Abendbläue

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Buch

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Titel: Abendbläue
Untertitel: Die Typologie der Stunde Null
Autor: Björn Clemens
Erscheinungsjahr: 2010
Originalsprache: Deutsch
ISBN: 978-3941348738

Abendbläue - Die Typologie der Stunde Null ist ein Buch von Björn Clemens.

Über das Buch

Wenn Erschöpfung und Verfall ein System so weit getrieben haben, daß es in sämtlichen kulturellen und politischen Bereichen im toten Kreislauf seiner eigenen Paraphrasen erstickt, ist es als solches auf den Prüfstein zu stellen. Dies tut Björn Clemens in seinem Essay, einer Typologie der Stunde Null.

Aus dem Vorwort

Anders, als der Liberalismus behauptet, lebst Du nicht nur Dir, sondern auch Deiner Umwelt und der Gemeinschaft, in die Du gestellt bist. Und wo Du Dir lebst, ist es nicht nur Deinem Vergnügen, sondern auch Deiner Seele. Ihr aber hat der Liberalismus das Gefängnis des totalen Marktes errichtet. Es ist ein Markt der Vertrocknung. Er umgibt Dich, wo Du auch bist. Er ist ein Jahrmarkt im komplementären Sinne, der nicht einmal im Jahr stattfindet, sondern ganzjährig ohne Unterbrechung, ubiquitär. Sie bieten dort ihr süßes Gesöff feil, das Deinen Durst mit jedem Schluck größer werden läßt. Sie verkaufen ihre abgezogene Haut und feiern es mit einem kreischenden Lachen, sie nennen es Leben, weil sie zu dumm sind, zu erkennen, daß es der Tod ist, den sie anbeten. Und Dir wird klar: die Welt ist nur im Zynismus zu ertragen!

Quelle
Folgender Text ist eine Quellenwiedergabe. Unter Umständen können Rechtschreibfehler korrigiert oder kleinere inhaltliche Fehler kommentiert worden sein. Der Ursprung des Textes ist als Quellennachweis angegeben.

Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den Gedanken, die der Verfasser während des Jubiläumskongresses der Gesellschaft für Freie Publizistik am 30. Mai 2010 über sein Buch Abendbläue vorgetragen hat.
Das Buch Abendbläue besteht aus sechzig Kapiteln, die in sich abgeschlossen sind, aber durch einen roten gedanklichen Faden verbunden werden. Dabei handelt es sich um die seit 1945 herrschende Verneinungsmentalität, die sich in der Abkehr vom Gemeinschaftlichen, Religiösen, Staatlichen, Metaphysischen und Schöpferischen widerspiegelt. Sie wird >Mentalität der Stunde Null< genannt. Das Buch behandelt sie und die mit ihr einhergehende Typologie.

