Hermeneutik
Als Hermeneutik (zu altgr. ἑρμηνευτική [τέχνη] hermēneutikḗ [téchnē][1]) wird die Praxis und die Theorie des Auslegens und Verstehens (zumeist eines Textes, aber gelegentlich auch eines Kunst- oder Musikwerkes) bezeichnet. Allgemein soll das Ziel der Hermeneutik darin bestehen, fremde Vorstellungen in den Horizont des eigenen Geistes zu übertragen. Der Name leitet sich von dem griechischen Gott Hermes ab, dessen Aufgabe es nicht nur war, Botschaften der Götter zu überbringen, sondern sie auch zu deuten.
In der deutschen Philosophie gilt Hans-Georg Gadamer (1900–2002) als der herausragende, maßstabsetzende Hermeneutiker. Seine Lehre einer „universalen Hermeneutik“ bietet einen Zugang zu fernen und fremden Denkwegen der europäischen Tradition, da Gadamer die Fähigkeit hatte, klar und allgemeinverständlich zu schreiben. Die Gefahr einer hermeneutischen Philosophie – die Falle, die sie gräbt –, liegt ebenso deutlich auf der Hand. Diese Gefahr liegt darin, daß Hermeneutiker dasjenige, was ohne Sinn und Wahrheitswillen formuliert wird, unbedingt wohlmeinend deuten wollen, obwohl stattdessen die böse Absicht (Lüge, Ideologie, Täuschung, Obskurantismus, Scharlatanerie) aufzudecken gewesen wäre.
In politischer Konsequenz – der kein bedeutender Lehrstuhlvertreter im Fach Philosophie entgehen kann (oder jemals entgangen wäre) – steht die Philosophie Gadamers konservativen Positionen nahe. Nach seiner Überzeugung ist Kritik am Selbstverständnis der Geisteswissenschaften unerläßlich, insofern, daß aller Methodik immer schon unüberholbar Verstehen vorausgehe. Jedes Vertrauen auf die Methode überspiele jedoch lediglich die unüberholbare Vorurteilsstruktur, an die der Mensch in seiner Geschichtlichkeit gebunden bleibe. Diese Idee wird auch als sogenannte „Pfadabhängigkeit“ des menschlichen Lebens (und aller menschlichen Institutionen) bezeichnet. Konträr ihr gegenüber stehen anarchistische Auffassungen, wie etwa diejenige Bakunins, wonach Denken die Entfernung von allem Bestehenden vorzubereiten habe, um unverbildet und unbelastet aufbauen, konstruieren und festlegen zu können.
Der Zustand der Baukunst, der bildenden Künste allgemein – und inzwischen auch der Bildungsinstitutionen und der sittlichen Orientierung – in der BRD, legt offen die total-egalitaristische und bestialistischen Zuständen den Weg bereitende Anschauungsweise dar, die hierzulande seit langem den Takt vorgibt.
Siehe auch
Literatur
- Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, zuerst: Tübingen 1960; unveränderter Nachdruck der 3. erweiterten Auflage, Tübingen 1975, ISBN 3-16-833912-1
- Orozco, Teresa: Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Argument-Verlag, Hamburg/Berlin 1995, ISBN 978-3-88619-240-3 [266 S., zugleich Diss., Freie Universität Berlin, 1995]