, ohne wenigstens eines zu sehen, und manchmal waren es Dutzende. Mrs. Woods jüngster Sohn Ernst Friedrich erzählte mir in Potsdam, daß sich sehr viele junge Männer seiner Herkunft und Generation als Piloten ausbilden ließen. Die Todesrate unter diesen Anfängern sei hoch, aber es gebe immer genügend Freiwillige.
Jeder Deutsche, dem ich begegnete, hielt einen weiteren Krieg für unvermeidlich. Alle glaubten, daß das polnische Krebsgeschwür früher oder später herausgeschnitten werden müsse und daß die Operation Frankreich und England und wahrscheinlich auch Rußland zum Eingreifen veranlassen werde. Die Polen benahmen sich auf eine anmaßende und unerträgliche Weise. Da sie überzeugt waren, daß die Unterstützung durch England und Frankreich sie unverwundbar mache und daß ihre Armee im Kriegsfall nach ein paar Wochen in Berlin stehen würde, konzentrierten sie sich darauf, ihre deutschen Bürger auszuplündern und zu unterdrücken, und die Zeitungen berichteten täglich von neuen Ausschreitungen. Die Tschechen verhielten sich fast, doch nicht ganz so tyrannisch. Die Deutschen machten für die Taten der Tschechen deren Politiker verantwortlich, besonders die Juden unter ihnen, und ich stieß auf wenig offenkundige Feindschaft gegenüber dem tschechischen Volk. Aber die Polen wurden erbittert und uneingeschränkt gehaßt, und wenn die deutsche Armee jemals auf ihr Territorium vordringen sollte, müßten sie mit einer sehr groben Behandlung rechnen. Gleichzeitig wurde ihre eigene Armee von den Engländern als unbesiegbar hochgejubelt, und die amerikanischen Zeitungen berichteten das gleiche. Kriegsmaterial in großer Menge strömte aus England über den Ostseehafen Gdynia (Gdingen) nach Polen. Was die Tschechen betraf, so waren sie bekanntlich bis an die Zähne bewaffnet, denn sie besaßen die großen Skoda-Rüstungswerke und wurden umfassend von England und Frankreich subventioniert. Bevor ich New York verließ, hatte ich einen Propagandafilm der tschechischen Armee gesehen: sie schien über eine fast unbegrenzte Zahl von Kanonen und Flugzeugen zu verfügen. Deshalb überraschte es mich, als ich von Merkel hörte, daß die Befehlshaber der neuen deutschen Armee weder die tschechischen noch die polnischen Streitkräfte allzusehr fürchteten. Vielmehr rechneten sie damit, das Material beider zum größten Teil erbeuten und es gegen Frankreich einsetzen zu können.
Ich stieg in Marienburg aus dem Zug und machte den Ort für mehrere Tage zu meinem Hauptquartier. Er erwies sich als ein kleines und schläfriges Provinzstädtchen, dessen Handel durch die Schaffung des Polnischen Korridors mehr oder weniger ruiniert worden war. Eines Tages fuhr ich mit dem Bummelzug nach Marienwerder, knapp vierzig Kilometer im Süden, und versuchte, in der alten Kirche der Ordensritter die Gedenktafel für Eilhard Mencken zu finden. Er war dort 1657 als Erz-Presbyter gestorben und hatte durch sein Testament das noch immer existierende Mencken-Familienstipendium begründet. An der Wand waren zahlreiche Tafeln angebracht, aber ich konnte keine finden, die Eilhard erwähnte. Während ich sie in dem düsteren Licht musterte, sprach mich ein Fremder in ausgezeichnetem Englisch an, stellte sich als Küster vor und erbot sich, mir zu helfen. Nachdem ich ihm erklärt hatte, wonach ich suchte, zeigte er es mir sogleich: es war eine reichverzierte Tafel, die man rund fünf Meter über dem Fußboden an einer der Wände befestigt hatte. Sie schien gut erhalten zu sein, obwohl sie seit nahezu drei Jahrhunderten dort hing. Ich sagte dem Fremden, daß ich gern eine Fotografie davon hätte; daraufhin gab er mir seine Karte und erwiderte, er werde ein Gerüst errichten und ein Foto machen lassen. Er versprach mir, es mit der Rechnung des Fotografen an meine Adresse in Baltimore zu schicken. Doch obwohl ich ihm nach meiner Rückkehr schrieb, meldete er sich nicht, und das Foto erreichte mich nie.
