Horst Wessel im Gespräch mit Dr. phil. Hans Gerkenrath
Kurz vor dem Parteitag des Jahres 1929 hatte Horst Wessel ein denkwürdiges Gespräch mit dem Dr. phil. Hans Gerkenrath, Germanist und Sachverständiger für mittelalterliche Kunst. Dieses Gespräch fand statt an der Ecke Friedrichstraße und Unter den Linden und es dauerte anderthalb Stunden.
Der Doktor Gerkenrath nahm kein Blatt vor den Mund und genierte sich in keiner Weise, mit seiner Meinung herauszurücken. „Du hast eine geradezu vorbildliche Geschicklichkeit“, sagt er ironisch, „dir deine Zukunft zu versauen. Nur hätte ich dir in dieser Hinsicht etwas mehr Phantasie zugetraut. Scherz beiseite“ — und Gerkenrath wurde ernst — „was soll das für einen Sinn haben, in blödsinnigen Kneipen herumzusitzen und sich mit Marxisten herumzuprügeln und überhaupt so ein blödes Landsknechtsleben zu führen? Mensch — überlege doch, ist das denn auch ein Lebensziel? Du bist doch schließlich Korpsstudent und außerdem bist du ein vorzüglicher Jurist und kannst, wenn du nur willst, eine Bombenkarriere machen. Und was machst du? Du steigst im Wedding herum und läßt dich blutig schlagen und schlägst selber wieder blutig. Mensch, Horst, wenn du Blut sehen willst, steig lieber auf Mensur und stich dich nach dem Komment herum, wie es sich für einen Menschen deiner Bildung geziemt. Wenn ich dich so ansehe, packt mich die kalte Wut über dich. Du kannst überdies noch sehr gut schreiben und bist überhaupt ein talentierter Kerl. Wie du als geistlicher Mensch —“
Horst Wessel bleibt brüsk stehen und hat plötzlich eine scharfe Falte auf seiner sauberen und klaren Stirn.
„Halt mal“, sagt er, „einen Augenblick. Jetzt hast du mir endlich das Stichwort gegeben. Ich bin mir darüber klar, daß du von dem, was ich dir jetzt sagen werde, nicht einen Hauch verstehst, ich könnte ebenso chinesisch mit dir sprechen. Aber ich will einmal mit dir chinesisch sprechen. Die Sache sieht nämlich so aus: Tatbestand: ich stamme aus einem Pfarrerhause, gut erzogen, habe mein Maturum gemacht, gehöre dem Kösener SC. an, Normannia, Alemannia, zwei ausgezeichnete Korps. Ich studiere Jura mit Lust und Liebe. Ich schreibe nebenher Gedichte und Novellen. Ich liebe Literatur und ich liebe Musik und ich bin also, wie du so treffend gesagt hast, ein geistiger Mensch. Ich habe auch ganz gute Manieren, nicht wahr, ich habe niemals den Fisch mit dem Messer gefressen und ich kann einer Dame die Hand küssen, ohne daß diese Hand von meiner Nase feucht wird —“
Horst Wessel unterbrach sich und lächelte, denn Gerkenrath hatte den Mund schmerzhaft verzogen.
