Endkampf um Königsberg
Der Endkampf um Königsberg begann am 21. Januar 1945. Kommandant, später Kampfkommandant der Stadt und Festung, die schon in den Nächten vom 26. zum 27. August 1944 sowie vom 29. zum 30. August 1944 von Terrorfliegern der Royal Air Force stark zerstört wurde, war General der Infanterie Otto Lasch. Chef des Volkssturms im Gau Ostpreußen war Erich Koch. Die Kapitulation erfolgte am 9. April 1945, wobei die am 13. Januar 1945 begonnen Schlacht um Ostpreußen noch bis zum 25. April 1945 andauerte.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Am 25. Januar 1945 wurde das eingeschlossene Königsberg zur Festung erklärt. Mit drei teilweise stark dezimierte und ausblutete Divisionen des Generalkommandos LXVI. Armee-Korps sollte General der Infanterie Lasch sie gegen 36 Divisionen des Gegners verteidigen. Am 31. Januar 1945 kesselte die Rote Armee Königsberg endgültig ein.
Am 18. März wurde die pommersche Festung Kolberg von der Roten Armee erobert. Das östlich von Kolberg eingeschlossene Danzig kapitulierte am 30. März. Am 6. April 1945 begann der sowjet-bolschewistische Sturm auf Königsberg. Nach heldenhaftem Kampf kapitulierte die Stadt unter ihrem Kommandanten General der Infanterie Otto Lasch am 9. April 1945.
Ostpreußisches Tagebuch
9. April 1945
Morgens gegen fünf Uhr wache ich auf von Stimmengewirr und hastigen Schritten vor meiner Tür. Ich wecke Doktora [Anm.: Junge Assistenzärztinund aus Königsberg] bitte sie, sich fertigzumachen. „Was ist?“ fragt sie schlaftrunken. „Ich nehme an, die Russen sind da, will schnell einmal nachsehn.“ „Die Russen? – Ach, kommen die jetzt? Ich hatte sie schon ganz vergessen.“ „Was ist zu machen“, sage ich, „du hast es ja selbst nicht anders gewollt.“ Sie nickt mir zu. Ich ziehe meinen weißen Kittel über und trete auf den Gang hinaus.
Czernecki, mein ukrainischer Assistent, kommt mich schon holen zum Empfang der Russen. Die Kranken, an denen ich vorüberkomme, recken die Hälse:
- „Zwei sind schon durchgelaufen und haben uns die Uhren weggenommen, und die Wally hat schon eins abgekriegt.“
Wally, die beherzte kleine Russin, liegt mit blutüberströmtem Gesicht zwischen den Kranken am Boden und rührt sich nicht. Der Russe hat sie, als sie ihm in den Weg trat, am Schopf gepackt und mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen. Der Oberkiefer ist gebrochen, mehrere Zähne sind ausgeschlagen. Sie ist bei Bewußtsein, gibt aber keinen Laut von sich.
Am Haupthaus stehen zwei Russen und wühlen in einem Koffer. Ihr Anblick hat etwas Bestürzendes. Ich komme mir vor wie jemand, der auf die Bärenjagd gegangen ist und seine Waffe vergessen hat. Wir gehen auf sie zu, worauf sie von dem Koffer ablassen und sich für uns interessieren. Die Mündung der Maschinenpistole auf dem Leib, werden wir einer gründlichen Untersuchung gewürdigt. Ein Versuch meines Begleiters, sie anzusprechen, mißlingt. Sie reagieren nur mit kurzen knurrenden Lauten und setzen ihr Werk systematisch fort. Inzwischen kommen weitere Russen aus dem Hauptblock hervor, wie Schlittenpferde behängt mit den abenteuerlichsten Gegenständen. Auch sie beschnüffeln uns kurz, meine Füllfeder verschwindet, Geld und Papiere fliegen in der Gegend herum. Meine Schuhe sind ihnen zu schlecht. Dann hasten sie mit kurzbeinigen Schritten über Trümmer und durch Bombentrichter den anderen Häuserblocks zu, in deren Öffnungen sie untertauchen.
Im Haupthaus sind sie schon fleißig am Werk. Da ich immer wieder stehenbleiben und mich abtasten lassen muß, komme ich in den Gängen unseres Kellers nur wie durch ein Dickicht vorwärts. Aus allen Räumen dringen unterdrückte Protestlaute. Kranke werden aus den Betten gerollt, Verbände entfernt, hier und da größere Mengen Papier abgebrannt, um die Beleuchtung zu verbessern. Überall ist man schon verzweifelt am Löschen. Wir halten vergeblich Ausschau nach einem Offizier, denn wenn das so weitergeht, bleibt nicht viel von uns übrig.
