Troeltsch, Ernst
Ernst Peter Wilhelm Troeltsch ( 17. Februar 1865 in Haunstetten bei Augsburg; 1. Februar 1923 in Berlin) war ein deutscher Theologe, Kulturphilosoph und liberaler Politiker.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Troeltsch wurde 1865 in Haunstetten als ältester Sohn des Arztes Dr. med. Ernst Troeltsch und seiner Ehefrau Friederike Maria Antonie Eugenie, geb. Koeppel, einer aus Nürnberg stammenden Arzttochter, geboren. Ernst Troeltsch senior stammte aus einer alten, prominenten Augsburger Kaufmannsfamilie, die sich in der städtischen Öffentlichkeit großes symbolisches Kapital erworben hatte. Schon drei Monate nach der Geburt des ersten Sohnes zog das junge Ehepaar nach Augsburg, wo Ernst Troeltsch senior sich auch als Armenarzt und Chefarzt der „Freiwilligen Sanitäts-Haupt-Colonne“ Ansehen erwarb.
Den Militärdienst, Einjährig-Freiwilliger der Bayerischen Armee 1883/1884 in Augsburg, verband Troeltsch mit einem Philosophie-Studium am katholischen Lyzeum in Augsburg. Im Oktober 1884 begann er mit dem Studium der Evangelischen Theologie an der konservativ-lutherisch geprägten Erlanger Fakultät, wo er Mitglied der Verbindung „Uttenruthia“ war. Nach zwei Berliner Semestern, in denen Troeltsch auch Heinrich von Treitschke hörte, studierte er in Göttingen vor allem bei Albrecht Ritschl, nahm aber auch Paul de Lagardes religionsrefomerische Visionen einer neuen deutschen Nationalreligion zur Kenntnis. Hier war er Mitglied der Verbindung „Germania“.
Dem ersten theologischen Examen im September 1888 folgte am 1. Oktober 1888 ein einjähriges Vikariat an St. Markus in München. Mit der Lizentiaten-Dissertation über „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Philipp Melanchthon“ konnte sich Troeltsch im Februar 1891 in Göttingen habilitieren und wurde Privatdozent.
1892 erhielt er einen Ruf auf eine außerordentliche Professur für Systematische Theologie in Bonn. Im Alter von nur 29 Jahren wurde Troeltsch zum 1. April 1894 als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an die Universität Heidelberg berufen.
- Die enge, aber auch konfliktreiche Fachmenschenfreundschaft mit dem nahezu gleichaltrigen, aber gewiss genialeren Nationalökonomen Max Weber und seiner Frau Marianne, einer führenden Vertreterin der liberalen Frauenbewegung, erschloss Troeltsch neue geistige Welten: Durch Weber, mit dem er im Sommer 1904 in die USA reiste, sah sich Troeltsch zur Auseinandersetzung mit der sich formierenden Soziologie provoziert. Der Freund verhalf ihm zu schärferen Diagnosen der Spannungen zwischen den heterogenen Wertsphären von Ökonomie und Religion. Unter dem Eindruck von Webers Aufsätzen über „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ intensivierte Troeltsch seine kulturhistorische Analyse der Umformung des Altprotestantismus, d. h. des Protestantismus in den frühneuzeitlich voraufklärerischen konfessionell-homogenen Gemeinwesen, in die durch Aufklärung und Idealismus geprägten Neuprotestantismen der modernen bürgerlichen Gesellschaft.[1]
1915 hatte Troeltsch einen Ruf als Ordinarius für „Kultur-, Geschichts-, Gesellschafts- und Religionsphilosophie und christliche Religionsgeschichte“ an der Universität Berlin erhalten. Im Jahr 1917 war er maßgeblich an der Gründung des Volksbundes für Freiheit und Vaterland beteiligt, der ein Gegengewicht zur Deutschen Vaterlandspartei bilden sollte. Nach Niederlage und Novemberputsch wurde Troeltsch zwar kein Demokrat aus prinzipieller Gesinnung, trat aber nun dafür ein, die neuen politischen Realitäten zu akzeptieren. Troeltsch galt einige Zeit als Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten, engagierte sich in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei als Berliner Spitzenkandidat bei den Wahlen zur Preußischen Nationalversammlung, ging bis 1921 als Abgeordneter der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung dann als Unterstaatssekretär vor allem für Kultur- und Kirchenpolitik unter Konrad Haenisch (SPD) ins Preußische Kultusministerium und konnte hier die rechtliche Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirchen entscheidend mitgestalten.
