Grosser, Alfred

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Dr. Alfred Grosser (2007)

Alfred Grosser (Lebensrune.png 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main) ist ein jüdischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler.

Werdegang

Grosser, 1975
Grosser, 1982
Alfred Grosser1.JPG

Herkunft

Alfred Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt/Main geboren. Seine Eltern und Großeltern waren Juden. Vater Paul Grosser, Sozialdemokrat, Freimaurer und Träger des Eisernen Kreuzes für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg, war Professor für Kinderheilkunde (→ Medizin) und Leiter eines Frankfurter Kinderkrankenhaus, das er nach der arischen Umstellung verlassen mußte.

1933 zog die Familie nach Frankreich, wo der Vater nach wenigen Monaten starb. Grossers Mutter Lily, geb. Rosenthal (Lebensrune.png 1894; Todesrune.png 1968), erwarb 1937 mit ihren Kindern die französische Staatsangehörigkeit und war u. a. hauptamtliche Sekretärin des „Französischen Komitees für Austausch mit dem neuen Deutschland“ (1948-1967). Grossers Schwester starb 1941 in Südfrankreich.[1]

Ausbildung

Alfred Grosser besuchte die Grundschule und das Gymnasium von Saint-Germain-en-Laye und studierte dann an den philosophischen Fakultäten von Aix-en-Provence und in Paris Politik und Germanistik. Er schloß das Studium als Agrégé de l'Université ab und promovierte zum Docteur ès lettres et sciences humaines (= Dr. habil.).

Wirken

Im Krieg war er für die verbrecherische Résistance aktiv. 1945 wirkte er als Pressezensor des Militärs in Massilien.

Alfred Grosser war ab 1955 Inhaber eines Lehrstuhls am Institut d'études politiques de Paris (Sciences Po) in Paris. 1992 wurde er als Studien- und Forschungsdirektor an der „Fondation Nationale des Sciences Politiques“ emeritiert.

Ab 1965 war Grosser Mitarbeiter bei zahlreichen Zeitungen und Fernsehanstalten, er zählte zu den führenden Umerziehern im Sinne der Sieger.[2] Unter anderem schrieb er politische Kolumnen für La Croix und Ouest-France. 1975 erhielt er dafür den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.[3] Allerdings gehört Grosser zu den prominenten Juden, die im Gegensatz zu bundesrepublikanischen Radikal-Umerziehern zur Mäßigung im Umgang mit den Deutschen raten. So rief er in seinem in den 1990er Jahren erschienenen Buch „Ermordung der Menschheit. Der Genozid im Gedächtnis der Völker" in Erinnerung, was er schon 1947 geschrieben hatte: „Der junge Deutsche betrachtet sich nicht als verantwortlich für die wahnsinnigen Verbrechen des Hitlerregimes. Damit hat er recht. Für die Kinder und Jugendlichen gibt es keine kollektive Verantwortung.“

Neben Joseph Rovan (1918-2004) ist Grosser wohl der wichtigste französische Intellektuelle jüdischer Herkunft, der sich seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart mittels Aufklärungsarbeit für ein besseres Verständnis zwischen Franzosen und Deutschen und damit für die deutsch-französische Verständigung engagierte.

U. a. aus Protest gegen die aus seiner Sicht unausgewogene Nahost-Berichterstattung verließ der Publizist im Jahr 2003 den Aufsichtsrat des französischen Magazins L'Express.

Die Chefredaktion hatte nur zögernd meine positive Rezension eines israel-kritischen Buches veröffentlicht. In der folgenden Nummer druckte man einen Sturm Leserbriefe, die mich beschimpften.[4]

Grosser ist bekannt als Kritiker der israelischen sowie zum Teil auch der französischen Regierungspolitik. Einige Kritiker weisen daher darauf hin, daß er gern von antiisraelischen, oft linken Kreisen als guter jüdischer Zeuge für ihre antiisraelische Politik zitiert werde. Andere bemerken, daß man die israelische Politik nicht kritisieren dürfe, ohne als antiisraelisch oder gar antisemitisch bezeichnet zu werden.

