Europäischer Haftbefehl
Der Europäische Haftbefehl ist eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedsstaat der EU ergeht und die Festnahme und Überstellung einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedsstaat bezweckt, weil die Person wegen des Verdachts einer Straftat oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung verfolgt wird.
Das Recht des Europäischen Haftbefehls ersetzt unter den Mitgliedsstaaten das bisherige Auslieferungsverfahren durch ein vereinfachtes System der Überstellung. Die Auslieferung ist nicht mehr von einer regierungsamtlichen Bewilligung abhängig, sondern ausschließlich von Entscheidungen der Justiz der beteiligten Mitgliedsstaaten.
Bemerkenswert ist hierbei, daß auch eigene Staatsbürger an andere EU-Länder ausgeliefert werden müssen. Bei 32 Tatbeständen, die z. B. Betrug, Computerkriminalität und Rassismus umfassen, erfolgt die Auslieferung auch dann, wenn die Tat nach dem Recht des ausliefernden Staates nicht strafbar oder bereits verjährt ist.
Der Rat der Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten hat auf Vorschlag der Kommission und nach Stellungnahme des EU-Parlaments den Rahmenbeschluß vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten verabschiedet.
Inhaltsverzeichnis
Offizielle Entstehungsgründe
- Die Verwirklichung der Idee, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen“ (Art. 29 Abs. 1 EU) insbesondere durch effektive Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
- Verstärkung und Vereinfachung internationaler Kooperation in Strafsachen,
- Entstehung eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes für Auslieferungen durch Abschaffung des förmlichen Auslieferungsverfahrens.
Diese Ziele sollen durch eine bessere Vereinbarkeit, eine stärkere Konvergenz der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten und Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen und Entscheidungen in der gesamten Europäischen Union erreicht werden.
Unterschiede zum bisherigen Auslieferungsrecht
- direkte Zusammenarbeit der Justizbehörden ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges und Verzicht auf das sogenannte Bewilligungsverfahren,
- verkürzte Übergabefristen,
- Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung der gerichtlichen und außergerichtlichen Entscheidung führt dazu, daß ein EUHB, der in einem Anordnungsmitgliedsstaat erlassen wird, in jedem anderen Mitgliedsstaat (Vollstreckungsstaat) nur unter Vorbehalt der Ablehnungsgründe (Art. 3 des Rahmenbeschlusses) zu vollstrecken ist,
- weitgehender Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit,
- allgemeine Verpflichtung zur Auslieferung eigener Staatsangehöriger,
- Einbindung von Hilfsinstrumenten und Organen (wie: Eurojust, Europäisches Justizielles Netz, SIS)
Inkrafttreten
Dieses neue Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sollte bis zum 31. Dezember 2003 durch die Vornahme aller notwendigen Durchführungsmaßnahmen in die Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten der EU implementiert werden (Art. 34 Abs. 1). Die Frist zur Inkorporierung des EUHB in das nationale Recht bezüglich der 10 neuen Beitrittskandidaten lief gemäß Beitrittsvertrag (Art. 2) am 1. Mai 2004 aus.
Kritik
Der Europäische Haftbefehl wurde von verschiedenen Seiten kritisiert.[1]
Instrument politischer Willkür
Der Europäische Haftbefehl ist nach Auffassung der EU-Kommission „einer der ‚Ecksteine‘ bei der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Mit einem Pathos, das an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts erinnert, feiert die EU ein Instrument politischer Willkür, das für einen epochalen Rückschritt der europäischen Rechtskultur steht.
Am 23. August 2004 trat in der BRD ein Gesetz in Kraft, das jeden Bürger der Bundesrepublik gegenüber sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten geradezu für vogelfrei erklärte. Das „Gesetz über den Europäischen Haftbefehl“ – EuHbG – bringt es fertig, daß Deutsche erstmals seit der Gründung des zweiten Deutschen Reiches im Jahre 1871 damit rechnen müssen, ins Ausland verbracht zu werden, um dort ausländischer Justiz und Strafvollstreckung ausgesetzt zu sein – und dies auch wegen Handlungen, die in der BRD nicht mit Strafe bedroht sind – sogar wegen bloßer Meinungsäußerungen.