Werk
Troeltsch war der Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule. Wichtig sind in diesem Zusammenhang seine Arbeiten zum Absolutheitsanspruch des Christentums (Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, 1902, ist sein bedeutendstes Werk, unter dem er heute noch bekannt ist), zum Verhältnis von Historismus und Theologie sowie von Staat und Kirche. Seine Sorge galt der Zukunft der entscheidend durch das Christentum geprägten Kultur Europas und der Moderne, von denen er meinte, daß sie aufeinander angewiesen seien. Ihm ging es um die Bewahrung der Substanz des Christentums, die er aber mit der intellektuellen Form der Moderne versöhnen wollte. Troeltsch vertrat die konsequente methodische Trennung von Exegese und Systematik, die er mit unterschiedlichen Rationalitätsstandards beider Teilgebiete begründete. Er fordert eine religionsgeschichtliche Theologie unter Anerkennung der Konsequenzen der historischen Methoden.
Neue Deutsche Biographie
- Der vielfältig begabte und gleichermaßen vom humanistischen Bildungsideal der Epoche wie von der sozialkaritativ orientierten Frömmigkeitskultur des Elternhauses geprägte T. besuchte bis zur Reifeprüfung 1883 das entschieden prot. Gymnasium beiSt. Anna in Augsburg. Seit 1884 studierte er ev. Theologie in Erlangen, seit 1885 in Berlin und seit 1886 in Göttingen (1. kirchl. Examen Ansbach 1888). →Der Spätidealist Gustav Claß (1836–1908) und – kritisch rezipiert – Albrecht →Ritschl (1822–89) wurden zu wichtigen Lehrern. Noch größere Bedeutung für T. besaßen in Göttingen wirkende Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule“. In diesem Freundeskreis, der „kleinen Göttinger Fakultät“, zu dem u. a. →Wilhelm Bousset (1865– 1920), →Hermann Gunkel (1862–1932), Johannes →Weiß (1863–1914) und →William Wrede (1859–1906) zählten, profilierte sich T. als „Systematiker“. 1891 mit einer Arbeit über „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon“ in Göttingen zum Lic. theol. promoviert und dort noch im selben Jahr für Kirchen- und Dogmengeschichte habilitiert, lehrte T. seit dem Sommersemester 1892 als ao. Professor für Systematische Theologie an der Univ. Bonn. 1894 wechselte er als Ordinarius für Systematische Theologie nach Heidelberg, wo er fern fachgebundener Enge v. a. im Austausch mit seinem „Fachmenschenfreund“ →Max Weber (1864–1920) sein Programm einer Theologie als historisch-ethischer Kulturwissenschaft des Christentums produktiv entfaltete. Fundamentaltheologische wie kultur- und ideengeschichtlich orientierte Studien (Die Absolutheit d. Christentums u. d. Rel.gesch., 1902; Die Bedeutung d. Christentums f. d. Entstehung d. modernen Welt, 1906; Prot. Christentum u. Kirche in d. Neuzeit, 2 Bde., 1906/09; Die Soziallehren d. christl. Kirchen u. Gruppen, 1912) erzielten starke, immer auch kontroverse Resonanz weit über akademische Spezialdiskurse hinaus und ließen T. zu einem Klassiker der historischen Religionssoziologie avancieren.
- In der Bad. Generalsynode, in Landes- wie Lokalpolitik engagiert (Heidelberger Stadtverordneter 1912–15), 1906 zum Prorektor der Univ. Heidelberg gewählt und seit 1909 deren Vertreter in der 1. Bad. Kammer, gewann T. zunehmend (kirchen-)politisches Profil als Protagonist bürgerlich-liberaler Reformorientierung mit guten Kontakten zum bad. Herrscherhaus. 1915 übernahm T. den eigens für ihn in der phil. Fakultät der Univ. Berlin errichteten Lehrstuhl für „Religions-, Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte“. Zugleich erweiterte sich sein öffentlicher Wirkungskreis. Als Redner und Publizist, Mitglied gelehrtenpolitisch aktiver Professorenzirkel wie auch der „Deutschen Gesellschaft 1914“ machte sich T. die offiziöse Deutung des Kriegs als eines Deutschland aufgezwungenen „Kulturkriegs“ um konkurrierende Ideen von Freiheit und politischer Ordnung zu eigen. Unter dem Eindruck verschärfter Konflikte um Annexionsprogramme und innenpolitischen Reformzwang fand er später zu prononciert antialldt. Positionen. Für Verständigungsfrieden, Parlamentarisierung und Wahlrechtsreform kämpfte T., der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg beratend unterstützt hatte, seit Ende 1917 auch als Mitbegründer des „Volksbunds für Freiheit und Vaterland“, in dem bürgerlich-liberale Kräfte den Schulterschluß mit Sozialdemokratie und Gewerkschaften probten. →Friedrich Naumanns (1860–1919) DDP stellte er sich 1919 als Spitzenkandidat für die Verfassunggebende Preuß. Landesversammlung zur Verfügung und gestaltete als Abgeordneter und Parlamentarischer Unterstaatssekretär im Preuß. Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (März 1919–Juni 1920) die „hinkende Trennung“ von Staat und Kirchen mit. Als Publizist erwarb sich T. seit 1918, zunächst unter Pseudonym, den Rang des führenden linksbürgerlichen Zeitdiagnostikers, der die vielfältigen Gefährdungen der jungen dt. Demokratie differenziert und illusionslos analysierte.