„Entschuldige, Hans, ich war gerade dabei, in meinen handfesten S.A.-Ton zu verfallen. Dir zuliebe werde ich versuchen, weiterhin gewählt zu sprechen. Also, ich bin ein geistiger Mensch, das haben wir festgestellt. Ich habe mich in Goethe versenkt und ich liebe die Romantik, Schlegel, Tieck, Novalis — ich liebe abgöttisch Hölderlin und kenne meinen Nietzsche und meinen Kant — ich bin also ein geistiger Mensch. Und ich kann dir sagen und erläutern, was es mit dem dolus eventualis auf sich hat und wie das Recht der alten Römer zu Zeiten eines sehr geehrten Herrn Cäsar ausgesehen hat. Ich kann also nicht oft genug wiederholen, daß ich ein geistiger Mensch bin. Und jetzt hör gut zu. Ich habe diesen meinen geistigen Besitz einmal auf die Seite geschoben. Ich wohne in schauderhaften Buden, die nach Kohlsuppen und Gerstenkaffee riechen, denn ich esse meistens Kohlsuppe und trinke meistens Gerstenkaffee. Und ich prügle mich, so oft es sein muß — und es muß sehr oft sein — auf der Straße mit verhetzten, deutschen Arbeitern herum und mit Verbrechern und Zuhältern. Ich habe ein braunes Hemd und marschiere mit meinen Kameraden und diese meine Kameraden sind ‚einfache Arbeiter‘, wie du diese deutschen Menschen, die vielleicht unsere besten sind, herablassend nennen würdest. Ich sitze in meinen Sturmlokalen herum. Ich mache in der S.A. vierundzwanzig Stunden Dienst am Tage und ich verdiene keinen Pfennig.“
„Nun ja“, äußerte Gerkenrath unwillig, aber Wessel ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich bin noch lange nicht am Ende. Also, ich habe alles, was mein geistiger Besitz ist, einmal auf die Seite geschoben. Und jetzt paß genau auf. Für mich bedeutet vorläufig gar nichts: Sicherheit der Existenz, Aussicht auf Karriere, die Schätze der Kultur, der Geistigkeit, der Bildung. Sogar die Juristerei bedeutet vorläufig nichts für mich und ich will dir mitteilen, daß sogar das ganze Leben für mich vorläufig nichts bedeutet — solange dieses Volk in so grauenhafter äußerer und innerer Not haust. Solange dieses Volk keine Kultur und keine Geistigkeit und keine gesicherte Existenz hat, solange will ich von all diesen Gütern auch keines besitzen. Hoffentlich verstehst du, was ich meine, Gerkenrath?“
Der Freund zuckt die Schultern. „Natürlich verstehe ich das! Ich meine nur, Wessel, du wirst doch einsehen, daß man diesem Volke und überhaupt jedem Volke doch nicht die Kultur bringt, indem man sich auf Tod und Leben herumprügelt und —“
„Doch!“ ruft Horst Wessel beinahe jubelnd, „doch! Gerade! Mensch, jetzt kommen wir nämlich zum Kern der Sache. Glaubst du nicht, daß ich genau weiß, wie viele geistige Menschen sich abgestoßen fühlen von unseren rauhen Manieren und von unserer rauhen Sprache und unserer ganzen rauhen Aufmachung? Hans, das muß sein, das muß einfach sein! Erst muß das Haus gebaut werden, bevor man es einrichten kann. Erst müssen die Straßen gebaut werden, bevor man Wagen darauf fahren lassen kann. Zuerst muß unter allen Umständen die politische Existenz dieses Vaterlandes gesichert werden, bevor wir wieder an Goethe, Hölderlin, Johann Sebastian Bach und an alle Dinge, an denen sich die Seele erfreuen kann, denken dürfen. Gerkenrath! Es gibt keine deutsche Kultur ohne einen deutschen Staat und es gibt keinen deutschen Staat ohne ein deutsches Volk. Du weißt, daß ich mich niemals mit Phrasen abgebe. Und ich habe dir da soeben einen fundamentalen Satz meiner Weltanschauung gesagt. Und jetzt werde ich dir die Anwendung dieser Weltanschauung sagen. Es hört sich ein wenig rauh an, aber wir sind im Kampf rauh geworden. Die praktische Anwendung dieser Weltanschauung ist folgende, wer ein geistiger deutscher Mensch ist —“