In der Ambulanz wehren sich die jungen Schwestern gegen einige besonders Zudringliche. Ich wage nicht daran zu denken, was alles kommen wird, wenn sie erst sicherer geworden sind. Noch sind sie ausgesprochen hastig und aufs Raffen bedacht. Am eindrucksvollsten zeigt sich das im Wirtschaftsgebäude. Ich stehe sprachlos angesichts der Unmengen von Lebensmitteln dort, die man uns in den Festungsmonaten vorenthalten hat, und gerate nachträglich in Wut über meine Gutgläubigkeit und daß ich mir unser und der Patienten Hungern die ganze Zeit habe gefallen lassen. Nun balgt sich ein wilder, johlender Haufe um die schönsten Konserven, und Vorräte, von denen Hunderte ein ganzes Jahr hätten leben können, werden in wenigen Stunden vernichtet.
In der Mitte des Hauptraums türmt sich ein Haufen zerschlagener Gläser und aufgerissener Büchsen. Säcke über Säcke mit Mehl, Zucker, Kaffee werden darauf entleert. Daneben, halb eingedeckt, liegt ein Toter. Darüberhin turnen die Russen, Soldaten und Zivilisten, immer neue Stapel von hochwertigen Vorräten von den Regalen herunterscharrend. Dazwischen wird geschossen, gegrölt, gestoßen. Ich versuche, mir ein paar heile Gläser herauszufischen, ein Russe schlägt sie mir aus dem Arm.
Im Operationssaal ist Doktora dabei, Patienten zu verbinden. Ein Schwarm von Schwestern hat sich hierher geflüchtet und täuscht eifrige Hilfeleistung vor. Im Hintergrund treten die Russen auf den verwundeten Soldaten herum, sie auf Uhren und brauchbare Stiefel untersuchend. Einer von ihnen, ein junges Kerlchen, bricht plötzlich in Tränen aus, weil er noch immer keine Uhr gefunden hat. Er hebt drei Finger in die Höhe: Drei Mann will er erschießen, wenn er nicht sofort eine Uhr bekommt. Seine Verzweiflung ergibt den ersten persönlichen Kontakt. Czernecki läßt sich in ein langes Palaver mit ihm ein, und schließlich kommt irgendwoher auch noch eine Uhr für ihn zum Vorschein, mit der er glückstrahlend verschwindet.
Das Auftauchen der ersten Offiziere zerstört meine letzte Hoffnung auf ein erträgliches Auskommen. Alle Versuche, sie anzusprechen, schlagen völlig fehl. Auch für sie bin ich nichts weiter als ein Kleiderständer mit Taschen. Sie sehen mich überhaupt nur von den Schultern abwärts. Ein paar Schwestern, die ihnen gerade in den Weg laufen, werden gepackt und hinterhergezerrt, und ehe sie begriffen haben, was gespielt wird, werden sie völlig zerzaust wieder losgelassen. Die älteren müssen zuerst daran glauben. Ziellos irren sie in den Gängen umher. Verstecke gibt es ja nicht. Und immer neue Plagegeister fallen über sie her.
Ich schleiche wie im Traum durch unsere Keller und suche zu begreifen, was Gott hier von mir fordert. Czernecki hat von einem Russen, der sich als ansprechbar erwies, herausbekommen, daß vor Ablauf von sechs bis acht Tagen mit irgendeiner Ordnung nicht zu rechnen sei. Die Stadt sei den Soldaten freigegeben worden. Ich mache mir klar, daß ihnen hier zum erstenmal auf ihrem Feldzug Frauen in größerer Zahl in die Hände gefallen sind, ein Gedanke, der mir schon ganz entglitten war und der mich nun in die nackte Wirklichkeit zurückruft.
Ist es nicht so, daß wir die Verantwortung, die wir in der Belagerungszeit tragen durften, schon in Gottes Hand zurückgelegt haben, uns und die uns Anvertrauten Seiner Gnade befehlend? Nun wird sie uns in untragbarer Gestalt wieder vor die Füße geworfen. Ich hatte erwartet, es würde ein wildes und mit Recht rachsüchtiges Volk über uns hereinbrechen und dabei gleich im ersten Augenblick so viel vernichten, daß der einzelne gar nicht zum Nachdenken kommen würde. Für den, der lebend hindurchkäme, würde die Lage so neu sein, daß sich sein Verhalten darin von selbst ergeben würde. Er könnte dann gewissermaßen ein neues Leben beginnen. Unter das erste hatten wir - sehr voreilig ‑ bereits einen Strich gezogen.
Wie sieht es nun aber mit uns aus? Es hat sich eigentlich nichts geändert, nur daß der Zermürbungsprozeß, der bei den Häusern angefangen hat, nun bei den Menschen weitergeht. Die endgültige Entscheidung über uns ist ausgeblieben. Ich bin so ausgelöscht, daß ich nicht einmal mehr beten kann.