- T.s theologisch-philosophisches Œuvre weist in aller Vielgestaltigkeit eine ungewöhnliche Problemkontinuität auf. Angesichts der historistischen Einsicht in die Relativität geschichtlicher Wirklichkeit suchte T. neue normative Verbindlichkeit in tradierten Kulturbeständen zu erschließen. Ob geschichtsphilosophisch fundierte Gegenwartsdeutung, theoriegeleitete Suche nach einer modernitätskompatiblen Gestalt christlicher Theologie oder weit ausgreifende, problemgeschichtlich wie methodologisch ambitionierte Studien zur Genesis der modernen Ideenwelt, immer stand sein wissenschaftliches wie publizistisches Werk im Dienst praktischer Wirkungsabsicht um ethisch verantworteter konstruktiver Zukunftsgestaltung willen. Die Themen verbindet die Frage nach dem Schicksal freier Persönlichkeit in modernen kapitalistisch geprägten Gesellschaften. In seinem letzten, Fragment gebliebenen Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme“ (1922) entwickelte T. vor geschichtstheoretischem Horizont und in Auseinandersetzung mit wissenschaftskritischen Positionen der jüngeren Generation die Vision einer konsensfähigen „Kultursynthese des Europäismus“, die im geplanten 2. Teil des Werks detaillierter dargestellt werden sollte. Nach T.s Tod geriet das Werk dieses bis heute wirkmächtigsten theol. Krisendiagnostikers des wilhelminischen Deutschlands in den Schatten antiliberaler Strömungen und erhielt nur wenig Beachtung. Wegen seines pluralismusfreundlichen Konzepts einer „Polymorphie der Wahrheit“ findet es aber seit den 1970er Jahren neue Aufmerksamkeit. T.s Fragen nach Identität und Geltung des Christentums, den religiös-kulturellen Formationskräften Europas und einer demokratiekompatiblen Ethik markieren am Beginn des 21. Jh. Problemfelder von bedrängender Gegenwartsrelevanz.[2]
Tod
Fünf Wochen nach der Auslieferung des ersten Buches von „Der Historismus und seine Probleme“, der unter dem Titel „Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“ die formale Geschichtslogik behandelte, starb Ernst Troeltsch am Morgen des 1. Februar 1923 in seiner Wohnung am Reichskanzlerplatz 4. In der britischen Presse bezeichnete man ihn als ein letztes Opfer der Hungerblockade, unter der Troeltsch und seine Frau Marta gemeinsam mit dem Sohn Ernst wie viele andere Berliner schwer gelitten hatten. Reichspräsidenten Friedrich Ebert schickte ein Beileidstelegramm an die Witwe Marta Troeltsch. In den folgenden Tagen erscheinen in der europäischen Presse sowie in den USA knapp 140 Nachrufe, geschrieben von engen Freunden und Schülern Troeltschs, aber auch von prominenten Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern anderer Disziplinen. Er wurde dabei als „großer Deutscher“, „Führer der Jugend“, „Führer der deutschen Wissenschaft“, „erster deutscher Geschichtsphilosophen nach Hegel“, „Einstein der Geisteswissenschaften“ oder gar „größter Gelehrter seit Leibniz“ geehrt. Der erste Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Adolf von Harnack hielt im schwarzen Talar des evangelischen Pfarrers am Sarg des engen Freundes die Trauerrede. Beigesetzt wurde Troeltsch auf dem Invalidenfriedhof in Berlin. Der wissenschaftlichen Pflege des Werkes von Troeltsch widmet sich die Ernst-Troeltsch-Gesellschaft.