Tannenberg-Denkmal
An einem anderen Tag mietete ich ein Automobil in Marienburg und machte einen Abstecher zum Schlachtfeld von Tannenberg, hundert Kilometer südlich, an der polnischen Grenze. Es war ein herrlicher Sommertag und eine wunderbare Fahrt. Mein Chauffeur war ein alter Soldat, aber er hatte nicht an der Schlacht teilgenommen, da er seine gesamte Dienstzeit an der Westfront verbracht hatte. Bei Kriegsende befand er sich mitten in Frankreich – und machte sich zu Fuß zurück nach Ostpreußen auf! Er kam bis nach Hessen, wo er einen Zug fand, der ihn den Rest der Strecke beförderte. Aber obwohl er nicht bei Tannenberg gekämpft hatte, kannte er das Schlachtfeld ganz genau, und es war sehr angenehm – und äußerst lehrreich –, es unter seiner Leitung zu besichtigen. Nach vierundzwanzig Jahren sah die prächtige Hügellandschaft wieder freundlich aus, und die Felder waren voller Männer und Frauen, welche die Heuernte einbrachten; aber unterhalb von Osterode stießen wir auf alte Artilleriestellungen, von hohem Gras überwachsen, und auf andere Spuren der Schlacht. Ich verbrachte eine Stunde unweit von Hindenburgs Feldhauptquartier an dem großen Kriegsdenkmal, das zunächst den in der Schlacht gefallenen Soldaten gewidmet war, doch nun unter Hitler in eine Art Schrein für Hindenburg, der dort beigesetzt ist, verwandelt wurde. Die Stätte ist ungewöhnlich herb, streng – und eindrucksvoll. Das Denkmal hat die Form eines hohen Kolonnadenkreises, aus den örtlichen Ziegeln erbaut und mit der nüchternen Schlichtheit einer ostpreußischen Kirche. Hindenburgs Grabstätte ist eine kleine, etwas nach unten versetzte Kammer gegenüber dem Eingang. Sie bietet kaum genug Platz für seinen Sarg. An beiden Seiten ist ein kleines Buntglasfenster in die Außenwand eingelassen. Diese Fenster zeigen nicht die üblichen Engel und Ritter in ihrer Rüstung, sondern nur Verse aus alten deutschen Soldatenliedern. Rechts beginnen sie mit „Ich hatt' einen Kameraden", links mit „Morgenrot". Eine Reihe frommer Pilger ging durch die Gedenkstätte; sie strömen aus ganz Deutschland an diesen Ort. Vor Hindenburgs Grab - der Sarkophag ist durch das einfache Eisentor zu sehen – stand ein Wachtposten. Ich beobachtete ihn vielleicht zehn Minuten lang. Er regte sich nicht, und in dem etwas trüben Licht war es fast unmöglich, das Blinzeln seiner Augen zu erkennen. Er trug Feldgrau und hatte ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett an der Seite. Ein solcher Wachtposten steht Tag und Nacht dort.
Ich lud meinen Chauffeur zum Mittagessen ein, und wir nahmen eine schmackhafte Mahlzeit in einem der Restaurants zu uns, welche die deutsche Regierung auf dem Schlachtfeld unterhielt. Es war fast nichts von all dem Firlefanz zu sehen, auf den man bei Gettysburg stößt. Zwar gab es Würstchen, ebenso wie Postkarten, aber sie wurden in Kiosken und anderen Läden verkauft, die hundert bis zweihundert Meter von dem Denkmal entfernt waren und mit dessen Architektur harmonierten. So weit das Auge reichte – und es konnte sehr weit sehen, denn das Denkmal steht auf einer Kuppe in der offenen Landschaft –, war keine Spur von Abfall zu entdecken. Ich trank ein Glas Bier zum Mittagessen, aber mein Chauffeur bestellte Apfelsaft, der in ganz Deutschland sehr beliebt zu sein schien. Es war das bevorzugte Getränk von Abstinenzlern – Hitlers eigener Verzicht auf scharfe Getränke hatte die totale Abstinenz modisch werden lassen, besonders unter jungen Leuten. Mein Chauffeur war immer noch Reservist und vertraute mir an, daß er großen Spaß an den jährlichen Wehrübungen habe. Sie verschafften ihm Gelegenheit, sich mit alten Kameraden zu treffen und sich zwei Wochen lang in rein männlicher Gesellschaft zu entspannen. Der einzige Nachteil sei, daß die verheirateten Teilnehmer nur eine Mark fünfzig pro Tag als Entschädigung für ihre Frauen erhielten. Wenn dieser Zuschuß verdoppelt würde, wäre jedermann zufrieden. Auf der Rückfahrt nach Marienburg bestand er darauf, einen Umweg von fünfzehn Kilometern zu machen, um mir die Gegend zu zeigen, wo die Manöver im Herbst 1937 abgehalten