Gleichzeitig erwacht, mir selbst zum Entsetzen, ein ganz neuer Sinn, eine Art von kalter Neugier. Was ist das eigentlich, so frage ich mich, was wir hier erleben? Hat das noch etwas mit natürlicher Wildheit zu tun oder mit Rache? Mit Rache vielleicht, aber in einem anderen Sinn. Rächt sich hier nicht in einer und derselben Person das Geschöpf am Menschen, das Fleisch an dem Geist, den man ihm aufgezwungen hat? Woher kommen diese Typen, Menschen wie wir, im Banne von Trieben, die zu ihrer äußeren Erscheinung in einem grauenvollen Mißverhältnis stehen? Welch ein Bemühen, das Chaos zur Schau zu tragen!
Dazu diese stumpfe bellende Sprache, aus der das Wort sich längst zurückgezogen zu haben scheint. Und diese verhetzten Kinder, fünfzehnjährig, sechzehnjährig, die sich wie Wölfe auf die Frauen stürzen, ohne recht zu wissen, um was es sich dreht. Das hat nichts mit Rußland zu tun, nichts mit einem bestimmten Volk oder einer Rasse – das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen. Sonst könnte mich dies alles nicht so peinlich berühren – wie eigene Schuld.
Wenn's noch die Mongolen wären! Aber mit denen komme ich ohnehin besser zurecht. Sie sind einheitlicher, besser gezogen und darum in ihrer Substanz dem westlichen Geist wohl weniger ausgeliefert. Ihre Wildheit wirkt nicht beleidigend. Es sind drahtige Gestalten unter ihnen mit auffallend zarten Gliedern und einer natürlichen Haltung.
Mit einem Unteroffizier dieser Art bekomme ich auch den ersten menschlichen Kontakt durch Czerneckis Vermittlung. Er will versuchen, irgendeine Befehlsstelle ausfindig zu machen und dort Interesse für unsere Kranken zu wecken. Es sind ja unter ihnen auch eine Menge Ausländer. Ich setze den Rest meiner Hoffnung auf ihn. Wenn er durchkommt und auch wiederkommt, ist vielleicht noch etwas zu retten. Bis dahin müssen wir sehen zu halten, was zu halten ist.
Gegen Abend verwandelt sich unser verzweigter Hof in ein riesiges Zigeunerlager. Hunderte von kleinen Wagen mit struppigen Panjepferdchen davor fahren regellos auf. Überall hocken undefinierbare Gestalten, darunter Zivilisten, auch einige Frauen, um kleine Feuer, über denen auf zwei Ziegelsteinen emsig gekocht wird. Es ist, als befände man sich im tiefsten Asien und als sei es auch hier längst so geplant gewesen. So überwirklich ist alles wie die Bestätigung eines immer wiederkehrenden Traumes. Alle sind mit dem Sortieren der geraubten Sachen beschäftigt. Dazwischen stehen, unbeachtet und in stumpfer Ergebenheit, unsere Patienten mit ihren Angehörigen herum und sehen zu, wie der Inhalt ihrer Koffer verteilt wird. Mir wird schwindlig, wenn ich an die Nacht denke. Zu meiner vorübergehenden Erleichterung fliegt der Schwarm aber plötzlich auf und verläuft sich den Roßgarten hinunter stadteinwärts.
Die Nacht bricht herein, ohne daß unser Mongole zurückkommt. Soweit möglich, versuchen wir, die Kranken weiter zu versorgen. Die Franzosen sind noch da und helfen, wo sie können. Auch ihnen wurde alles weggenommen. Hier und da hat noch einer etwas Eßbares gerettet, ein paar Büchsen Fleisch, etwas Brot – wir teilen es untereinander auf.
Nachts herrscht im Operationssaal ein gespenstischer Betrieb. Bei schwacher Beleuchtung hantieren fünfzehn bis zwanzig vermummte Gestalten, meist jüngere Schwestern, an einem Patienten herum, der auf dem Operationstisch liegt. Ab und zu wird mit großem Personenaufwand ein neuer geholt, um ihn zu verbinden. So viele liegen noch unversorgt herum mit Verwundungen, die schon zwei und drei Tage alt sind. Den Russen ist es hier etwas unheimlich. Sie stehen eine Weile im Nebenraum herum, fassen gelegentlich auch einmal zwischen die Instrumente, um eine Schere wegzunehmen. Aber die Schwestern sind hier doch etwas weniger gefährdet.
Unerwartete Entlastung bringt uns dann noch ein Major, der uns eine Weile zusieht und schließlich von mir verlangt, ihm eine winzige Warze aus dem Gesicht zu entfernen. Schon sitzt er auf dem Operationstisch. Mit theatralischen Gesten werden ihm große weiße Tücher umgelegt, was ihm sichtlich imponiert. Da springt er plötzlich ab und befiehlt seinem Burschen, die Maschinenpistole im Anschlag, neben mir Stellung zu beziehen. Dann nimmt er erleichtert wieder Platz und gibt den Befehl, mit der Operation zu beginnen, deren Notwendigkeit uns stark übertrieben vorkommt. Immerhin hat sie den gewünschten Erfolg: Der Major ist begeistert und verteidigt uns noch eine ganze Zeit gegen neue Eindringlinge. Erst einmal für uns eingenommen, entpuppt er sich als Gemütsmensch.
