Krüger-Depesche
Die Krüger-Depesche war eine im Jahre 1896 von Kaiser Wilhelm II. versandte Botschaft an Paul Krüger, den Präsidenten Transvaals, in der er den Präsidenten zur erfolgreichen Abwehr eines englischen Überfalls beglückwünschte. Die Idee stammte vom damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt Adolf Marschall von Bieberstein. Der Text wurde in Ich-Form abgefasst, so daß der Eindruck entstand, Wilhelm II. hätte allein gehandelt.
Großbritannien, das großes Interesse an den Bodenschätzen Transvaals zeigte, zettelte 1895 mittels des in der Kapkolonie tätigen Politikers Leander Starr Jameson einen bewaffneten Überfall auf die Burenrepublik Transvaal an, mit dem Ziel, das Land zu annektieren („Jameson Raid“). Nach dem Überfall mit einer Armee von ca. 600 Mann (darunter drei aktive britische Offiziere) distanzierte sich die englische Regierung nur halbherzig von diesem ungeheuerlichen Vorgang.
Der Wortlaut der Depesche Wilhelms II. an Ohm Krüger lautete:
- Ich spreche Ihnen Meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, dass es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren.
Da nach englischem Verständnis Transvaal sowieso schon so gut wie zum Britischen Empire gehörte, brach in England sofort ein Sturm der Entrüstung los und eine antideutsche Hetze begann, die letztlich einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland darstellte.
Doch nicht nur innenpolitisch war das Jahr 1896 ein Jahr der Krisen; auch in der Außenpolitik häuften sich die Konfliktstoffe. So hat später Philipp Eulenburg die Zeit bis zur Ernennung Bülows zum Staatssekretär des Äußern im Sommer 1897 als »eine der gefährlichsten für die innere und äußere deutsche Politik« bezeichnet. Die Jahreswende 1895/96 stand im Zeichen von Bemühungen der deutschen Politik um eine deutsch-französische Verständigung. Sie gehörten zum Plan einer »Liga der Kontinentalen«, den Holstein am 30. Dezember 1895 entwarf und den der Staatssekretär von Marschall am 1. Januar dem französischen Botschafter vortrug. Das Ziel dieser deutsch-russisch-französischen Liga war - wie Marschall dem Franzosen erklärte -, »den unersättlichen Appetit Englands zu limitieren«, d. h. die Ansprüche der drei Mächte in Übersee gegenüber dem britischen Imperialismus durchzusetzen. Dahinter stand die Hoffnung, mit dem Druck einer solchen Mächtekombination den Anschluß Englands an den deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund zu erreichen.
Eine Klärung des deutsch-englischen Verhältnisses schien um so notwendiger, als es im vergangenen Jahre wiederholt in Übersee zu Reibereien, Rivalitäten, Zusammenstößen und Mißverständnissen gekommen war. So hatte Deutschland gegen britische Maßnahmen Einspruch erhoben, die - der Kongoakte widersprechend - dem Bau einer Eisenbahn- und Telegraphenlinie vom Kap der Guten Hoffnung bis Ägypten dienen sollten, und sich dagegen gewandt, daß eine Bahn von der Hafenstadt Lourenco Marques im portugiesischen Mocambique nach der Burenrepublik Transvaal in englische Hände geriet. Beide Aktionen waren ausgegangen von Cecil Rhodes, dem Präsidenten der südafrikanischen Chartered Company und Premierminister der Kap-Kolonie. Und beide berührten politische und wirtschaftliche Interessen des Deutschen Reiches. Mit der KapKairo-Linie drohten die Engländer eine Verbindung zwischen den deutschen Kolonien Ostafrika und Südwestafrika zu durchkreuzen, und mit der Kontrolle des einzigen nichtbritischen Verkehrsweges der Buren zum Meer trafen sie nicht nur die burische, sondern auch die deutsche Wirtschaft, der sich nach der Entdeckung der Goldvorkommen in Transvaal ein wichtiges Absatzgebiet geöffnet hatte - arbeiteten doch allein im Johannisburger Industrierevier 15 000 Deutsche, z. T. sogar in führenden Stellungen. Daraus waren auch politische Beziehungen erwachsen, die von dem Präsidenten Ohm Krüger gegen das Andringen der Engländer ausgespielt wurden. So war auch das Auswärtige Amt in Berlin stark beunruhigt, als am 31. Dezember 1895 die Nachricht eintraf, daß am 29. Dezember im Auftrage von Cecil Rhodes unter Führung eines Verwalters seiner Chartered Company, Dr. Jameson, eine Abenteurerschar von etwa 600 Mann in Transvaal eingefallen war, um das Land mit Hilfe der dort arbeitenden »Uitlander« unter britische Herrschaft zu bringen. Doch bereits am 2. Januar gelang es Polizeikräften, die Eindringlinge gefangenzunehmen. Darauf schickte Wilhelm II. am 3. Januar jenes Telegramm an Ohm Krüger, in dem er ihn dazu beglückwünschte, daß es ihm gelungen sei, »ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren«, die »Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren«.