Bereits im Dezember 2000 war (mit der 47. Grundgesetzänderung) das in Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes festgelegte Verbot der Auslieferung deutscher Staatsbürger an das Ausland ausgehebelt worden. Zum einen wurde die Überstellung Deutscher an internationale Gerichtshöfe, zum anderen eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erlaubt.
Mit dem Europäischen Haftbefehl sind nun alle nationalen Justizbehörden verpflichtet, das Ersuchen einer Justizbehörde eines anderen Mitgliedsstaates auf Überstellung einer Person anzuerkennen. Deutsche Gerichte werden tatenlos zusehen, wenn deutsche Staatsbürger wegen des Verdachts einer Straftat zur Untersuchungshaft z. B. nach Estland oder auf die französische Karibikinsel Martinique verbracht werden.
Die Anwaltskammer warnte
Endlich sei „ein wichtiger Fortschritt in der Justizzusammenarbeit innerhalb der EU“ erreicht, „der auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten beruht“, ließ die EU-Kommission verlauten. Ein Vertrauen, das die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme vom 3. Dezember 2001 zum Europäischen Haftbefehl als blind bezeichnete: „Die Annahme, dass die Strafverfolgung in jedem konkreten Einzelfall rechtsstaatlichen Standards entspreche, ist [...] lebensfremd und Ausdruck eines blinden Vertrauens.“ Denn: „Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das Straf- und Strafverfahrensrecht Ausdruck nationaler Eigenheiten. Die sachlichen und rechtssystematischen Unterschiede der über Jahrhunderte gewachsenen und fest in den jeweiligen Gesellschaften verankerten Strafrechtskulturen sind (noch) zu gravierend, als daß eine automatische Anerkennung und Vollstreckung jedweder Entscheidung einer Justizbehörde über Freiheitsentzug akzeptabel wäre.“
Der Bundestag als Kettenhund der EU
Es kann, wie die Bundesregierung selbst feststellte, „in einem Mitgliedsland ein Verhalten strafbewehrt sein, das in einem anderen als Ausübung eines Grundrechtes verfassungsrechtlichen Schutz genießt“. Eine Erkenntnis, die es schon an Schizophrenie grenzen läßt, daß der Europäische Haftbefehl im März 2004 vom BRD-Bundestag trotz allem einstimmig angenommen wurde.
Zwar äußerte der CDU/CSU-Abgeordnete Siegfried Kauder bei der Sitzung des Bundestages am 11. März 2004 sehr richtig: „Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist Gutes. Das, was zum Europäischen Haftbefehl aus Brüssel kommt, ist nichts Gutes. Darin sind sich alle Fraktionen dieses Hohen Hauses einig.“ Zwar erkannte der bündnisgrüne Vertreter Jerzy Montag (Jude) zur gleichen Zeit, daß sich der Europäische Haftbefehl mit dem Grundsatz der Klarheit von Normen, die tief in Grundrechte eingreifen, nur sehr schwer vereinbaren lasse.
Doch ähnlich wie bei der FDP (die durch ihren Abgeordneten Jörg van Essen verlauten ließ: „Die FDP wird dem Gesetzentwurf zum Europäischen Haftbefehl heute zustimmen. Wir tun dies nicht mit Begeisterung, sondern unter Berücksichtigung großer Bedenken.“) verstummte augenblicklich die Kritik sämtlicher Fraktionen, als es bei der abschließenden Beschlußfassung darum ging, den EU-Bürokraten in Brüssel die Ergebenheit des BRD-Parlaments zu beweisen.
Deutsche Gerichte ohne Überprüfungsrecht
Der Gipfel der neugeschaffenen Rechtsunsicherheit ist, daß es deutschen Gerichten vielfach ausdrücklich untersagt ist, die Berechtigung des Haftbefehls überhaupt nachzuprüfen.
Allein die Ausstellung des Haftbefehls durch einen EU-Mitgliedsstaat genügt, um die deutsche Polizei anzuweisen, den betreffenden Deutschen unverzüglich festzunehmen und auszuliefern. Konkret besteht die Ohnmacht deutscher Richter, wenn eine auch nur vermeintliche Straftat den in Artikel 2 Absatz 2 eines Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 genannten Deliktsgruppen zugehörig ist. Dabei handelt es sich um eine Liste von derzeit 32 Deliktstatbeständen, welche nicht namentlich in den deutschen Gesetzestext aufgenommen oder gar definiert wurden. Statt dessen wird kurzerhand auf den EU-Rahmenbeschluß Bezug genommen.