Wir legen uns abwechselnd auf den Fußboden und schlafen, so gut es geht, die Schwestern zwischen den Verwundeten verteilt. Gegen Morgen läßt sich kaum mehr ein Russe blicken ...
10. April
Im Laufe des Vormittags geht es wieder von neuem los. Zeitweilig wimmelt es in unseren Gängen wie im Bienenstock. Von allen Seiten hört man jetzt lautes Frauengeschrei. Schon wieder ist ein neuer Ton in die Teufelsmusik gekommen, deren Ursprung mir noch nicht ganz klar ist. Bisher haben sich die Eindringlinge durch energisches Auftreten immer noch unsicher machen lassen. Sogar Doktora hat durch ihr plötzliches Eingreifen oft die Situation retten können. Aber nun? Wie es scheint, haben die Russen Alkohol gefunden.
Da ist auf einmal unser Mongole mitten im Gedränge am Eingang. Ich falle ihm beinahe um den Hals. Er hat irgendeine verantwortliche Stelle ausfindig gemacht, zu der er uns bringen will. Sofort mache ich mich mit Czernecki auf den Weg. Ein zweiter Russe kommt mit und hilft die Neugierigen abwehren, die uns immer wieder festhalten und durchsuchen wollen. Den Roßgarten hinunter kommen wir in immer größeres Gedränge. Links brennt das Krankenhaus der Barmherzigkeit – ich denke, was sie wohl mit ihren Kranken machen werden, die alle im Keller liegen. – Bis zum Roßgärter Markt hin brennt alles, was bisher noch nicht zerstört war. Die Hitze ist stellenweise so groß, daß man es kaum aushält.
Die Königstraße herauf, über den Roßgärter Markt hinweg und weiter zum Schloß hin wälzt sich eine Riesenschlange einrückender Truppen, in die wir nun hineingeraten. Ich kneife heftig in meinen Oberschenkel, um mich zu vergewissern, daß dies alles Wirklichkeit ist und kein Traum. Königsberg 1945, sage ich zu wiederholten Malen in mich hinein. Daß man es der guten alten, ehrwürdigen Stadt, die man nie so ganz für voll nahm, früher nicht angesehen hat, daß sie nur noch auf dies grandiose Schauspiel wartete, um dann zu verlöschen! Wie gut hat sie es verstanden, ihr Geheimnis vor uns zu hüten, als wir noch vor gar nicht langer Zeit in ihren gleichbleibend freundlichen Falten ahnungslos und mit überlegener Miene einhertrotteten. Erst die Stürme des letzten Sommers, die beiden englischen Fliegerangriffe, rissen ihr die Maske vom Gesicht und machten sie äußerlich reif für diesen Augenblick.
Nun wälzt sich zwischen flammenden Trümmern ein wüster, johlender Haufe die Straße entlang, ohne Anfang und Ende. Ist das wirklich heute, an diesem Tage? Ist das nicht schon vor zweitausend, vor zehntausend Jahren oder ebensoviel später? Nicht zu beschreiben, was sich da alles fortbewegt an Menschen, Tieren und Fahrzeugen. Ich weiß nur das eine: Dies ist der Sieg, der Sieg, wie er im Jahre 1945 aussieht, aussehen muß. Ich sehe mich stehen, weiterstolpern, gaffen mit verwehtem, vergessenem Gesicht. Wer bin ich heute? Wer sind die anderen? Wie merkwürdig zu denken, daß Menschen sich früher stundenlang angestellt haben, um Vorbeimärsche zu sehen. Auch hier vielleicht, an dieser Stelle einmal. ... Wir treiben weiter, auf das Schloß zu. Aus den Ruinen erhebt sich, wie ein Ausrufungszeichen, der Turm, der Länge nach gespalten, von tausend Geschossen zerfetzt, gekämmt, zerhackt. Man sieht in ihn hinein ‑ da oben hängt noch die Glocke. Und auf einmal ist eine Stimme in mir, die gibt Antwort, und sie befiehlt mir: Mach nur die Augen auf und sieh, denn in der Tat wäre das, was hier vorgeht, sinnlos, zwecklos, höllisches Gelächter, wenn du es nicht sähest. Dies ist nicht ein Augenblick der Weltgeschichte ‑ irgendeiner, der wieder vergeht –, das ist Weltgeschichte in einem Augenblick, in deinem Augenblick. ... Wieder hat mich der Strom erfaßt. Flintenweiber kommen auf Autos stehend vorbeigeschwommen, furchterregend und lächerlich zugleich. Ihre Gebärde bekundet, daß sie es sind, die sich als Repräsentanten des Sieges fühlen. Ich lache in mich hinein und weiß doch dabei, daß mein Äußeres ganz dem entspricht, was sie von Besiegten erwarten.