Stunde Null

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, ob der derzeitige Zustand Deutschlands, der neben ökonomischen und sozialpolitischen Schwierigkeiten unter anderem durch das vollkommene Fehlen nationaler Souveränität, geistiger Freiheit und patriotischen Denkens gekennzeichnet ist, im System der Stunde Null angelegt ist oder durch eine davon abweichende Systemstörung hervorgerufen ist. Die Konservative neigt dazu, sich an der zweiten Position festzuklammern. Sie reduziert die deutsche Misere allzugern auf die 68er Revolution, die sie als Bruch in der Nachkriegsentwicklung ausgibt und deren Rückgängigmachung das Heil ins Vaterland zurückbrächte. Solches Denken erspart das Aufgreifen grundsätzlicher Fragen, deren Beantwortung dazu führen könnte, sich von liebgewonnenen Ausreden, Halbheiten, Scheinlösungen und Ignoranzen zu befreien. Es ist ein Bildzeitungskonservativismus, der letztendlich denjenigen Kräften nützt, die den Status quo in der BRD etabliert haben. Möglicherweise ist derartige geistige Bequemlichkeit die Haltung, in der sich die deutsche Rechte, der Hans-Dietrich Sander schon 1980 bescheinigt hat, seit 1945 andauernd über die Zustände zu jammern, insbesondere, wenn sie sich bürgerlich nennt, am wohlsten fühlt. Sie gipfelt in solch wohlklingend demokratischen, faktisch aber verkürzten und neunmalklugen Sätzen eines Göttinger Schullehrers, wonach es gelte, den Kampf ums Grundgesetz, und nicht gegen das Grundgesetz zu führen. Die Verfassungsordnung halte er für gut. Die bezeichnende Reaktion eines Vertreters dieser Denkschule auf das Erscheinen der Abendbläue bestand in dem emotionalen Verriß des Buches durch Günter Zehm in der Jungen Freiheit, der seine Bewertung des ganzen Textes ausschließlich auf eine beiläufige Positivdarstellung der Person Rudi Dutschkes stützte.
Für eine authentische Analyse der Lage, von der inzwischen selbst Teile des Establishments erkannt haben, daß an ihrem Ende der Volkstod stehen könnte, greift das zu kurz. Es muß zumindest die Frage gestellt werden, ob nicht schon die Grundlegung selbst den Keim zu der Saat enthielt, die täglich mehr ihre faule Frucht bringt, an der Deutschland zugrunde zu gehen droht. Wer es tut, wird an überraschend vielen Stellen fündig. Er muß freilich den Beginn seiner Betrachtungen in die Jahre 1945 und 1946 vorverlegen, als die entscheidenden Weichenstellungen für das Nachkriegsdeutschland vorgenommen wurden. Als Ausgangspunkt haben die Nürnberger Prozesse zu gelten, in denen die deutsche Lebensführungsschuld zum Kern der pseudojuristischen Tatvorwürfe gemacht wurden. In besonderer Weise hat das der französische Anklagevertreter Francois de Menthon zum Ausdruck gebracht. So sagte er in seiner Eröffnungsrede vor dem internationalen Militärtribunal am 17. Januar 1946:
»Nietzsche zählt aber auch zu den Ahnen, auf die sich der Nationalsozialismus zu Recht beruft, weil er einerseits der erste war, der in zusammenhängender Form Kritik übte an den traditionellen Werten des Humanismus, und andererseits, weil seine Version von der Herrschaft über die Massen durch unumschränkte Herren des Naziregimes bereits ankündigte.. . Schon Fichtes Reden an die deutsche Nation, die den Wert des Germanentums übertreiben, stellten eine der Hauptideen des Pangermanismus in das vollste Licht, daß nämlich Deutschland die Welt denke und organisiere, wie sie gedacht und organisiert werden sollte.«
Nichts kennzeichnet die verkrümmte Geisteshaltung der Nachkriegsdeutschen besser als die freiwillige Übernahme solcher oder ähnlicher Denkschablonen. Als stellvertretend sei ein Ausschnitt aus der Göttinger Antrittsrede des Professors der Rechte Rudolf Smend vom Dezember 1945 zitiert:
»Das Dritte Reich ist nicht ganz von ungefähr über uns gekommen. Es fand gewisse Voraussetzungen seiner Entstehung und Geltung in einer heute gut zwei Menschenalter bestehenden Fehlentwicklung im deutschen politischen Denken vor...
Es ist eine innere Entfremdung des Menschen des deutschen 19. Jahrhunderts gegenüber der politischen Welt.. . von da an ist es nur ein ganz kurzer Weg zu dem verhängnisvollen Staatsdenken des Dritten Reichs. Von dieser Verirrung unseres Staatsdenkens, die also lange vor 1933 eingeleitet ist, müssen wir auf einen richtigeren Weg zurückfinden«. (d.V.)
Solche Aussagen stehen nicht isoliert, sondern stellvertretend. Friedrich Meinecke sprach von der »Deutschen Katastrophe«, Ernst Niekisch, der sich in der Zwischenkriegszeit als Mann des deutschen Widerstandes gegen die Repressionspolitik der Westmächte Verdienste erworben hatte, von der »deutschen Daseinsverfehlung«. Ob in Belletristik (Grass, Böll) oder Wissenschaft, die rote Linie des unterwürfigen Denkens, das in möglicherweise gutgemeinten Absetzbewegungen vom Nationalsozialismus das Deutschtum als solches negierte, wo sie es nicht beschmutzten, nahm 1945/46 ihren Ausgang. Es ist in der Philosophie nachzuzeichnen, die in der Frankfurter Schule und ihren Hauptvertretern Theodor Wiesengrund, Adorno und Max Horkheimer zu dezidiert antideutscher Ausprägung gefunden hat. Es ist in der Historiographie und Soziologie nachzuzeichnen, wo etwa mit einem Pamphlet Fritz Fischers 1961 oder mit der Habilitationsschrift Kurt Sontheimers aus dem Jahre 1962 die bösen Vorläufertendenzen des Dritten Reiches im Wilhelminismus und in der Weimarer Republik beklagt werden.