Horst Wessel unterbricht sich und beginnt noch einmal, ganz langsam und ganz eindringlich, als wolle er diese Erkenntnis in den Kopf seines Freundes mit Hammerschlägen einrammen: „Wer ein geistiger, deutscher Mensch ist, und wer die Kulturträger dieser deutschen Nation kennt und wer sie liebt sein Leben lang, wer sie hüten will und pflegen, wer seinen kleinen oder großen Teil dazu beitragen will, daß sie weiterhin blühen und wachsen, wer sie als den kostbarsten Besitz empfindet — gerade der, Hans, gerade der muß sie in dieser jetzigen, in dieser gegenwärtigen Zeit für eine Weile zur Seite schieben. Denn erst muß das Haus für diese Kultur gesäubert werden, verstehst du? Vielleicht muß das Haus erst einmal ganz neu gebaut werden. Und wenn das Haus dasteht, sauber und würdig und gereinigt und klar durch und durch, dann sind wir soweit. Wer dieser Überzeugung ist, daß dieses heutige deutsche Haus nicht würdig ist, die wahren deutschen geistigen Güter zu beherbergen, der muß erst einmal heraus aus den Theatern, heraus aus den Salons, heraus aus den Studierstuben, heraus aus den Elternhäusern, heraus aus der Literatur, heraus aus den Konzertsälen — und weißt du, wohin er muß? Er muß auf die Straße, er muß mitten hinein in das Volk und muß dort sprechen und rufen und, wenn es sein muß, um sich schlagen, damit das alte, verlotterte deutsche Haus niedergerissen wird und ein neues gebaut werden kann.“
Horst Wessel strahlt Gerkenrath aus zwei blanken, heißen Augen an.
„Siehst du“, sagt er leise, „so stehen nämlich die Dinge. Und so paradox es dir auch klingen mag, Hans: in diesen Proletariervierteln, in denen ich mich aufhalte, in diesen Jammerburgen der Verzweiflung, der Not, des Verbrechens, des Elends und der Verhetzung, in diesen Stadtteilen, in denen du sicher noch niemals gewesen bist, die aber meine Heimat geworden sind und wenn du hundertmal deine geistige Nase rümpfst — hier wird die deutsche Kultur verteidigt von uns, von der S.A., jene Kultur, mein Lieber, die du nur besitzen möchtest, für die du aber keinen Pfifferling tust, um sie zu erhalten. Ich sage dir: jede kleine Prügelei mit einem Kommunisten an irgendeiner Straßenecke, jeder kleine Aufmarsch der S.A. in einer verwilderten Gegend, jede Saalschlacht ist ein Schritt vorwärts auf der Straße der deutschen Kultur, und jeder Kopf eines S.A.-Mannes, der von der Kommune eingeschlagen wird, wurde hingehalten für das Volk, für das Reich, für das Haus der deutschen Kultur. Du siehst, ich kann dir genau erklären, um was es sich dreht, eben weil ich ein geistiger Mensch bin. Und ich machen meinen S.A.-Dienst Tag um Tag und Nacht um Nacht, ich will, solange es sein muß, nichts anderes sein als ein Feldsoldat Adolf Hitlers. Ich will mich, so oft es nur geht, mit Kommunisten herumschlagen. Und hart auf hart, sage ich dir, will ich mich herumschlagen! Ich weiß, daß es Universitätsprofessoren gibt und Schriftsteller und Maler und Musiker, von denen man sagt, sie seien die Hüter und die Träger der geistigen Güter dieses Landes. Zur Zeit stimmt das nicht. Zur Zeit sind das die namenlosen Männer, die Plakate ankleben und Flugblätter verteilen, die den Saalschutz für unsere Versammlungen machen, die arbeitslos werden, die hungern und dürsten und frieren und betteln gehen, die ihre Gesundheit und ihr Leben in jeder Stunde riskieren. Lieber Hans, in Zeiten, in denen Schicksale im