11. April
Draußen graut schon der Morgen. Unser Operationssaal ist überfüllt von Menschen. Ein kleiner Lichtstumpf täuscht Beleuchtung vor. Die Nacht ist irgendwie vorübergegangen. Nur wenige Russen geistern noch durch unsere Keller. Auf dem Operationstisch liegt eine tote Frau, an der herumhantiert wird, sowie ein Russe sich blicken läßt. Ich liege auf dem Boden und döse. Vom Nebenraum her höre ich Doktoras leise, ruhige Stimme trösten. Es ist ein Wunder, daß sie heil geblieben ist in dieser Höllennacht.
Wie schon befürchtet, hatten die Russen Alkohol gefunden. Unmittelbar neben uns in der Likörfabrik von Menthal lagen, mühsam geheimgehalten, noch mehrere tausend Liter, wie zum Hohn für diesen Augenblick aufgespart. Nun ging es wie eine Rattenflut über uns her, sämtliche ägyptische Plagen übertreffend. Keine Minute verging, in der man nicht vorn oder hinten die Mündung einer Pistole auf dem Leib hatte und von einer Fratze nach Sulfidin angebrüllt wurde. Also war ein großer Teil dieser Teufel auch noch geschlechtskrank. Unsere Apotheken waren längst ausgebrannt, der riesige Tablettenvorrat lag zertrampelt auf den Gängen. Mit einer gewissen Schadenfreude konnte ich sie immer wieder nur auf die von ihren Kumpanen angerichtete Verwüstung hinweisen. Scharenweise drangen sie von Menthal her ein, Offiziere, Mannschaften, Flintenweiber, alle betrunken. Und keine Möglichkeit, jemand vor ihnen zu verstecken, da die ganze Umgebung durch Brände taghell erleuchtet war.
Wir schlossen uns eng aneinander und erwarteten das Ende in irgendeiner Form. Die Angst vor dem Tode, die schon seit den Tagen der Beschießung keine wesentliche Rolle mehr spielte, war durch weit Schlimmeres nun vollends aufgehoben. Von allen Seiten hörte man verzweifelte Frauenstimmen schreien:
- „Schieß doch, schieß doch!“
Aber die Quälgeister ließen sich lieber auf einen Ringkampf ein, als daß sie ernsthaft von ihrer Waffe Gebrauch machten. Bald hatte keine von den Frauen mehr Kraft zum Widerstand. Innerhalb weniger Stunden ging eine Veränderung mit ihnen vor sich, ihre Seele starb. Kann man überhaupt von diesen Dingen schreiben, den furchtbarsten, die es unter Menschen gibt? Ist nicht jedes Wort eine Anklage gegen mich selbst? Gab es nicht oft genug Gelegenheit, sich dazwischenzuwerfen und einen anständigen Tod zu finden? Ja, es ist Schuld, daß man noch lebt, und deshalb darf man dies alles auch nicht verschweigen.
Nach meiner Rückkehr aus der Stadt ließ mich ein Major, der noch einigermaßen vernünftig schien, zum Isolierhaus holen. Dreißig oder vierzig Russen tobten dort zwischen den Kranken. Ich sollte ihm sagen, was das für Leute seien. Kranke natürlich, was denn sonst! Was für Kranke, wollte er wissen. Tja, verschiedenes: Scharlach, Typhus, Diphtherie – da brüllte er los und fuhr wie ein Panzer zwischen seine Leute. Damit kam er jedoch zu spät; und als der Sturm sich legte, waren vier Frauen bereits tot (Anm.: Zu Tode massenvergewaltigt].
Später stand ich mit Doktora im Menschengewühl, das ständig den hinteren Ausgang unseres Kellers blockierte, und wir beobachteten das Treiben der Schlachtfeldhyänen, die emsig und zielbewußt an uns vorüberhasteten. Gerade überlegten wir, wie wir es anstellen sollten, meine Pistole mit fünfzig Patronen herüberzuholen, die ich in der Nähe unter einem Schutthaufen versteckt hatte. Da hörten wir über uns auf einmal ein heftiges Gepolter und sahen mehrere Russen mit großem Kraftaufwand den Blindgänger zur eisernen Treppe wälzen, der seit drei Tagen über dem Operationssaal lag. Es war viel zu spät, um noch Deckung zu nehmen. Wir sahen uns lachend an und dachten wohl beide:
- „Das lohnt sich doch wenigstens, hier mitten in den dicksten Menschenhaufen hinein!“
Aber dann überschlug sich das schwere Ding nur und blieb still und stumm auf dem Treppenabsatz liegen. Als es dunkel geworden war, gelang es uns, die Pistole zu holen und sie für alle Fälle griffbereit unter der Tischplatte im Operationssaal zu befestigen. Im übrigen tat man lauter Dinge, die der Augenblick gerade erforderte. In der Ambulanz lagen zwischen den Kranken zum Beispiel mehrere Offiziere, die gar nicht verwundet waren und flehentlich um Zivilsachen baten, weil sie glaubten, darin besser aufgehoben zu sein. Natürlich wußte man nicht gleich, wo man solche hernehmen sollte. Aber dann fielen uns die Toten ein, die im ersten Stock zwischen dem Gerümpel lagen. An die schlichen wir uns heran und zogen sie aus, sobald das Gelände einigermaßen frei von herumstöbernden Russen war.
