Maistre, Joseph de

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Joseph Marie, Comte de Maistre (Lebensrune.png 1. April 1753 in Chambéry; Todesrune.png 26. Februar 1821 in Turin) war ein Staatsmann und savoyischer Schriftsteller.

Leben

De Maistre wurde als das älteste von zehn Kindern geboren. Sein Vater war Senatspräsident im Herzogtum Savoyen, das zum Königreich Sardinien gehörte. Er besuchte eine Jesuitenschule. 1788 wurde er zum Senator von Savoyen ernannt und war Mitglied des Senats am Gerichtshof.

1774 trat Joseph de Maistre der Freimaurerloge Trois mortiers in Chambéry bei und wechselte dann in die rektifizierte Schottische Maurerei von Willermoz in Lyon. 1779 war er Gründungsmitglied von Le collège particulier de Chambéry, dem er unter dem Pseudonym Josephus a Floribus angehörte.

Als die Franzosen Savoyen (Savoie) besetzten, ging er 1793 nach Lausanne. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde er als offizieller Repräsentant des Königreichs Sardinien nach St. Petersburg entsandt.

Reaktion auf die Französische Revolution

Joseph de Maistre ist zusammen mit Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald der Hauptvertreter der traditionalistischen Reaktion auf die Französische Revolution. Er stellte dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts den Glauben und göttlichen Gesetze gegenüber und zeigte in der Gesellschaft eine organische Realität auf.

De Maistre erwies sich als dezidierter Kritiker der Gesellschaftstheorie Jean-Jacques Rousseaus: Während Rousseau alle Formen sozialer Ungleichheit bemängelte und ein Verfechter der Idee der Volkssouveränität war, präsentierte sich de Maistre als Propagandist einer hierarchischen Sozialgliederung und Apologet einer göttlich legitimierten monarchischen Alleinherrschaft.

Nicht nur Rousseaus Thesen, sondern auch diejenigen der anderen „philosophes“ bildeten in seinen Augen die theoretische Grundlage für den Terror der Französischen Revolution. Für ihn war die „Terreur“ kein Betriebsunfall der Revolution, sondern deren logische Konsequenz. Wer die Freiheit und das Tugendideal der Gleichheit über alles stellt, muß demnach mit Notwendigkeit alles bekämpfen, was der Verwirklichung dieser Utopie widerspricht.

Wer die Freiheit zum obersten Gesetz der politischen Ordnung erklärt, muß alle Traditionen und sozialen Gefüge, die den Einzelnen tragen und prägen, unweigerlich in Frage stellen. Damit werden aber auch alle Fundamente zerstört, die sinnstiftend wirken und Stabilität garantieren. De Maistres Haupteinwand gegen die Verherrlichung der Freiheit bestand darin, daß er nicht glaubte, daß Freiheit glücklich macht. Er zitierte dafür einen namentlich nicht genannten Schweizer Philosophen, der über sein Land gesagt haben soll:

„In den demokratischen Staaten der Schweiz gibt es, wenn man die Intriganten, Stellungssucher, die nichtswürdigen, eingebildeten und schlechten Menschen, die Betrunkenen und Nichtstuer ausnimmt, in der ganzen Republik keinen einzigen glücklichen und zufriedenen Menschen.“

Demokratiekritik

Im übrigen, so mutmaßte de Maistre, ist in einer Demokratie niemals das Volk der Souverän, sondern das Geld. Und was den ideologischen Kitt anbelangt, hat man es dabei vor allem mit den Schwankungen der öffentlichen Meinung zu tun, die eine weit größere Rolle spielen als die von den „philosophes“ gepriesene Vernunft.

Zudem entscheidet sowieso nie der Einzelne, in welcher Staatsform er leben möchte. Selbst gewählt an den Staatsformen, in denen Menschen leben, ist in aller Regel so gut wie nichts. „Es existiert kein auf rein freiwilliger Gemeinschaft begründeter Staat“, heißt es in dem anti-rousseauistischen Traktat „Von der Souveränität“. Aus de Maistres Sicht wäre Demokratie allenfalls in einer überschaubaren Menge von Menschen denkbar. Was jedoch üblicherweise im Namen des Volkes geschieht, hat mit den vielen Einzelnen, die ihm angehören, meist reichlich wenig zu tun.