Weitere Beispiele könnten genannt werden, aus denen deutlich wird, daß die Verneinungshaltung in bezug auf das eigene Volk und die eigene Geschichte als allgemeines Phänomen bezeichnet werden muß, das seinen Exorzismus nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt, sondern Deutschland als solches dem Verdikt der Verderbtheit unterzieht. Sander hat es in seinem schon erwähnten Buch (S. 128ff.) für das Jahr 1918 nachgezeichnet und als Troeltsch-Affekt bezeichnet. Er faßt es in den Worten zusammen: »Im deutschen Geist fand eine nationale Selbstaufgabe auf breiter Front statt.«
Damit trifft er den Kern der deutschen Verhältnisse: Es ist die Freiwilligkeit der Übernahme des Feinddenkens, die von den nominalen Eliten, die weder sittliche noch geistige sind, ausgeht und heutzutage in Gestalt von Partywahn und Nationalmasochismus beim letzten anarchistischen Punker oder vaterlandsvergessenen Sektyuppie endet. Es ist ein Kern, der Erbärmlichkeit zur Blüte treibt. Er wurde lange vor 1968 in die deutsche Erde gelegt.
Seine spezifische Ausprägung gewinnt die Verneinungsmentalität in bezug auf die eigene Nation durch die Behauptung einer ontologischen Schuld des Deutschen, die, wie erwähnt, in den Nürnberger Prozessen justitiell verankert wurde. Dort wurde der Boden bereitet, der durch die bereitwillige Unterwerfung maßgeblicher Kräfte der Intelligenz weidlich ausgenutzt wurde. Die Ergebnisse zeigen sich in allen Bereichen, die bei einem mental gesunden Volk die Kultur ausmachen, von der Literatur bis zum Bauwesen. Das Buch weist deshalb zum Beispiel auf die gewollte Verweigerung des Erhabenen an bezeichnenden Beispielen auch der Nachkriegsarchitektur (man vergleiche den repräsentativen Bau des Reichsgerichts in Leipzig, wo heute das Bundesverwaltungsgericht residiert, mit dem betonierten Schuhkarton des Bundesverfassungsgerichts oder das Bonner Bundeskanzleramt mit dem Reichstag), bevorzugter Literaten usw. hin.
Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es wäre verfehlt, es in toto in Bausch und Bogen zu verdammen. Einige seiner zentralen und richtigen Anliegen werden von den derzeitigen Machthabern mit Füßen getreten. Genannt seien Meinungs- und Versammlungsfreiheit gemäß Art. 5 bzw. 8 GG, die im Sinne der Herrschaftsideologie faktisch abgeschafft oder durch Gesinnungsstrafrecht unterlaufen sind. Hier ist in der Tat Raum, die rechtsbrecherische Verfassungswirklichkeit der Gegenwart durch die Wiederannäherung der Zustände an die Verfassungstheorie des Jahres 1949 zu säubern. Manch jugendlicher Heißsporn täte gut daran, anzuerkennen, welch hohes Gut diesbezüglich im Grundgesetz versteckt ist. Das entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit einer differenzierten Analyse, die von den zersetzenden Elementen, die eben auch im Grundgesetz angelegt sind, Kenntnis nimmt. So ist dessen gesamte Struktur darauf zugeschnitten, den Staat in den alleinigen Dienst des Individuums zu stellen. Das läßt den Grundgesetzkommentator Hans Jarass zu der Einschätzung kommen:
»Der Staat und seine Ziele haben keinen Eigenwert, sondern ziehen ihre Berechtigung allein daraus, daß sie den Menschen konkret dienen. Darin liegt auch eine Abkehr von der Vergötterung des Staats und der Volksgemeinschaft, etwa in der deutschen Romantik.«
Faßt man das Staatsdenken des Dritten Reiches in der Formel »Du bist nichts, Dein Volk ist alles« zusammen, so wird man für die Bundesrepublik Deutschland zu dem Ergebnis kommen müssen: »Du bist alles, Dein Volk gibt es nicht«, und zwar, und das ist ein zentraler Punkt, aufgrund der korrekt ausgelegten Vorgaben des Grundgesetzes, und nicht aus seiner Mißachtung. Der heute, im Jahre 2010, überall anzutreffende Individualextremismus, der für so viele Mißstände verantwortlich ist, hat also seine Basis im Staatsverständnis des Grundgesetzes. Maschke formuliert unverblümt:
»So sind die Kämpfe um die Verfassung vor allem fremdbestimmte Kämpfe um die jeweils als Ideal angesehene Anpassung. Und deshalb ist die Verfassung das Gefängnis, dem es zu entrinnen gilt.« (Hervorhebungen im Original!)
Die 68er, um das oben genannte Politikum aufzugreifen, haben es lediglich in radikaler Form umgesetzt, begründet haben sie es nicht. Die Behauptung, bis 1968, als der Teufel kam, stand in der BRD alles zum besten, ist eine Illusion: 68 war kein Bruch, sondern ein Durchbruch.
Ausgehend von diesen Überlegungen, zeichnet das Buch Abendbläue in phänomenologischer Form die in der Stunde Null geborene und noch heute bestehende Mentalität des Bundesbürgers, der das Prädikat >deutsch< nicht verdient, auf. Der Versuch, die Geisteshaltung aufzuspüren, ist ein Novum in der politischen Literatur der deutschen Rechten. Da sie sich nicht messen oder an Statistiken ablesen läßt, bedingt die Form der Darstellung, hinter die Erscheinungen zu blicken, die gemäß des Platonschen Höhlengleichnisses nur die Abbilder des Urbildes sind. Genau das ist Kern der phänomenologischen Vorgehensweise. Der Leser wird deshalb weniger mit Faktenmaterial als mit Denkströmungen konfrontiert.
Somit kommt man zu bestimmten Typologien, die die Gegenwart der BRD prägen. Beispielhaft seien der Kapitulant (siehen oben: Übernahme des Feinddenkens), der Resignant, der Bürgerling, der Politiker, der Demopath usw. benannt. Daneben wird gezeigt, welcher Typus unter diesen Bedingungen entwertet oder ins gesellschaftliche Abseits gestellt wird (z.B. der Soldat). Nachdem in angemessenem Umfang auf die möglichen Liquidatoren (Der Fremde) eingegangen wird, beschreibt das Buch in dem Charakter des Revolutionärs die Gestalt, die eine Umkehr aus der Sackgasse bewirken kann. Als geistige Grundlage wird ein sich selbst bejahendes, in klarer Abgrenzung zum Judentum stehendes Christentum nahelegt. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß eine Nation ohne religiös-kulturellen Unterbau nicht existieren kann.