Um Mitternacht erschien, begleitet von einer uniformierten Frau, ein russischer Arzt im Operationssaal. Wieder glomm ein Fünkchen Hoffnung auf. Vielleicht würde er ein wenig Verständnis für uns haben. Aber auch er war betrunken und nur darauf aus, seiner Begleiterin zu imponieren. Er stellte sich an den Operationstisch und drückte dem daraufliegenden Verwundeten so lange auf seinem Knie herum, bis dieser in einen echt bajuwarischen Fluch ausbrach („Du Sauluder, nimm deine dreckigen Tatzen von meiner Haxen!“) – das erlösende Wort in dieser Atmosphäre stumpfer Schicksalsergebenheit.
Dem begleitenden Flintenweib sah man an, daß es unser Täuschungsmanöver mit den vielen Schwestern im Operationssaal durchschaute. Von ihrer Seite befürchtete ich besonders Schlimmes für die armen Wehrlosen und war sehr erleichtert, als sie schließlich mit verächtlichem Naserümpfen wieder abzog.
Ganz besonders nett waren die Franzosen. „Adieu docteur!“ rief mir einer zu, als ich mich anschickte, einen Russen über den Haufen zu rennen, der mitten im Gedränge mit seiner Maschinenpistole Ernst machen wollte, weil ich ihn mit Erfolg zurückgewiesen hatte. Er wälzte sich am Boden, und ich verschwand im Hintergrund, um mich vorübergehend meines weißen Kittels zu entledigen, damit er mich nicht gleich wiederfinden sollte. Kurz darauf müssen die Franzosen abgeholt worden sein; denn ich habe danach keinen von ihnen mehr gesehn.
Ganz rührend ist auch das Bedauern der russischen Patienten, die wir haben. Vier Männer mit erfolgreich operierten Bauchschüssen fühlen sich mir besonders verpflichtet. Wenn andere Russen zugegen sind, müssen sie uns gegenüber auftrumpfen und lauter Wünsche äußern, weil sie Angst haben. Aber hinterher entschuldigen sie sich jedesmal heimlich und beteuern, wie schrecklich sie das alles fänden.
Gegen Morgen traf ich einen Russen allein in der ausgebrannten Apotheke. Sekundenlang verspürte ich einen heißen Rachedurst, als er da im Dunkeln vor mich hinstolperte. Was schossen mir da alles für Gedanken durchs Hirn! Moses und der Ägypter! Aber wo soll ich mit der Leiche hin? Hier wird sie gleich gefunden. – Schadet nichts, schlimmer kann es nicht werden! – Nein, laß ihn, er ist ja auch nur ein armseliges Werkzeug.
Lange habe ich mit der Operationsschwester gerungen, die sich das Leben nehmen wollte. Ich bat sie, um Jesu Christi willen bei uns zu bleiben. Andere Argumente ziehen nicht mehr. Schließlich gab sie nach. Oh, wieviel neidvolle Blicke haben die Toten auszustehen Die kleine Frau auf dem Operationstisch ist der Inbegriff des Friedens für alle um mich her. Was soll ich sonst noch sagen von dieser Nacht? Jetzt, wo der Morgen graut, habe ich nichts weiter in mir als das Gefühl, auf einem leeren Bahnhof zu stehn und den letzten Zug verpaßt zu haben, der noch in ein anständiges Jenseits hätte führen können. Langsam schleicht sich die Gleichgültigkeit ins Gebein, der schlimmste Feind.
Am Vormittag machen sich nur noch wenige Russen bei uns zu schaffen, aber einer von ihnen ist das Grauen in Person. Kein Asiate, sondern ein Typ, wie er überall auf der Welt vorkommt. Der Uniform nach gehört er zur Marine. Sein Vorgehen ist so radikal, daß ich sofort auf ihn aufmerksam geworden bin und ihn im Auge behalte. Immer wieder taucht sein schrecklich verzerrtes Gesicht vor mir auf. Als ich einmal über den Hof gehe, schneidet er gerade mit einer Schere zwei alten Frauen die Kleider vom Leib. Aus mehreren Wunden blutend bleiben sie wie im Schlaf stehen. Ich hole meine Pistole und verstecke sie in dem großen Bombentrichter vor dem Haupteingang, den jeder Eindringling passieren muß. Hier besteht am ersten die Möglichkeit, ihn allein zu fassen. Kalt und stumpf hocke ich dort eine Zeitlang vergebens. Dann muß ich meinen Platz aufgeben, weil im Haupthaus wieder etwas los ist.