Großen entschieden werden müssen, muß man manchmal ganz primitive Dinge tun. Wie der Mensch essen muß, um arbeiten zu können, so müssen wir kämpfen, primitiv und altertümlich kämpfen, damit die Nation gesichert wird. Die S.A. marschiert nämlich für Goethe, für Schiller, für Kant, für Bach, für den Kölner Dom und den Bamberger Reiter, für Novalis und Hans Thoma, für die deutsche Kultur, ob du es glaubst oder nicht. Sie wollen, daß Deutschland wieder vollkommen deutsch wird, das heißt, daß Deutschland nationalsozialistisch wird. Entweder gelingt das oder es gelingt nicht. Aber es muß gelingen. Und es wird gelingen mit dieser S.A., auf die du heruntersiehst, weil sie sich in den Straßen herumprügelt. Du kennst den Hyperion, nicht wahr! Die kennen ihn nicht. Und weil ich ihn kenne, will ich mit dafür sorgen, daß Hölderlin noch viele Male über deutschen Boden wandelt, aber er muß erst deutschen Boden vorfinden und den helfe ich bereiten und deshalb,mein sehr geehrter Herr Kommilitone — deshalb marschiere ich mit hundert wilden und robusten Burschen durch den Friedrichshain und haue jedem Kommunisten in die Schnauze. Punkt. Aus. Fertig.“
Der Doktor Gerkenrath seufzt etwas ungeduldig. „Bester Wessel“, sagt er, „es kann ja sein, daß es so ist. Aber ich kann mir eben nicht vorstellen, daß, auch auf Umwegen, diese wilden Kerle vom Wedding etwas mit deutscher Kultur zu tun haben, daß ihr mit euren blutigen Saalschlachten Goethe huldigt, und daß ihr mit eurem überlauten, anreißerischen Geschrei und euren ungehobelten, schrecklichen Manieren Kulturträger seid. Und daß du besonders alles wegwirfst, was —“
„Ach Gerkenrath!“ antwortet Wessel gelassen, „es gibt ein oft zitiertes Wort, das du selber gerne im Munde führst. Es heißt: Wirf weg, damit du nicht verlierst. Also wir sind dabei, wir, die S.A., wegzuwerfen, damit wir nicht verlieren, sondern wiedergewinnen und ihr steht dabei und seht zu und findet das höchst unfein, höchst ungehobelt — ja, zum Donnerwetter, Kampf ist keine sehr gehobelte Angelegenheit und mit Füllfederhaltern und Schreibmaschinen kann man die deutsche Kultur nun nicht mehr verteidigen und noch weniger zurückerobern. Wir müssen jetzt, mein lieber Kommilitone, für Goethe mit Bierkrügen und Stuhlbeinen arbeiten. Und wenn wir gewonnen haben, nun, dann werden wir wieder die Arme ausbreiten und unsere geistigen Güter an unser Herz drücken und uns an ihnen erfreuen.“
Wessel schweigt und sieht seinen Freund ruhig an und dann muß er lächeln, wie er ihn so da stehen sieht, elegant, mit gepflegten Händen, die jetzt eine Zigarette entzünden, mit der feinen, seidenen Wäsche und dem prachtvollen Querbinder.
„Gerkenrath!“ sagt er plötzlich, „wenn das Dritte Reich da ist, dann hast du es schon immer gesagt, daß es kommen wird und du wirst mit dem Hakenkreuz herumlaufen und Heil Hitler schreien — aber du wirst noch immer nicht verstanden haben, was ich dir soeben erzählt habe. Vielleicht bin ich dann nicht mehr im Stande, dir noch einmal die ganze Sache zu erläutern. Denn du darfst nicht vergessen, daß wir uns für diese deutsche Kultur nicht nur prügeln, sondern daß wir auch für sie sterben, wenn es sein muß. Und das haben wir vor euch voraus, Heil Hitler!“
Und damit ist Horst Wessel weitergegangen. Hinter ihm zieht der Doktor Gerkenrath langsam und etwas ärgerlich seinen Hut. Langsam deshalb, weil ihn die Gedanken, die der Kommilitone Wessel soeben geäußert hat, sehr beschäftigen und ärgerlich deshalb, weil er vieles an diesen Gedanken, ob er will oder nicht, großartig findet.