Ziffernmensch

Ein wesentlicher Vertreter der BRD-Gesellschaft, die somit entstand, ist der Ziffernmensch, jene Figur, die einem einseitigen, ökonomischen Liberalismus verhaftet ist. Er hat das Göttliche und das Übermaterielle aus seinem Leben gestrichen. Als Ausgangspunkt muß auch bei ihm die Stunde Null gelten, in der sich die vorbezeichnete Entsagung aller angeblich in zerstörerische Irrwege führenden Idealismen mit der von der Not bestimmten Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verband.
Als geradezu paradigmatisch kann man diesbezüglich das Buch Wohlstand für alle des ersten Wirtschaftsministers der Bundesrepublik, Ludwig Erhard, ansehen. Er bezeichnet das einzige und letzte Ziel einer radikalen Diesseitigkeit, die außer dem gefüllten Magen in jederlei Spielart nichts anerkennt und letzten Endes den Menschen zum Tier degradiert. Der Befund ist nicht neu, bereits Heraklit wußte:
»Wäre das Glück in leiblichen Lüsten zu finden, so hätten wir das Vieh glücklich zu nennen, wenn es Erbsen zu fressen findet.«
Charakteristisch für die Abendbläue ist, daß eine solche Erkenntnis nicht tabellarisch abgehandelt wird, sondern im laufenden Text durchgehend die Hinweise auf ihre Erscheinungsformen gibt. So findet sich der Ziffernmensch als zentraler Gedanke in mehreren Kapiteln, etwa in den Abschnitten »Das Kapital«, »Der Liberalismus«, »Der Westen«, »Verdurstung«, »Der Bürgerling« usw.
Dem System fehlt es nicht an Lautstärke, solchen Materialismus mit scheinideellen Theorien zu rechtfertigen oder zu bekränzen. Hierzu bedient es sich unter anderem des Kunstgriffes einer falsch verstandenen Menschenwürdedogmatik. Sie ist im Kern eine Anspruchslehre, die dem Einzelnen Leistungsrechte gegen die Allgemeinheit verschafft und in einem zerstörerischen Individualextremismus endet. An dieser Stelle wird die Rückkopplung zur bundesdeutschen Staatslehre deutlich. Denn wenn das Grundgesetz in seinen ersten 20 Artikeln definiert, was der Einzelne auf Basis der Grundrechtelehre von der Gemeinschaft zu fordern berechtigt ist, bevor es in Art. 20 GG überhaupt erst darauf zu sprechen kommt, daß diese Gemeinschaft ein Staat ist, ist einem inversen Rechtsdenken Tür und Tor geöffnet, in dem die Gemeinschaft für die Befriedigung der Lüste des Einzelnen herzuhalten hat. In dem Buch wird gezeigt, daß solches Gedankengut weder natürlich ist, noch sich auf Immanuel Kant zurückführen läßt, noch mit dem Begriff des Rechts übereinstimmt. Denn Recht kann sinnvollerweise nur im Gleichklang mit Pflichten und damit als Gemeinschaftskategorie verstanden werden. Wer die Gemeinschaft sprengt, beseitigt damit auch das Recht.
Das Anspruchsdenken zeitigt verschiedene Erscheinungen. So entspricht ihm im Gesellschaftlichen die Entpflichtung (Titel eines Kapitels) und im Politischen die Verheißung. Sie reduziert den Parlamentarismus zu einer Ansammlung von Wahlversprechen und zerstört seine Funktion als Raum der Suche nach der volonte generaie (dem Allgemeinen Willen) im Sinne Rousseaus.
Am Begriff der >Menschenwürde< läßt sich ein weiteres Phänomen bundesdeutscher Geisteskorruption aufzeigen. Sie besteht in einer Verkürzungslogik, die die allen Dingen innewohnende gedankliche Dialektik auflöst und sich in normativer Einseitigkeit eigenem Wunschdenken hingibt. So wäre, um ein annähernd vollständiges Bild >des Menschen< als kulturelles und sittliches Wesen zu erhalten, dem Begriff >Menschenwürde< der Komplementärbegriff der >Erbsünde< entgegenzustellen. Im Ausgleich dieser Prinzipien wäre vielleicht ein auskömmliches Menschen- und davon ableitbares Gesellschaftsbild zu erlangen. Was mittels Menschenwürde und durch sie hervorgerufenes Anspruchsdenken zu Schrankenlosigkeit und Hybris herausfordert, kann durch die Bewußtmachung von Fehlbarkeit und sündhafter Anmaßung ausgeglichen werden. Die Lustdogmatik entsagt sich solcher gedanklichen Vollständigkeit. Das allgemeine Prinzip, das hinter dem zu fordernden ganzheitlichen Denken steht, wird in dem Buch »dialektische Waage« genannt. In der BRD ist sie aus dem Gleichgewicht geraten.