wurden, besonders den Hang, an dem sein eigenes Regiment gelegen hatte. Aber zuerst statteten wir dem Denkmal einen weiteren Besuch ab und inspizierten die Tafeln, welche die Kolonnade umsäumten; einige dienten der Erinnerung an Heeresgruppen, andere an Divisionen, Regimenter oder an einzelne Befehlshaber. Diese Tafeln waren aufeinander sowie auf die Architektur des Denkmals abgestimmt, und manche boten einen wunderschönen Anblick. Als wir nach Marienburg zurückfuhren, begegneten wir vielen Lastwagen, die Zuckerrüben zu den über Ostpreußen verstreuten Zuckerfabriken brachten. Außerdem sahen wir etliche Fahrzeuge mit Soldaten, denn in vielen Städten entlang der polnischen Grenze gab es Kasernen. Fünfzehn Kilometer von Marienburg entfernt ließen wir das Gebiet mit den offenen Feldern hinter uns und erreichten eine waldreiche Gegend, die fast nur aus Rittergütern bestand. „Gibt es Rehe in diesen Wäldern?" fragte ich den Chauffeur. „Da stehen zwei", erwiderte er und zeigte auf zwei Tiere, die uns tatsächlich aus weniger als hundert Meter Entfernung beäugten.
Leipzig
Ich kehrte mit dem Nachtzug nach Berlin zurück und reiste bequem in einem luxuriösen deutschen Schlafwagen – einer Einrichtung, die unsere eigenen Eisenbahnen 1937 gerade erst nachzuahmen begannen. Ein paar Tage später fuhr ich nach Leipzig und mietete dort einen Wagen, um den Geburtsort meines Großvaters Mencken zu besuchen ein Dörfchen namens Laas, etwa auf halber Strecke zwischen Leipzig und Dresden. Dort hatte mein Urgroßvater 1828 eine Zuchtfarm betrieben. Als mein Auto vor der Dorfschenke hielt, alarmierte das die ganze Ortschaft, und nach ein paar Minuten hatte sich eine kleine Menge versammelt. Sie bestand ausschließlich aus den sehr alten oder sehr jungen Bewohnern, da alle arbeitsfähigen Personen auf den Feldern waren. Wie ich bald erfuhr, waren Landarbeiter äußerst knapp geworden, denn alle Jungen traten mit achtzehn Jahren in die Armee ein, und alle Mädchen strömten, verlockt von den hohen Löhnen, nach Dresden. Mithin mußten die Bauern, die noch übrigblieben, besonders schwer arbeiten, und in dieser Jahreszeit rackerten sie sich von frühmorgens bis spätabends ab. Ich fragte die versammelten Bewohner von Laas, ob man sich in dieser Gegend an die Familie Mencken erinnere, doch niemand kannte auch nur den Namen. Daraufhin schickte man ein kleines Mädchen nach der ältesten Frau des Dorfes, denn sie sei ein wandelndes Geschichtsarchiv. Aber es erwies sich als unmöglich, ihrem nachlassenden Gedächtnis irgendeine nützliche Auskunft zu entlocken. Vier- oder fünfmal erinnerte sie sich an Menschen, die nach Amerika ausgewandert waren, aber wenn ich nachhakte, stellte sich stets heraus, daß sie um 1874 aufgebrochen waren und daß sie Schmidt, Scharnagel, Zimmermann oder Kraus hießen. Ich fragte, ob es irgendwelche Ansichtskarten gebe, und das kleine Mädchen, das die Greisin geholt hatte, sagte, sie kenne eine Frau, die ein paar besitze. Ich gab ihr eine Mark und bat sie, mir ein Dutzend zu bringen. Sie kam tatsächlich mit einem Dutzend zurück, aber alle zeigten dasselbe Bild. Daraus schloß ich, daß Laas zu klein war, um die Aufmerksamkeit der Ansichtskarten- Produzenten zu erregen, die damals alle größeren deutschen Orte – und ganz Europa – mit ihren Erzeugnissen überschwemmten. Der sächsische Dialekt dieser Bauern war für mich so gut wie unverständlich, aber mein Chauffeur, ein Leipziger, verstand und sprach ihn, so daß er als Dolmetscher einsprang, wenn ich in Verlegenheit geriet. Auf der Rückfahrt erzählte er mir, daß die Löhne in Leipzig hoch seien, doch daß die Lebenshaltungskosten ebenfalls anstiegen. Deshalb seien die Menschen so arm, wie es in Sachsen immer der Fall gewesen sei. Ihm selbst gehörte die Hälfte des Autos, das er chauffierte, weshalb er ein vermögender Mann war. Als wir vor dem Hotel Atlantic anhielten, fragte er mich zögernd, ob ich wisse, daß es eine jüdische Zentrale sei. Ich verneinte, setzte jedoch hinzu, daß es ein gutes Hotel zu sein scheine. Er stimmte mir zu, erklärte aber, daß deutsche Patrioten es zu boykottieren begännen.