Wie unbestimmt diese Liste ist, wird deutlich an der Tatsache, daß etwa „Betrug“ und „Betrugsdelikte“ als zwei gesonderte Tatbestände aufgeführt werden. Worin der Unterschied besteht, bleibt das Geheimnis der Brüsseler EU-Bürokraten. Aber auch viele der weiteren Listenbegriffe sind derart schwammig, daß das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot verletzt ist. Gummiartig sind die Listenbegriffe „Terrorismus“ und „Umweltkriminalität“, „Sabotage“ und „Korruption“. Auch von „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ ist die Rede – einem in der BRD geradezu in Mode gekommenen Vorwurf, um mißliebige Opposition zu verfolgen. Die Grenzen dieses Tatbestandes sind aber schon ihrer Art nach überhaupt nicht objektivierbar.
Szenarien
Ist beispielsweise das Erzählen eines Schottenwitzes fremdenfeindlich? Wenn ja, wäre etwa Großbritannien berechtigt, die Auslieferung des „Täters“ zu verlangen und ihn anzuklagen. Oder was ist mit einem Zeitungsartikel zum Thema „Die Gefahren des Islam“? Der mögliche künftige EU-Staat Türkei hält diesen ggf. für fremdenfeindlich und fordert deshalb die Auslieferung des Autors zwecks Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Einem so verfolgten Deutschen stünde nicht einmal der Weg zu einem deutschen Gericht offen.
Abtretung von immer mehr Kompetenzen
Es schließt sich eine noch unangenehmere Wahrheit an: Die Liste der 32 Straftaten kann gemäß Artikel 2 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 durch den Rat der EU jederzeit erweitert werden. Offiziell nennt man das „fortschreitende Harmonisierungsarbeiten“, doch handelt es sich in Wahrheit um eine nie gekannte Gleichschaltung unterschiedlicher Rechts- und Kulturkreise. Über die Art und Weise, wie solches Unrecht an den Völkern Europas verübt wird, äußerte sich bereits 1999 der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Erfolgreiche Verfassungsklagen
Polen
In Polen erlaubt die Verfassung weiterhin nicht die Auslieferung polnischer Staatsbürger. Die Bestimmungen, die in die Strafprozeßordnung zur Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses eingefügt wurden, sind verfassungswidrig. Das polnische Verfassungsgericht ordnete an, der Gesetzgeber habe innerhalb von 18 Monaten die Bestimmungen der Strafprozeßordnung verfassungs- und völkerrechtskonform zu gestalten. Nach Ablauf von 18 Monaten nach Verkündung des Urteils treten die verfassungswidrigen Bestimmungen außer Kraft. Das Urteil wurde am 4. Mai 2005 verkündet.
BRD
Das zuerst vom Bundestag verabschiedete Gesetz über den Europäischen Haftbefehl (EuHbG)[2] war nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 verfassungswidrig und nichtig. Das Gesetz greife unverhältnismäßig in das Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit[3] und die Rechtsweggarantie[4] ein. Deutschland habe die EU-Vorgabe nicht grundrechtsschonend umgesetzt, so die Urteilsbegründung. Zu dem Urteil haben drei Richter jeweils ein Sondervotum abgegeben.
Bundestag und Bundesrat reagierten darauf mit einem Gesetzgebungsverfahren für eine erneute Auflage des EuHbG. Das neue Umsetzungsgesetz wurde am 20. Juli 2006 vom Bundespräsidenten Horst Köhle unterschrieben und am 25. Juli 2006 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.[5] Nach dem deutschen Gesetz über den Europäischen Haftbefehl vom 20.7.2006 (in Kraft seit 2.8.2006) ist die Auslieferung eines Deutschen an einen Mitgliedsstaat der EU nunmehr zulässig, wenn die Straftat einen maßgeblichen Auslandsbezug hat und grundsätzlich die spätere Rücküberstellung in die BRD zur Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe gesichert ist.
Filmbeiträge
Karl Albrecht Schachtschneider in einem Vortrag u. a. über die Folgen des europäischen Haftbefehls:
Verweise
- Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI)
- Alptraum Europäischer Haftbefehl, Hoffnung Deutschland, 24. August 2007
- EU-Haftbefehl (PDF-Datei)
- Der europäische Haftbefehl OpenOffice-doc-Datei