Als ich später in den Operationssaal trete, wird mir sofort klar, daß etwas Neues geschehen ist. Erschrocken sehen die Schwestern nach mir hin. Doktora steht am Tisch und verbindet wie immer. Aber diese Augen! Mein Gott! Ein Stachel bohrt sich in den Rest meiner Seele. Ich schleiche fort und lasse mich irgendwo auf eine eiserne Bettstelle fallen. Jetzt schlafen, schlafen und nichts mehr sehn. Es ist genug. Nach einer Weile steht sie neben mir in ihrem zerrissenen Trainingsanzug, und ihre Hand sucht mich zu trösten.
- „Willst du mir bitte meine Bibel suchen? Sie muß da auf dem Treppenabsatz irgendwo liegen. Man hat sie mir aus der Tasche gerissen.“
Wie ein Blöder suche ich die Bibel und finde sie auch. Dann sitzen wir eine Weile nebeneinander auf der Bettstelle und rühren uns nicht. Sie will, daß ich weggehe. Allein würde ich bestimmt irgendwie heraus und nach dem Westen durchkommen.
- „Du kannst hier doch nichts mehr tun. Ich habe meine Tabletten, und außerdem weiß ich, daß Gott nichts Unmögliches verlangt.“
Ich bin viel zu müde zu einer Antwort, wage vor lauter Ekel auch gar nicht, meine Stimme laut werden zu lassen. Es ist mir ziemlich klar, was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat. Nur dieser Teufel konnte es sein, an dem sie scheiterte – die Macht der Finsternis, gegen die kein Kraut gewachsen ist. (Die Bestätigung las ich Monate später in Doktoras Aufzeichnungen für mich. „Zum erstenmal in der ganzen Zeit befiel mich Angst", schreibt sie. „Ich wußte sofort, hier kommst du nicht durch.“)
Der Russe ist nicht mehr zu sehen. Wir gehen ein paar Schritte hinunter bis zum Schloßteichufer, wo mehrere Kähne umgekehrt auf dem Rasen liegen. Niemand beobachtet uns. In eine Decke gewickelt schiebe ich Doktora unter einen der Kähne.
Am Nachmittag ist schon wieder das ganze Haus voll Russen. Überall machen sie Feuer an. Neben uns brennt ein Haus so rapide von unten nach oben ab, daß unser Dach Feuer fängt. Die Sachverständigen behaupten zwar, bis in den Keller könne es nicht durchbrennen. Ich ordne aber trotzdem sicherheitshalber die Räumung an. Um den Anfang zu machen, schleppe ich einen dicken Mann, der mit frischem Oberschenkelbruch im Streckverband liegt, auf dem Rücken nach dem Schloßteichgraben hinunter. Mit erstaunlicher Eile leert sich hinter mir das Haus, und unter mehrmaligem Absetzen wird schließlich alles, was nicht allein gehen kann, über die kleine Fußgängerbrücke bis auf den gegenüberliegenden Hang geschleift.
Die Russen sind schon wieder sehr mobil geworden und toben zwischen uns herum. Doktora, die sich entgegen meinen Bitten an der Schlepperei beteiligt, wird plötzlich von drei ganz jungen Bürschchen angefallen und weggerissen. Ohne jeden Elan springe ich zu, ein paar Schüsse dicht an meinem Kopf vorbei aus der Maschinenpistole betäuben mich für einen Augenblick. Czernecki kommt gerade mit einem russischen Major vorbei und versucht sich ins Mittel zu legen. Umsonst, der Major lacht ihn aus. Doktora hat sich bald wieder freigemacht – es waren rohe dumme Jungens – und versteckt sich zwischen den Kranken am Hang. Dort bleibt sie endlich liegen.
Inzwischen habe ich bemerkt, daß eine weitere Karawane von Schwestern und Kranken, getragen, geführt und mehr oder weniger kriechend, ebenfalls unseren Hang ansteuert. Sie gehören zum Krankenhaus der Barmherzigkeit, das wegen fortgesetzter Brände auch schließlich räumen mußte. Bald ist der ganze Berg belagert mit Kranken, dazwischen hin und her, kreuz und quer, toben die Russen, eine Horde von Pavianen, reißen wahllos Schwestern oder Patienten weg, zerren an ihnen herum, verlangen zum hundertsten Mal Uhren. Meine sitzt immer noch sicher zwischen zwei Paar Strümpfen ums Fußgelenk. – Mit nach außen gedrehten Taschen gehe ich zwischen den Patienten hin und her. Es ist schneidend kalt. Schneeschauer gehen über uns hin. Die Kranken jammern, einige werden frech, manche unterhalten sich bereits in wenig vertrauenerweckender Weise mit den Russen. Die Reste der inneren Ordnung lösen sich auf.
Ein Weilchen hocke ich bei Doktora. Sie liegt still unter einer Decke und weint. Ein Russe hat ihr beim Tragen eines kranken Mädchens geholfen, das löste die Tränen aus. Ich bin froh, daß sie endlich nachgibt.