In Leipzig kannte ich eine Reihe von Personen, darunter mehrere Buchhändler und Dr. Otto Glauning, den ehemaligen Direktor der Universitätsbibliothek, aber ich informierte sie nicht über meinen Besuch, denn ich legte Wert darauf, mich nach Möglichkeit allein durchzuschlagen. Als ich nach Berlin zurückgekehrt war und im Restaurant Wien am Kurfürstendamm zum Essen ging, erfuhr ich, daß es am Abend zuvor zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen war, aber außer ein oder zwei zertrümmerten Fenstern konnte ich keine Spuren von Gewalt entdecken. Der Pöbel hatte sich damit zufriedengegeben, die Namen der jüdischen Geschäftsinhaber mit Kreide an deren Panzerglasfenster zu schreiben. Laut Gesetz mußte jeder Jude seinen wirklichen Namen nennen, aber diese Vorschrift war umgangen worden. Ich fand es aufschlußreich, daß der wirkliche Eigentümer von Mademoiselle Felicies Hutgeschäft Jakob Goldfarb war und daß die Parfümerie Bon Marche im Obergeschoß den Gebrüdern Margolis gehörte.
Ich dinierte fast jeden Abend im Restaurant Wien, denn die Küche dort war vortrefflich, es gab gutes Bier, und die Musik einer kleinen Gruppe ausgezeichneter Künstler war hervorragend. Jazz durfte nicht gespielt werden. Nach dem Essen nahm ich gewöhnlich ein Taxi zum Schloß am anderen Ende des Berliner Zentrums, wo das Berliner Philharmonische Orchester auf dem Hof – unter freiem Himmel – Konzerte gab. Natürlich waren die Pulte der Musiker beleuchtet, aber der übrige Hof blieb dunkel, mit Ausnahme einer Reihe Fackeln an den vier Seiten. Dadurch entstand ein sehr malerischer und romantischer Effekt. Ein guter Platz kostete eine Mark. An mehreren Abenden versuche ich, mir Opernkarten zu beschaffen, aber die Vorstellungen waren stets ausverkauft.