Seit Mitte Mai 2006 heißt die ehemalige Kooperative Gesamtschule Bad Bergzabern Alfred-Grosser-Schulzentrum. Die kontroverse Diskussion um die Namensgebung bezeichnete Grosser selbst als „wahrhaft demokratischen Prozeß“.

Alfred Grosser am 9. November 2010 in der Frankfurter Paulskirche; „Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser mahnte zwar in seiner Rede, das Leid der Palästinenser nicht zu vergessen, verzichtete aber auf Attacken gegen Israel. Auch der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, der Grosser vor Tagen Hass gegen Israel vorgeworfen und als Redner eine Fehlbesetzung genannt hatte, hielt eine eher nachdenkliche Rede. Anschließend reichten sich beide Kontrahenten die Hände. […] Grosser wiederum sprach über die demokratische Entwicklung Deutschlands nach dem Krieg und lehnte den Begriff der Kollektivschuld entschieden ab. Gegen Ende seiner Rede verteidigte er in milden Worten seine kritische Haltung zu Israel, das er zur westlichen Gemeinschaft zähle. Wer Werte vermitteln wolle, müsse sie aber auch vorleben. Grosser erwähnte die Palästinenser und sagte, man müsse immer auch an das Leid der anderen zu denken, sei wichtiger für den Frieden als Waffen, fügte der 85-Jährige hinzu.“[5]

Positionen

  • Der Publizierende jüdische Politologe Alfred Grosser sagt:
Deutschland muß Israel kritisieren dürfen. Aus Angst, als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, ignoriert der Westen das Leid der Palästinenser.“ Enttäuscht habe ihn vor allem Merkels Rede vor der Knesset. Ich hatte gehofft, sie würde Israel kritisieren. Sie hat in ihrer Rede Israel aber nur unterstützt. Sie sprach nur von den Raketen, die von Gaza aus auf Israel geschossen werden. Sie sprach nicht vom Hunger in Gaza, nicht von der furchtbaren Repression. Sie sprach nicht von all dem, was Israel anders machen müsste, damit es endlich Frieden geben kann. Israel verachtet die Würde der Palästinenser. Das ist gut, oder das ist schlecht - im Namen der deutschen Schuld.“[7]
Pfeil 3 siehe auch.pngSiehe auch: Existenzrecht Israels
  • Alfred Grosser erklärte im Juli 2010, es sei zu hoffen, daß die multikulturelle Mannschaft (Fußball-Weltmeisterschaft 2010) den Menschen in Deutschland endlich klarmache, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sei. Das habe man lange vergeblich versucht, zu erklären. Dabei sei die Migration für Deutschland eine große Chance. [8]
  • „Es ist nach wie vor so, daß sich Deutsche zu allem Möglichen kritisch äußern dürfen, aber nicht zu Israel. [...] In diesem Punkt stehe ich hinter Martin Walsers Kritik an der Auschwitz-Keule. Ja, ich sehe diese Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen Israel sagen. Tun sie es trotzdem, sagt die Keule sofort: ‚Ich schlage dich mit Auschwitz.’ Ich finde das unerträglich.“