Freiheitsbegriff

Aus dem Gesagten wird ersichtlich, daß die Gedanken zu Haltungen und Typen durch begriffliche Untersuchungen zu vervollständigen sind. Neben den schon erwähnten gehört dazu die Analyse eines der Hauptschlagwörter der Partygesellschaft, die sogenannte >Freiheit<. Es ist nicht schwer abzuleiten, daß sie darunter (wiederum in reduktionistischer Verleugnung dialektischer Grundsätze) eine Beschränkung auf ein bezugsloses Erlaubtsein versteht. So kann sie zu der aberwitzigen Bewertung gelangen, Freiheit bestehe in allen erdenkbaren Spielarten an Ausschweifungen. Drogenkonsum wird hierbei zum Unterfall von Freiheit, und folgerichtig steht der Apostel der Menschenwürde nicht hintan, von einem Recht zum Rausch zu sprechen. Wer jedoch von diesem Recht allzu sorglos Gebrauch macht, sieht sich bald der Abhängigkeit anheimgefallen, und sie ist der Gegensatz zur Freiheit. Im besonderen ist mit diesem Beispiel das liberalistische Paradoxon beschrieben, das wiederum ein Unterfall des allgemeinen reduktionistischen Paradoxons ist. Deshalb wird in der Abendbläue ein entmaterialisierter Freiheitsbegriff angeboten. In Anlehnung an Schopenhauer versteht er unter Freiheit die Fähigkeit, sich von den vegetativen Notwendigkeiten zu lösen und schöpferisch tätig zu werden. Schopenhauer benannte als Freiheit etwa die Möglichkeit, »durch völlige Entsagung den Begierden ihren Stachel zu brechen«.
Demnach ist frei, wer frei, innerlich frei von Gelüsten ist, und nicht, wer sie in höchstem Maße verwirklicht. Frei ist, wer die Zigarette nicht braucht, nicht derjenige, der sich ihren Konsum gewaltsam versagt. Solche Freiheit findet sich eher im Kloster als auf der Kirmes.
Die Ausdrucksweise des Buches lehnt sich an den literarischen Expressionismus an. Sie soll provozieren und Denkanstöße vermitteln - der Anspruch auf unbedingte Wahrheiten wird nicht erhoben. Es geht um Effekte, die ein Problembewußtsein schaffen sollen. Insofern kann auf differenzierende Abwägungen und zwanghafte Objektivierung verzichtet werden. Eine sachgerechte Aufnahme setzt indes voraus, daß der Leser die Fähigkeit zur distanzierten und ironischen Wahrnehmung besitzt. Wer sich mit der moralisierenden Durchschnittseinstellung eines Zeit-Lesers dem Text nähert, wird daran keine Freude haben. Das Werk hat einen streng formalen Aufbau. Neben den exakt sechzig Kapiteln finden sich sechs als Zwischenruf eingebaute Satiren. Durch Multiplikation erhält man die Zahl der Vollkommenheit und des Kreises: 360. Das erste Kapitel steht mit dem letzten in einer dialogischen Spannung: Von der Abendbläue führt der Bogen zum hohen Licht. Unterstrichen wird das von einem Eingangs- und einem Abschlußgedicht: »Verlornes Volk« -»Drehende Winde«. Um diese Form zu wahren, muß das Inhaltsverzeichnis hinten angefügt sein. Die Komposition und die bewußte Ausschöpfung der konstruktiven Vielfalt der deutschen Sprache und Grammatik, die beispielsweise den Rahmungszwang beachtet, unterstreicht, daß sich der Text nicht nur als Sachdarstellung, sondern auch als Kunstwerk versteht.
Mittlerweile gibt es erste Kommentare in der Publizistik, von denen derjenige Günther Zehms bereits erwähnt wurde. Karl Richter hob in der „Deutschen Stimme“ die Sprachmächtigkeit des Textes hervor. Die Nationalzeitung hielt es für angezeigt, der Abendbläue die angebliche Traditionslinie der BRD zu allem was »in der deutschen Geschichte groß und ehrwürdig gewesen ist«, vorzuhalten. Von den Tatsachen ist dieses Urteil leider nicht gedeckt. Vielmehr gibt es Aufschluß über das Selbstverständnis genau jenes Konservativen, der nicht bereit ist, die Systemfrage zu stellen und statt dessen ängstlich darum bemüht ist, seine Grundgesetztreue vorzuführen. Darüber hinaus fanden sich Besprechungen in der Aula, sowie im online-Magazin Blaue Narzisse™. Man kann leider nicht bei allen zu dem Ergebnis kommen, daß sie sich dem eigentlichen Thema gestellt hätten, bei manchen scheint das Bemühen allzu deutlich durch, die Besprechung als Anlaß zu nehmen, um den eigenen politischen Standpunkt ins rechte Licht zu setzen.
Es blieb bislang Hans Dietrich Sander vorbehalten, die philosophischen Ansätze in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen und in seinem Geleitwort angemessen zu würdigen. Dabei übt sich der Nestor der nationalen Publizistik nicht in Lobhudelei, sondern greift das wesentliche Anliegen der Abendbläue auf, die vorgetragenen Standpunkte als Denkanstöße zu behandeln. In diesem Sinne tritt er der historischen Bewertung Konrad Adenauers durch den Verfasser der Abendbläue entgegen und knüpft an seine aus dem Nationalen Imperativ bekannte positive Einschätzung des ersten Bundeskanzlers an. Für das Buch ist das eine Bereicherung, da der Leser auf diese Weise Gelegenheit bekommt, sich mit gegensätzlichen Argumenten auseinanderzusetzen.
Nachfolgend wird ein repräsentatives Kapitel abgedruckt.

Zweifel
Wir stolze Menschenkinder sind eitel
arme Sünder und wissen gar nicht
viel, wir spinnen Hirngespinste und
suchen ferne Künste und kommen
weiter von dem Ziel.