Wie gesagt, traf ich mich nur mit wenigen Personen außer Merkel. Seine Position in der Flugzeugindustrie schaffte ihm Zugang zu den höchsten Armeekreisen, deshalb verfügte er über interessante und, was wichtiger ist, präzise Informationen. Eines Tages lud er mich zum Mittagessen in den Aeroclub ein und ließ sich eine Stunde lang freimütig befragen. Der einzige andere, mit dem ich mich mehr als einmal traf, war Kartzke. Im Unterschied zu Schönemann, der in die NSDAP eingetreten war, um seine Universitätskarriere zu fördern, blieb Kartzke ein Liberaler, so daß seine Meinung die der übriggebliebenen Opposition widerspiegelte. Hitlers Methoden und Manieren stießen ihn ab, aber wie viele andere Deutsche seiner Gesellschaftsklasse begann er bald einzusehen, daß das Hitlersche System für Deutschland von Nutzen war, weshalb er es nun bis zu einem gewissen Grade begrüßte. Der Defätismus aus der Zeit der Weimarer Verfassung schwand jetzt rasch dahin. Hitler, was immer seine Freveltaten sein mochten, hatte einen Weg gefunden, dem Land Hoffnung und Selbstachtung und, vor allem, Selbstbewußtsein zurückzugeben. Als ich Deutschland im Jahre 1922 besuchte, konnte jeder intelligente Deutsche höchstens der Hoffnung Ausdruck geben, daß England und Frankreich den Versailler Vertrag irgendwann als unerträglich grausam einschätzen und sich freiwillig geneigt zeigen würden, ihn abzumildern. Nichts dergleichen geschah, und so wurde Hoffnung allmählich von Verzweiflung verdrängt. Aber nun war die Hoffnung neu erstanden und wandelte sich rasch in Zuversicht. Hitler hatte bereits Österreich dem Reich einverleibt, und es war offenkundig, daß das Sudetenland jenseits der künstlichen tschechischen Grenze als nächstes an der Reihe sein würde. Diese Wohltaten des Versailler Vertrags wurden nicht mehr als sehr bald angestrebt, sondern sie wurden gefordert - und bald würde Hitler stark genug sein, um seine Forderungen durchzusetzen. Im September sollte er sogar stark genug sein, Chamberlain nach München zu holen, und am Jahresende würde er mehr als die Hälfte des Weges zum Aufbau einer Armee, deren Stärke alle Vorstellungen der Kaiserzeit überstieg, zurückgelegt haben. Dieser Klimawechsel wirkte sich auf alle Deutschen aus, auf Kartzke ebenso wie auf die übrigen.
Juden
Er sagte mir, die Mißhandlung von Juden habe ihn verstört, aber er sei zu dem Schluß gelangt, daß ihre eigene gigantische Dummheit dafür verantwortlich sei. Als Illustration erzählte er mir eine Geschichte. In den Tagen der Weimarer Republik hatte er die Vereinigten Staaten besucht und war, nach Bremen zurückgekehrt, in einem Eisenbahnabteil mit vier oder fünf anderen Reisenden nach Berlin gefahren. Unter ihnen befand sich die Tochter eines bekannten jüdischen Pianisten – Arthur Schnabels, wenn ich mich recht erinnere. Das Gespräch wandte sich dem Antisemitismus zu, und die Dame verstieg sich zu der Meinung, daß er in Deutschland endgültig verschwunden sei. „Wie könnte er je wieder zum Leben erweckt werden?" fragte sie. „Denken Sie an all die Juden in Schlüsselpositionen." Und dann zählte sie eine lange Liste von Namen auf, beginnend mit Mitgliedern des Koalitionskabinetts und endend mit dem Polizeipräsidenten von Berlin. Tatsächlich schienen diese Leute das Land fest im Griff zu haben. Kartzke sagte, die Liste habe ihn sehr erstaunt, denn er selbst habe kein aktives Interesse an der Politik und schenke den Amtsinhabern wenig Aufmerksamkeit. Nun geriet er jedoch ins Grübeln, und je länger er nachdachte, desto stärker wurde seine Überzeugung, daß sich die Juden ihr eigenes Grab grüben. Auf lange Sicht, glaubte er, würden die Deutschen eine solche Hegemonie einer Minderheit nicht dulden, schon gar nicht einer Minderheit, die sich im Ersten Weltkrieg gleichgültig verhalten habe und nun viel zu freundlich mit den Franzosen und Engländern umgehe. Er habe daraus gefolgert, daß die Juden eines nicht allzu fernen Tages auf melodramatische Weise zu Schaden kommen würden, und deshalb sei er nicht überrascht gewesen, als Hitler begonnen habe, einen Dschihad gegen sie zu predigen. An einem Tag heftiger Unruhen hätten sie einen Putschversuch unternommen, obwohl ihre Loyalität überaus fragwürdig sei. Früher oder später, so nahm er an, werde sich der deutsche Michel gegen sie erheben und sie niederwerfen. Nun, da es geschehen war, zeigte Kartzke sich nicht verblüfft, aber er beteuerte weiterhin, er sei gegen die Mißhandlung einzelner Juden, besonders jener, die sich nicht um Macht und öffentliche Ämter bemüht hätten.