Daß diese Krüger-Depesche einer der größten Fehler in der Geschichte der modernen Diplomatie gewesen ist, ist heute Allgemeingut der Geschichtswissenschaft. Doch sie ist nicht - wie früher oft angenommen - einem Impuls Wilhelms II. entsprungen, sondern war Ergebnis einer gemeinsamen Beratung des Kaisers mit dem Reichskanzler und dem Staatssekretär des Äußeren, von Marschall, der sie vorgeschlagen hat und der, nach neueren Forschungen, offensichtlich für ihren scharfen Ton mitverantwortlich ist. Allerdings war Wilhelm II. zu der Besprechung mit der Absicht gekommen, das deutsche Protektorat über Transvaal verkünden zu lassen und die Marineinfanterie zu mobilisieren - auch auf die Gefahr eines Krieges mit England hin, den er »nur zu Lande« auszufechten hoffte. Dies wurde nun durch die Depesche verhindert. Aber noch in der Beratung vom 3. Januar beharrte der Kaiser auf seinem Willen, einen bereits herbeigerufenen Flügeladjutanten als »Löwenjäger« verkleidet nach Transvaal zu schicken, »um sich dort über die etwaige Hilfe, die den Boers zu leisten wäre, zu erkundigen«. Erst in den nächsten Tagen gelang es Hohenlohe, ihn hiervon abzubringen.
Die psychologischen Auswirkungen des Telegramms auf das deutsch-englische Verhältnis waren katastrophal. Zwar wurde überall in der Welt für die Buren Partei ergriffen, die hier ihre Freiheit gegen den britischen Imperialismus verteidigten, und die Regierung in London beeilte sich, sich von Jameson öffentlich zu distanzieren. Doch das Krüger-Telegramm des deutschen Kaisers, das ja auf eine - wenn auch überholte - deutsche »Hilfe« anspielte, wurde in England als Einmischung in britische Angelegenheiten empfunden. Denn »unabhängig« waren die beiden Burenrepubliken Transvaal und Oranjestaat nur im Innern; außenpolitisch hatte sich England in dem Londoner Vertrag von 1884 gewisse Reservatsrechte gesichert. Danach unterlagen alle Verträge mit fremden Mächten der britischen Zustimmung. So entfachte die Krüger-Depesche, die in Deutschland überall jubelnd begrüßt wurde, im ganzen britischen Empire einen gewaltigen Sturm der Entrüstung gegen die Deutschen, und die schon lange aufgestauten Ressentiments entluden sich in einem förmlichen »Wutparoxysmus«. Diese Haßausbrüche der Presse konnte auch der demütige Entschuldigungsbrief Wilhelms II. an seine Großmutter, die Queen Victoria, vom 8. Januar nicht besänftigen.
Zugleich erwies sich die Idee der Kontinentalliga als eine Illusion. Zwar sprach der Zar am 6. Januar dem deutschen Botschafter seine Anerkennung über die Haltung der kaiserlichen Regierung in der Transvaalfrage aus und mißbilligte die englische Politik, und selbst die französische Presse war - wie Hohenlohe dem Kaiser am 7. Januar berichtete - im ersten Augenblick entflammt gewesen »in Begeisterung für die südafrikanische Republik und in Bewunderung für Euer Majestät hochherziges Telegramm«. Doch schon nach 24 Stunden sei »die erste Regung des Herzens« in Frankreich gedämpft worden. »Schon sprechen die französischen Blätter wieder von Elsaß-Lothringen. Transvaal sei nicht geeignet, die Aufmerksamkeit Frankreichs von Elsaß-Lothringen abzulenken - diese Meldung ließ das französische Außenministerium im »Temps« lancieren. Und auch Hohenlohe stellte fest: »Frankreich ordnet alle Fragen der einen Revancheidee unter.«
So blieb als Ergebnis der Krise ein Anwachsen der deutsch-englischen Entfremdung. Wenn man in Berlin geglaubt hatte, das isolierte England mit Krüger-Depesche und Kontinentalliga in den Dreibund »hineinzuschrecken«, so erwies sich dies als eine völlige Fehlspekulation. Im Gegenteil wurden Tendenzen geweckt, die später mit zur »Einkreisung« Deutschlands führen sollten. In der »Times« und der »Daily Mail« wurde bereits eine Revision des Frankfurter Friedens von 1871 angeregt, und in der englischen wie in der französischen Presse tauchte der Gedanke einer »entente cordiale« auf. Im Scherz erwähnte selbst Salisbury dem deutschen Botschafter in London gegenüber diese Kombination. Dazu stellte England in aller Eile am 8. Januar ein fliegendes Geschwader zusammen, und dem deutschen Auswärtigen Amt wurde sogar berichtet, daß es in Kopenhagen und Japan angefragt hätte, wie sich diese Mächte im Falle eines Krieges mit Deutschland verhalten würden. Insgesamt war also die »Krüger-Telegramm-Politik« ein vollständiger Mißerfolg gewesen, und Holstein suchte in den folgenden zwei Jahren mit aller Macht wieder aus der »südafrikanischen Sackgasse«, wie er es nannte, herauszukommen.