Matthias Claudius, Abendlied, 4. Strophe

Der Kluge zweifelt, der Dumme ist sich seiner selbst gewiß; an den Dummen stößt die ungetrübte Zuversicht zu sich selbst, die in diametralem Gegensatz zu ihrer mangelnden sittlichen Reife steht, noch mehr ab als ihre Dummheit. Aller Fortschritt der Erkenntnis verdankt sich aber dem Zweifel, nicht der Gewißheit. Der Zweifel begleitet den Kampf. Er gehört zu uns, wie der Schatten zum Licht, nagt in unserem Inneren und wird in der Nacht selbst von der gleichen Melancholie befallen, mit der er das Leben am Tage in ein schwarzviolettes Schimmerlicht versetzt. Zweifel am Sein, Zweifel am Zweifel. Woher kommt das Unbehagen, das uns bei der Betrachtung der Gegenwart befällt? Ist die eigene Unfähigkeit, am Geist der Zeit teilzuhaben, mitzuschwimmen im See immerwährender Heiterkeit, wie die Herde Carneval zu feiern und Gott einmal im Jahr im Museum zu besuchen, Ursache oder Folge der Angewidertheit? Oberflächlich gesehen, wären der Anlässe genügend, um skeptisch aufzuhorchen: Arbeitslosigkeit, Konjunkturschwäche, Erschütterung des Gesundheits- und Rentensystems, Staatsverschuldung und was dergleichen mehr an Krisengeläut erschallt, beherrschen die Nachrichten mit träger Regelmäßigkeit. Hin und wieder erhöhen Katastrophensensationen von der Art eines Tsunami in Asien oder eines Hochwassers in New Orleans den Unterhaltungswert der Nachrichten.
Der Taktstock der deutschen Schuldigkeit gibt den Rhythmus zur Musik. Die Herde verfolgt das Geschehen teilnahmslos. Aber das Krisengerede ist surreal. Der Niedergang traf nie den Kaufrausch, der sich unabhängig von der Jahreszeit in den Galerien und Konsumtempeln austobt, noch die automobile Ausstattung universitärer Parkplätze. Dort, wo der VW Golf zu den bescheideneren Fahrzeugen zählt, stellen Angehörige nicht werktätiger Volksschichten ihre Fahrzeuge ab, die sie vom Vater geschenkt bekamen. Angesichts dessen nehmen wir das Geheul der Hiobsbotschafter irritiert, wie durch eine Schablone des Unwirklichen zur Kenntnis. Es vermag dennoch einen ersten, etwas unsicheren Hinweis auf den Verfall zu geben, zeigt es doch die Kategorien des Ziffernmenschen an. Das abgestumpfte Nichtleiden, das die Alarmierungen begleitet, vertieft unser Mißtrauen. Es läßt uns mehr spüren, als daß es abzuleiten wäre, daß die Lautsprecher nicht das Eigentliche beschreiben. Es besteht ein seltsamer Kontrast zwischen einem gesellschaftlichen Bewußtsein, das nur Glanz und Glimmer kennt und den Verkündigungen der Tristesse, die wie das Murmeln des Radios im Hintergrund schwirren, das man als Geräusch wahrnimmt, aber nicht beachtet. Wird man anschließend gefragt, welches Programm gesendet wurde, reagiert man mit Achselzucken auf den verhallten Schall. Immerwährende Worthülsen zu den Nöten des Tages, die gleichsam das Begleitprogramm wie auch vorgebliches Hauptproblem abgeben, Geschwüre, die weder heilen, noch töten. Die Selbstdefinition der Gesellschaft freier Bürger ist davon unberührt. Jung, dynamisch, erfolgreich feiert sich der weltoffene, tolerante Demopath, stilbewußt und gutgelaunt von der Kirmes zum Ereignis, vom Schützenfest zum Carneval, während nebenan der Kadaver verfault. Aber er stinkt nicht, denn das Blut wahren Lebens wurde lange durch das Formalin des Scheins ersetzt. Er wirkt daher nicht furchtbar, sondern furchtbar belustigend. Für die Herde der Gutgelaunten ist er noch eine Attraktion.
Die Bipolarität in der Gesellschaft des liberalen Individuums reicht von Gebrechen, die nicht schmerzen, bis zu Wollüstigkeiten, die nicht erfüllen. Das sittliche Nichts erscheint im Gewände materieller Üppigkeit. Auf politischem Gebiet ist es dem Liberalkapitalismus, namentlich in Deutschland, gelungen, den Zusammenhang zwischen politischer Entmannung und ökonomischer Schwäche, der sowohl nach 1806 als auch nach 1918 das Bewußtsein für die Erbärmlichkeit des Zustandes wach hielt, aufzubrechen. Daher sonnt sich die Herde und fragt nicht. An die Theken der Altstadt, auf den Rummelplatz können sie doch alle gehen. Die Bank, die jede Schuld kreditiert, findet sich nach wie vor, genau wie die Prognose kluger Leute, die den Aufschwung ankündigt, das süße Pulver, das die Bitterkeit verdrängt. Sollten nicht auch wir das Denken einstellen und mitmarschieren? Allein, uns behagt das Bild nicht, ahnend, daß der Trickspiegel der Verhältnisse trübe geworden ist. Die Allgegenwart der Stumpfheit frißt sich wie fröstelnde Kälte durchs Gemäuer. Wir können nicht übersehen, daß im Unterleib das Geschwür wächst. Wir wissen, daß