Familiäre Wurzeln
Nach meiner Leipzig-Reise machte ich noch kurze Abstecher nach Halle und Wittenberg, wo die Menckens im 18. Jahrhundert Professoren gewesen waren. Auf der Fahrt nach Wittenberg machte ich ein paar Stunden in Braunschweig halt und aß dort zum Mittag das berühmte Hühnergericht und den noch berühmteren Spargel, der gerade in voller Reife war. Ich hätte gern die noch berühmtere Leberwurst hinzugefügt, aber in meiner Magenhöhle war kein Platz mehr. Der Zug fuhr an den Vorhügeln des Harzes vorbei, die Landschaft war unbeschreiblich schön. Nirgendwo auf dieser Welt habe ich freundlichere Felder oder bezauberndere Dörfer gesehen. Danach fuhr ich nach Karlsruhe, um einen Blick auf den Schwarzwald zu werfen, begab mich zurück nach Frankfurt am Main und stieg in einen Rheindampfer nach Koblenz. Das Wetter war überall herrlich gewesen, erst in Koblenz erlebte ich einen Regenguß. Eines Tages machte ich mit dem kleinen Zug, der nach Trier fährt, einen Abstecher ins Moseltal und war erstaunt, dem Bahnhof in Bernkastei gegenüber eine Brauerei vorzufinden. Unglücklicherweise konnte ich die prächtigen Weine der Region nicht trinken, denn der Pyloruskrampf, der mich im Mai hingestreckt hatte, war noch nicht abgeklungen, und ich nahm gewissenhaft die von Dr. Baker verschriebene Belladonna. Immerhin probierte ich eine oder zwei Flaschen Mosel, aber davon bekam ich sofort Sodbrennen. Das Bier bekam mir besser, und im Rheinland widmete ich mich dem vortrefflichen Dortmunder Hellen, einem milden Gebräu, das kaum nach Hopfen schmeckte. Von Koblenz aus fuhr ich weiter nach Köln, wo ich den Zug nach Nordwestdeutschland nahm. Die Zeit wurde knapp, denn ich sollte am 20. Juli in Bremen mit der „Europa" in See stechen.
Aber zuerst mietete ich in Oldenburg ein Auto, um mir das flache Marschland anzuschauen, aus dem das Geschlecht der Menckens hervorgegangen zu sein scheint. Nun sah ich zum ersten- und letztenmal Jever, Aurich und verschiedene andere Städte, in denen längst verstorbene Menckenii gewohnt hatten, und unternahm meine zweite Besichtigung Oldenburgs, eines öden Provinzstädtchens, das dem Touristen jedoch allerlei Überraschungen bietet. Die einzige deutsche Verwandte, der ich je begegnete, Fräulein Anna Mencke, war ein paar Jahre zuvor gestorben. Ich versuchte, ihr Grab auf dem alten Gertrudenfriedhof zu finden, wo andere Menckenii, darunter ihr Bruder, beigesetzt waren, aber vergeblich. Sie war eine sehr energische alte Frau gewesen, hatte zu den großen Damen der Stadt gehört und in allen offiziellen Wohltätigkeitsorganisationen mitgewirkt. Anna war die letzte ihres Familienzweigs, die dort wohnte. Es muß überlebende Menckens oder Menckes in anderen Teilen des Landkreises Oldenburg geben, aber ich bemühte mich nicht, sie zu finden. Dem Landkreis selbst, der niedrig und flach ist, geben die vielen Seen und Wasserläufe eine malerische Erscheinung. Die Bauern konzentrieren sich auf Pferde- und Rinderzucht und scheinen vermögend zu sein, denn sie wohnen in wirklich riesigen Häusern, von denen manche bis zum Giebel fünf oder sechs Stockwerke haben. Die Dächer scheinen auf den ersten Blick aus Stroh zu sein, aber die Strohschicht dient einfach nur als Schutz gegen die Winterkälte, denn darunter befinden sich rote Ziegel. Ich hatte nun sämtliche Orte in Deutschland besucht, in denen meine Vorfahren in den alten Zeiten lebten – die Städte Marienwerder, Potsdam, Leipzig, Halle, Wittenberg und Oldenburg –, und in fast allen Denkmäler gefunden, die an sie erinnerten. Danach begab ich mich mit dem Gefühl auf die Heimreise, daß ein Kapitel abgeschlossen war – daß ich Deutschland wahrscheinlich nie wieder besuchen würde. Ich war bereits achtundfünfzig und mein Gesundheitszustand entsprechend. Überdies stand ein großer europäischer Krieg bevor, und es würde lange dauern, bis man wieder friedliche Reisen unternehmen konnte.