Tschechische Literatur
Unter tschechischer Literatur versteht man das vorhandene Schriftgut des tschechischen Volkes. Das in Böhmen und Mähren ebenso beheimatete Deutschtum sowie die lateinische Kirchenkultur hatten einen entscheidenden Anteil an der Richtung, in welche sich die tschechische Literatur entwickelte. Im Gegensatz zur deutschen oder russischen Literatur gelang es den Tschechen jedoch nicht, einige ihrer Werke in den Kanon europäischer Literaturklassiker einzubringen. Franz Kafka, eine der literarisch einflußreichsten Gestalten der Literatur für das 20. Jahrhundert, stammte beispielsweise aus Böhmen, war jedoch ethnisch Jude und schrieb auf Deutsch, nicht auf Tschechisch.
Entwicklung
Seinen Ursprung hat die tschechische Literatur in der Tradition des Kirchenslawischen, das nach dem Untergang des Großmährischen Reiches in den Klöstern starke Verwendung fand. Von dieser Tradition erhielt sich jedoch wenig, die sogenannte Wenzelslegende, die ihrem Titel nach aus Böhmen stammte, hat sich etwa nur in der russischen und kroatischen Überlieferung erhalten, ging den Tschechen selbst jedoch verloren.
Die Verbreitung kirchenslawischen Schriftgutes besaß jedoch insgesamt für die Tschechen keine längerfristige Wirkung. Der Anschluß an die römische Kirche des Westens, verbunden mit der Übernahme deren geistlicher Kultur, sowie das starke deutsche Element besaßen für die Tschechen daher langfristig deutlich prägendere Einflüsse. Latein war als kirchliche Sprache von Bedeutung, Deutsch hingegen in weltlichen Sachen stark.
Vor allem durch den weiteren Zustrom deutscher Adeliger und Bürger nach Böhmen und Mähren während des Mittelalters breiteten sich im Tschechentum deutsche Sprache, Lebensart und Dichtung aus, anfangs bei der adeligen Oberschicht, später aber auch im Bürgertum. Wie stark das deutsche Element war, zeigt sich auch daran, daß König Wenzel II. sich selbst als Verfasser deutscher Minnedichtung hervortat.
Erste tschechischsprachige Werke sind erst ab dem 14. Jahrhundert zu erfassen, jedoch nur in Fragmenten erhalten geblieben. Sie sind meist schlichte religiöse Versdichtungen, die wohl Nachdichtungen der Legenda aurea darstellen. Aufgrund des Stils wird vermutet, daß die ersten Werke in tschechischer Sprache bereits im 13. Jahrhundert entstanden.
Die frühen tschechischen Schriftzeugnisse weisen insgesamt einen sehr westeuropäischen Charakter auf, etwa wurde das höfisch-ritterliche Vorbild von den Deutschen übernommen. Damit unterscheidet sich das Tschechentum von ihm nahestehenden Völkern, bei denen die kirchlich-religiöse Literatur länger vorherrschte, durch eine frühe Entwicklung weltlicher Literatur. Viele tschechische Texte dieser Zeit weisen einen starken Sinn für praktische Lebens- und Staatsweisheit auf, auch lassen sich Elemente moralischer und politischer Didaktik erkennen. Später, vor allem durch den Einfluß des Bürgertums auf die Literatur, kamen in diese auch Züge der Realistik sowie der Satire.
Auch der Hussitismus schlug sich in der tschechischen Literatur deutlich nieder. Trotz der späteren Rekatholisierung Böhmens wurde im Laufe der weiteren tschechischen Geschichte immer wieder auf die hussitische Tradition zurückgegegriffen, vor allem im 19. Jahrhundert, als sich der tschechische Nationalismus formierte und dem Hussitismus eine wichtige Identifikationsrolle für die Tschechen zukam. Im Zuge der tschechischen Nationalbewegung gab es auch Versuche, die tschechische Literatur dadurch aufzuwerten, indem man Fälschungen schuf, etwa die bekannte Königinhofer Handschrift Hankas, mit welcher der Beginn der tschechischen Literatur mehrere Jahrhunderte nach vorne verlegt werden sollte.
Das Deutschtum stellte bis ins 19. Jahrhundert den stärksten Einfluß auf die tschechische Literatur und allgemein auch Kultur dar, was vor allem auf die lange Herrschaft der Habsburger über Böhmen und Mähren geschuldet ist. Nach der Emanzipation der Tschechen von der Deutschen, die ihren Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg in der Schaffung des tschecho-sloawakischen Kunststaates fand, nahm auch der Einfluß des Deutschtums ab, endgültig endete dieser nach der Vertreibung der Deutschen aus den Sudetengebieten. Fortan waren es vor allem Einflüsse aus anderen slawischsprachigen Gebieten, vor allem Rußlands, jedoch gab es auch Anregungen aus dem romanischen und angelsächsischen Sprachraum.
Literatur
- Alois Schmaus: s.v. Die tschechische Literatur, in: Kindlers Literatur Lexikon (Bd. 1), Zürich 1981, S. 406–413