Entwarnung nicht deshalb am Platze ist, weil es noch nicht weh tut. Uns ist bewußt, daß gerade darin seine heimtückische Gefährlichkeit liegt. Es wird der Zeitpunkt kommen, da kein Morphium über diese Wirklichkeit hinwegtäuschen kann. Dennoch bezweifeln wir in regelmäßigen Abständen unsere Empfindungen und argwöhnen das Signal eines Phantomschmerzes. Denn wir sind Außenseiter. Der neunmalklugen Ratgeber fehlt es nicht, die uns in guter Absicht auf den Pfad der Vernunft retten möchten. Doch wir spüren in ihren Bedenken die Sprechblasen der Oberfläche und die Anweisungen der Regisseure. Sie huldigen ihrer eigenen Rechthaberei; für die Schreie aus dem Untergrund sind ihre Ohren nicht empfänglich. Der wahren Begleiter sind wenige. Wir kreuzen ihre Wege vielleicht nur, um grausam zu spüren, daß es kein Wiedersehen gibt. Die Diaspora lädt nicht ein zum Verweilen. Die nächtliche Lagerstatt kennt zu oft nur das Heulen des Wolfes als Echo. Wir wissen nicht, ob eines Tages irgendwo irgendwann ein Mensch uns die liebende Hand reicht. Und wir können uns nicht auf diese vage Hoffnung einlassen. Unserer harren Aufgaben, die von uns das Opfer der Einsamkeit verlangen. Wir haben sie uns selbst gestellt, oder, besser gesagt, wir haben uns ihnen gestellt, weil ihr eindringlicher, aber stiller Ruf das in uns erreichte, was der Geist der nullten Stunde in der Herde abzutöten wußte. Im Grauen des Morgens greifen wir wieder alleine nach der Fahne, die wir nicht dem Staube überlassen können. Wer kann wissen, ob dereinst allein der Regen an unserem Grabe weinen wird? Wohl dem, der Gott an seiner Seite weiß.
Die nicht vorhandene Substanz, die der Grelle der Einflüsterungen entspricht, folgt aus der Müdigkeit des Republikanismus. Die Entkoppelung des Öffentlichen vom Privaten ist bis zum Äußersten gedrungen. Der entwurzelte Ziffernmensch leidet nicht unter der Sintflut, die über die Mauern der Gemeinschaft hineinbricht. Man geht nicht nur nicht mehr auf die Straße, es sei denn, um dem Aufruf der Regierung Folge zu leisten, beim Aufstand der Anständigen seine gute Gesinnung zur Schau zu stellen. Vielmehr interessiert man sich nicht mehr, man nimmt nicht teil, in Deutschlands Altwesten besonders wenig. Seine Schmierschicht wurde nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht mit beflissenem Eifer über das Restgebiet zwischen Werra und Oder gezogen, um auch dort die Kräfte des Geistes zum Erlahmen zu bringen. Der mündige Bürger hat die Lust an der Sprache verloren. Propaganda bestimmt sein Leben und seine Wahrnehmungen. Darstellungen ersetzten Dargestelltes. Seine Realität verschwendet längst keine Kraft an den Gedanken mehr. Nach 1968, so scheint es, haben sich die Kräfte des politischen Gestaltungswillens in den Kundgebungen der Anti-Atomkraftbewegung der siebziger und der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre des 20. Jahrhunderts endgültig verbraucht. Der letzte Idealist steht verständnislos vor der Einebnung und sieht sich oft hoffnungslos zerrissen zwischen der Aussicht der vergeblichen Aktion, die wie für die Sackgasse geschaffen zu sein scheint und der Entsagung seines Glaubens, die ihm nichts als die Schlacke der inneren Ausbrennung zu bieten hätte.
Zwischen diesen Alternativen der Pest droht er zerrieben zu werden. Das Fanal von 1989 strich ungehört vorüber. Der Aufbruch der Verkrustung, der ein Ausbruch aus der Lethargie gewesen wäre, fand nicht statt. Die Erhebung war ein Ereignis des Ostens, das zwar die Mauer zum Sturz bringen, sie aber nicht überschreiten konnte. Die Auffangstellung des Liberalismus erwies sich wirkungsvoller, als zu vermuten war. Wie die Buhnen brach sie den Schwung, der eine Revolution hätte auslösen können. Das gilt nicht nur für die Wiedervereinigung des geschrumpften Restdeutschlandes, zu der der Beitrag des mündigen Bürgers im freien Westen sich in der Einschaltung des Fernsehers und der widerstandslosen Hinnahme des Solidaritätszuschlags erschöpfte. Auch die Implosion der großen Verheißung des Sozialismus erregte kaum mehr als Achselzucken. Neugier, nicht Teilnahme ist die Geisteshaltung, die hier pars pro toto hervortrat. Veröffentlichte Empörung ist seitdem allenthalben an die Stelle gestaltender Kraftentfaltung getreten. Energien wurden nicht freigesetzt, große Entwürfe suchte man vergebens. Selten dürfte ein historischer Umbruch dieser Art auf geschichtslosere Nichtphantasie gestoßen sein, als sie sich in dem peinlichen Geschacher um die Entschädigungszahlen für eine rheinische Provinzstadt offenbarte, die ihrer provisorischen Funktion als Regierungssitz entsagen mußte, wie es das Grundgesetz der bunten Republik vorschrieb. Das Geschrei der angeblich zu kurz Gekommenen war dabei noch das Verständliche. Der Mensch gewöhnt sich gerne auch an den unrechtmäßigen Besitz. Alarmierend war, daß man ihm Gehör schenkte. Der Politikertypus des freien Liberalismus bewies, daß er nicht in der Lage ist, anders zu handeln, als zur Abwehr des Genörgeis, welches sich in Deutschland auf hohem Niveau erhebt.