Demokratie funktioniert auch deshalb nicht nach wirklich demokratischen Prinzipien, weil „man in einer Republik nur in dem Maße zählt, wie Geburt, Verbindungen und große Talente uns Einfluß verleihen“. Was heißt: „Der einfache Bürger gilt in der Tat nichts“. Und deshalb sollte man Herrschaft auch als etwas Notwendiges bejahen, anstatt Gleichheits-Illusionen anzuhängen.

Denn Monarchien bilden nicht nur die ehrlicheren Herrschaftsformen, sie sind jeder Art von fadenscheiniger Demokratie auch zeitlos überlegen. Entsprechend besitzen auch die klare, straffe Organisation der katholischen Kirche und selbst despotische orientalische Machtverhältnisse gegenüber allen Versuchen, dem Volk vorzugaukeln, es könne mitreden, nur Vorteile, woraus de Maistre den Schluß zog, daß es mit der neuerlichen „Orakelherrschaft der Vernunft“ möglichst schnell wieder ein Ende haben mußte. „Der Haß gegen die Autorität ist die Plage unserer Tage, das Heilmittel gegen dieses Übel liegt nur in den heiligen Maximen, die man Euch vergessen gemacht hat. Archimedes wußte wohl, daß er einen Punkt außerhalb der Welt brauchte, um die Welt empor zu heben“, verkündete er und wies Gott und den König als unumgängliche Pfeiler einer jeden tragfähigen Ordnung aus.

De Maistre trauerte nicht nur dem Absolutismus, sondern auch der Inquisition nach und er bedauerte, daß man die Schriften der Aufklärer nicht verboten hat. Hätte die Zensur noch wie früher funktioniert, wäre es in seinen Augen so weit erst gar nicht gekommen. „Die französische Regierung“, erklärt er, „hat sich großen Schaden zugefügt, indem sie zu sehr die Augen vor solchen Ausschweifungen verschloß. Es hat sie den Thron und dem unglücklichen Ludwig XVI. das Leben gekostet. ‚Die Bücher haben alles bewirkt‘, sagt Voltaire. Ohne Zweifel, weil man die Bücher alles hat machen lassen.“

Den modernen Glauben an die Segnungen der Wissenschaften und der Künste hielt de Maistre ebenso für eine Narretei, da es seines Erachtens nicht darauf ankommt, daß ein Volk immer klüger und belesener wird und bei allem mitreden kann, sondern daß das Zusammenleben möglichst reibungslos funktioniert. Voltaire besaß für ihn etwas lächerliches, da „er glaubte, daß eine Nation, die kein Theater und kein Observatorium besitzt, nicht würdig sei, zu atmen“.

Die Geschichte habe jedoch bewiesen, daß wissenschaftliche Erkenntnisse, bedeutende Kunst und große Architektur keineswegs unter demokratischen Bedingungen zustande gekommen sind. „Die Künste brauchen im allgemeinen einen König. Sie erstrahlen nur unter dem Einfluß des Zepters“, heißt es in „Von der Souveränität“. In einer Demokratie, so de Maistres Argument, hätte es keinen Michelangelo gegeben, und wir besäßen dann auch nicht den Louvre und die Gärten von Versailles und auch nicht die vielen Opern, die ohne Rücksicht auf den Geschmack des Volkes für die Hoftheater entstanden sind.

In seinem Werk „Betrachtungen über Frankreich“ von 1796 (Considérations sur la France) schrieb er: „Ich bin kein Franzose, ich war nie einer und ich möchte auch keiner sein.“ Mit einem Land, das mit allen althergebrachten Ordnungen zu brechen versuchte und in dem während der Revolution ein Tugendterror gepredigt wurde, der zu Massenhinrichtungen führte, wollte er nichts mehr zu tun haben.