Zitate

  • Beide Eltern und die vier Großeltern waren Juden, mein Vater Kinderarzt, Professor an der Universität, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse wegen Kriegseinsatz von 1914 bis 1918, Freimaurer, aber Hitler reduzierte seine Identität auf die jüdische.
  • Bei Kriegsende fühlte ich mich verpflichtet – gerade weil ich ein Überlebender war – am demokratischen Wiederaufbau des besiegten Deutschlands teilzunehmen. Nicht im Sinne einer „deutsch-französischen Versöhnung“. Als ich 1947 als französischer Journalist meine Geburtsstadt besuchte, interviewte ich den Oberbürgermeister Walter Kolb. Er war ehemaliger Buchenwald-Häftling. Ich hatte mich nicht mit ihm zu „versöhnen“. Wir hatten eine gemeinsame Verantwortung für die deutsche Zukunft.
  • Die Distanznahme zu sich selbst und zu den eigenen sozialen Bedingungen und Zugehörigkeiten ist für mich die wichtigste Bildung. Und die ist natürlich am schwersten durchzusetzen.
  • Der eigentliche Skandal – und da bin ich ganz sicher, daß es ungerecht ist – besteht in der Lohnverteilung. Vor zehn bis fünfzehn Jahren verdiente die Spitze eines Großbetriebs ungefähr zwanzig mal mehr als der Durchschnitt. Heute verdient sie 200 mal mehr, auch wenn währenddessen Tausende von Leuten entlassen werden.
  • Deutsche sind Meister des Selbstmitleids, Franzosen Meister der Selbstüberschätzung.
  • „Wenn man [Israel] kritisiert, dann sagt jemand ‚Auschwitz’ - und der andere muß schweigen. Da wird die Keule der Vergangenheit herausgeholt. Wenn jede Kritik an Israel ‎Antisemitismus ist, dann bin ich auch Antisemit, obwohl ich ja ein reiner Jude bin.“ — Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser warf Israel Erpressung vor[9]

Auszeichnungen (Auszug)

Grosser wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt. So erhielt er unter anderem das Große Verdienstkreuz mit Stern, 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente“, 1996 den Schillerpreis der Stadt Mannheim und 2004 für seine Verdienste um die Vielfalt des Judentums und den Pluralismus den Abraham-Geiger-Preis (10.000 Euro dotiert, Preisgeld muß an das Judentum gespendet werden).

  • 1978 Theodor-Heuss-Medaille
  • 1994 Schillerpreis der Stadt Mannheim
  • 1994: Wartburgpreis, für herausragende Verdienste um die europäische Einigung (5.000 Euro dotiert)
  • 1995 Cicero Rednerpreis[10]
  • 1998 Grand Prix de l'Académie des Sciences morales et politiques
  • 2002 Humanismuspreis des Deutschen Altphilologenverbands
  • 2004 Abraham Geiger Preis des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam
  • Großes Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband
  • Grand Officier de la Légion d'Honneur (Großoffizierskreuz der französischen Ehrenlegion).

Werke (Auswahl)

  • Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, 1970
  • Das Bündnis, 1981
  • Versuchte Beeinflussung, 1981
  • Der schmale Grat der Freiheit, 1981
  • Das Deutschland im Westen, Carl Hanser Verlag, München 1985, ISBN 3-446-12619-8
  • Frankreich und seine Außenpolitik, 1986
  • Mit Deutschen streiten, 1987
  • Mein Deutschland, 1993
  • Deutschland in Europa, 1998
  • Was ich denke., November 2000
  • Wie anders sind die Deutschen?, 2002
  • Wie anders ist Frankreich, 2005
  • Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen, September 2005
  • Der Begriff Rache ist mir völlig fremd in: Martin Doerry (Hg): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust DVA, München 2006 ISBN 3-421-04207-1 (auch als CD) S. 120 - 129

Literatur

  • Martin Strickmann: L´Allemagne nouvelle contre l´Allemagne éternelle: Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950. Diskurse, Initiativen, Biografien. Frankfurt a. M. [u.a.] 2004, ISBN 3-631-52195-2

Verweise

Fußnoten

  1. Internationales Biographisches Archiv 02/2010
  2. Buch von David Korn - Wer ist wer im Judentum? - FZ-Verlag ISBN 3-924309-63-9
  3. Text der Rede von Paul Frank
  4. Internationale Politik: Warum ich Israel kritisiere, internationalepolitik.de, Februar 2007
  5. Grosser bekräftigt Kritik an Israel, Der Tagesspiegel, 9. November 2010
  6. taz.de, 03. Februar 2007: Falsche Wahl: Henryk M. Broder hat den Börne-Preis nicht verdient
  7. netzeitung.de, 28. März 2008: Jüdischer Publizist im Interview: «Deutschland muss Israel kritisieren dürfen»
  8. Deutschlandradio Kultur, 5. Juli 2010: Grosser: Angela Merkel kann vom Fußball lernen
  9. „Schwäbischen Zeitung“ am 26. Juli 2014
  10. Netzpräsenz vom Cicero Rednerpreis