Anstelle einer mentalen Wiedergeburt des Abendlandes schien das Jahr 1989 den endgültigen Triumph der westlichen Weltanschauung gebracht zu haben. Die Trompete der Berufswestler besang mit Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Nach dem Verschwinden des Feindes triumphierte indes nicht die eigene Lehre, sondern die eigene Leere. »Woher?« und »wohin?« lauten die Fragen, die sich aufdrängen: Woher kommt das vegetative Siechen bei prall gefülltem Kühlschrank, und wohin führt es? Abgesehen von der inneren Widersprüchlichkeit des Liberalkapitalismus, ist es der Appell selbst, den zu verachten wir gelernt haben: der allumfassende Kampfruf, die ewige Parole »Freizeit, Geilheit, Liederlichkeit« klingt so abgeschmackt, daß sie für uns nicht als die große Verheißung, sondern die große Entseelung in Betracht zu ziehen ist. »Wo ist das Problem?« versucht uns der Heiterkeitsliberale zu entwaffnen. »Kann das alles sein?« halten wir ihm entgegen. Wir mögen uns nicht damit begnügen, zu fressen wie das Vieh und damit eventuell noch von der Maschine, aber nicht mehr vom Tier verschieden zu sein. Somit wird der Zweifel zur Gewißheit. Hier redet Abgestorbenes, ist Faulung im Wesen. Bei der Betrachtung der menschenähnlichen Prägungen des Systems geht der Zweifel in Ekel über. Die lebenden Leichen des Liberalismus grinsen aus ihren Einheitsgesichtern. Sittliches Proletariat begegnet uns auf Schritt und Tritt. Der schlanke Sportyuppi mit dem Sektkelch, den Schminke und Salben am Altern hindern, wenn Kraftstudio und Sonnenbank nicht mehr dazu taugen, hebt sich prinzipiell nicht von dem aus seinen Poren schwitzenden, pöbelnden Bauch, der mit verständnislosem Blick und fettigen Fingern den Schnellimbiß in sich einführt, ab. Der Spießgeselle, dessen heile Welt seines gepflegten Rasens nicht durch den Straßenterror in der Nachbarstadt getrübt wird und der den Fremden mißtrauisch nur daraufhin überprüft, ob das Radio seines Autos nicht zu laut dröhnt und das Fahrzeug selbst nicht vorschriftswidrig den Gehweg blockiert, ist nicht besser als der tatoowierte Brüllant, der mit streitsüchtigem Blick das schmuckvergoldete Handgelenk aus den Fenstern seines tiefergelegten Sportwagens hängen läßt.
Ihnen allen, deren charakterliche Bedürfnislosigkeit sich dialektisch von der fehlenden Bescheidenheit ihres Auftretens abhebt, haben wir nur Verachtung im Gepäck. Nicht diesen verkrüppelten Seelen gilt unser Kampf; vielmehr wird er ihnen angesagt. Nicht ihre Rettung ist angestrebt, sondern ihre Beseitigung oder, da dies ein frommer Wunsch bleiben wird, ihre Unschädlichmachung. Wahrlich: Der menschliche Restbestand, der die nullte Stunde überdauerte, unterscheidet sich nicht vom architektonischen. Wir müssen unsere Blicke in die höhere Welt erheben, die einmal vorhanden war. Unsere Pflicht gilt tausend Jahren Erschaffung, gilt hunderten Generationen, die wirkten, bauten, veredelten, erkämpften, verteidigten. Vor der geschichtlichen Größe stehen wir mit Ehrfurcht. Ihr Auftrag ist uns Verpflichtung. Was aus der Vergangenheit zu uns herüberstrahlt, ist zu erhaben, um es tatenlos dem Untergange preiszugeben. Die Flamme der Idee gilt es, vor dem Verlöschen zu bewahren. Diesen Auftrag kann kein Zweifel zerstreuen, diese Pflicht trägt uns Tag für Tag durch die Anfechtung. Dabei gilt kein Lamentieren, kein Stöhnen und kein Rechnen. Jammern füllt keine Kammern. Die Machthaber scheinen sicher im Sattel zu sitzen, doch sie bemerken nicht, daß es der eines Schaukelpferdes ist. Unser Kampf vollzieht sich davon unabhängig auf der Stelle, auf die wir gestellt sind. Der kleinste Beitrag ist wertvoll, keiner wird umsonst erbracht. Denn selbst, wenn wir wüßten, daß morgen die Welt unterginge, so würden wir heute noch ein Bäumchen pflanzen. Die Zeit wird erweisen, ob daraus noch einmal eine deutsche Eiche erwächst. www.abendblaeue.de

Quelle: Gesellschaft für freie Publizistik: „Die Deutschen - bevormundet und entsouveränisiert“ (Kongress-Protokoll 2010), Band XXV, Grabert-Verlag Tübingen 2010, ISBN 978-3-87847-262-9


Verweise