„An den Verheißungen der Utopie scheint alles bewundernswert und ist alles falsch; an den Feststellungen der Reaktionäre ist alles verabscheuenswert und scheint alles wahr“, bemerkte Emil Cioran in seiner 1957 erschienenen Abhandlung über de Maistre, die den Titel „Über das reaktionäre Denken“ trägt. De Maistre sei, so behauptet Cioran, „aufrichtig in das Paradox verliebt“ gewesen und es habe für ihn „die einzige Chance der Originalität nach einem ganzen Jahrhundert des Redens über Freiheit und Gleichheit darin bestanden, sich anderer Fiktionen zu bemächtigen“, nämlich „jener der Autorität“, um sich damit „auf eine andere Weise zu verirren“.

Joseph de Maistre gilt als einer der Väter der Soziologie. Er war ein Vordenker des Ultramontanismus und der Unfehlbarkeit des Papstes. Seine politischen und weltanschaulichen Positionen sind geprägt durch die Schriften von Edmund Burke. U. a. haben sich auch Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Isaiah Berlin und Aimé Césaire mit seinem Werk auseinandergesetzt.

Zitat

  • „Die Wiedererrichtung der Monarchie, die man Gegenrevolution nennt, wird keine gegenteilige Revolution sein, sondern das Gegenteil der Revolution.“[1]

Literatur und Schriften

Politische und philosophische Schriften

  • De la souveraineté du peuple
  • Lettres d'un royaliste savoisien à ses compatriotes
  • Les Soirées de Saint-Pétersbourg
  • Examen de la philosophie de Bacon
  • Considérations sur la France

In deutscher Übersetzung

  • Betrachtungen über Frankreich. Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen. Deutsch von Fr. von Oppeln-Bronikowski. Hrsg. von P. R. Rohden. Berlin, Hobbing, 1924
  • Abendstunden Zu St Petersbung Oder Gespräche Über Das Walten Der Göttlichen Vorsicht in Zeitlichen Dingen, Und Einem Anhang Über Die Opfer. 2 Bände. Frankfurt am Main 1824–1825 (Andreäische Buchhandlung)
  • Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung, hrsg. v. Jean J. Langendorf und Peter Weiß, Wien: Karolinger 2008 (ISBN 978-3-85418-128-6)
  • Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin: Kulturverl. Kadmos, 2002
  • Vom Papst. Ausgewählte Texte. Semele Verlag Berlin, 2007
  • Von der Gallicanischen Kirche in ihrem Verhältnisse zu dem Kirchen-Oberhaupte. Fortsetzung des Werkes Vom Papst. Frankfurt a.M. Andräische Buchhandlung 1823

Literatur

  • Frédéric Brahami: L’empire divin des préjuges. Joseph de Maistre contre l’esprit éclairé. in: Esprit. Août-septembre 2009, pp. 136–149
  • E. M. Cioran: Über das reaktionäre Denken. Zu Joseph de Maistre, in: ders.: Über das reaktionäre Denken, Band 643 der Bibliothek Suhrkamp, Erste Auflage 1980, 114 Seiten
  • Jens Peter Kutz: Gemeinwille oder Gotteswille? Jean-Jacques Rousseau und Joseph de Maistre über Souveränität und Staatlichkeit, Norderstedt 2008, 88 S., 2 Abb. ISBN 978-3-8370-2685-6
  • Richard Lebrun: Joseph de Maistre – an intellectual militant. Quebec 1988
  • Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin – de Maistre – Kleuker – Baader. Berlin 2004
  • Dijon de Monteton / Charles Philippe: Die Entzauberung des Gesellschaftsvertrags. Ein Vergleich der Anti-Sozial-Kontrakts-Theorien von Carl Ludwig von Haller und Joseph Graf de Maistre im Kontext der politischen Ideengeschichte, Frankfurt am Main et. al. 2007, 164 S., 2 Abb. ISBN 978-3-631-55538-5
  • Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader. Berlin: Akademie Verlag 2004

Fußnoten

  1. «Le rétablissement de la monarchie, qu'on appelle contre-révolution, ne sera point une révolution contraire, mais le contraire de la révolution.»