Ich lasse sie wieder allein, da ich ihren Platz nicht verraten darf. Der russische Major ist auf der Suche nach ihr. Als er nicht mehr zu sehen ist, mache ich einen Erkundungsgang in die nähere Umgebung. Unsere Häuser brennen zwar im Augenblick nicht mehr, es kann aber jederzeit wieder losgehn, und ich muß mich nach einer Notunterkunft für die Kranken umsehen, denn die Nacht ist nicht mehr fern. Auf der Straße am Oberteich, die wie ein Sturzacker aussieht, pendeln viele kleine Panjewagen einher, fahren sich fest, kommen wieder los, hasten weiter. Man muß sich immer wieder von neuem aufraffen, um zu begreifen, daß dies einmal Königsberg war.
In meinem ehemals weißen Arztkittel gelange ich ungehindert zum Dohnaturm, wo es von Russen wimmelt. Es sollen hier Teile eines deutschen Lazaretts liegen. Da ich zielbewußt auf den Eingang lossteuere, läßt man mich glatt durch die Sperre. In den hinteren Räumen finde ich mehrere deutsche Sanitätsoffiziere, einen Stabsarzt, mehrere Unterärzte. Ein paar Verwundete haben sie bei sich. Sie ahnen nicht, was man mit ihnen vorhat. Die Russen machen sich draußen an den Wänden zu schaffen, vielleicht soll der Turm gesprengt werden. Möglich ist alles. Wir machen ein paar faule Witze. Sie füttern mich mit Pfefferminzplätzchen aus einem großen Glas, das sie gerettet haben. Auf dem Tisch liegt ein Russe, furchtbar lamentierend, dem ein Abszeß in der Kniekehle aufgemacht werden soll. Sie sind gerade dabei, sich zu überlegen, mit was für einer Art von Betäubung sie ihn beglücken sollen. Ich nehme schnell das Messer und schneide mit Wonne in den Abszeß, Der sehr verdutzte Russe ist auf einmal still und läßt sich ganz befriedigt abtransportieren. Da zunächst nichts weiter vorfällt, verabschiede ich mich und lade die Kollegen zu einem Gegenbesuch bei uns ein, für den Fall, daß sie nicht in die Luft gesprengt werden sollten.
Bei Anbruch der Dunkelheit setzt sich die Belegschaft der Barmherzigkeit in Bewegung, um ihre Kranken nach Maraunenhof zu bringen. Dort sind ihnen angeblich ein paar leere Häuser zugewiesen worden. Nicht vorzustellen, wie sie es bis dorthin schaffen sollen. Wir bleiben allein mit unserem Haufen und fangen an, wieder zurück in unsere Keller zu ziehen. Ich schleppe wieder einen ziemlich schweren Mann auf dem Rücken, bin mit ihm gerade über den kleinen Steg hinüber, da hält mich ein Russe fest. In seiner Begleitung befindet sich Tamara, eine unserer russischen Pflegerinnen aus der Festungszeit, bereits als Flintenweib drapiert und entsprechend gestikulierend. Ich bitte sie zu helfen, da der Russe an meinem Kranken herumreißt. Sie zischt mir leise zu: „Ich habe heute auch Angst“ und spielt weiter die Wilde. Ich muß den Mann fallen lassen. Der Russe wühlt ihn durch, schießt ihm dann wie aus Versehn in den Leib und geht weiter. Der Mann sitzt da und sieht mich fragend an. Könnte ich ihm den Gnadenschuß geben! Ich spritze ihm eine Dosis Morphium und lasse ihn am Wege liegen. Bevor ich weitergehe, sehe ich noch einmal den Hang hinauf und nehme ihn ganz in mich hinein, ehe er abgeräumt ist. Dort oben auf der Höhe, gegen den Himmel, müßte das Kreuz stehen.
Gleich darauf mache ich schlapp. Beim Tragen habe ich mir einen Knick im Brustbein geholt, der mich zu normalen Zeiten wahrscheinlich erheblich behindern würde, nun aber eine ganz tröstliche Beigabe ist. Die andern schleppen mit letzter Kraft. Ein neuer Kollege ist zu uns gestoßen und hilft eifrig mit. Czernecki ist fort, ebenso die ausländischen Patienten. Auf dem Hang liegen um Mitternacht nur noch acht Gestalten, Tote, darunter unsere Operationsschwester.
Die Stadt brennt an allen Ecken und Enden. Flugzeuge kreisen und werfen immer neue Brände in die Trümmer. Dafür sind unsere Quälgeister plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Ein Russe hat uns erklärt, unser Bezirk würde jetzt abgesperrt, um gesprengt zu werden. Uns ist alles recht. Ich habe meine Pistole wieder herangeholt, dazu alles an Schlaf‑ und Narkosemitteln, was wir noch finden konnten, die letzte Spritze dazu, und das alles in unserem neuesten Versteck deponiert.
Daß wir nicht schon vorher daraufgekommen sind! Hinter den Fenstern des von außen zugemauerten Operationssaales bleibt ein Raum von etwa 6o cm Tiefe frei, bei der schlechten Beleuchtung von innen her nicht erkennbar, auch nicht, wenn man dicht davorsteht. Hinter jedem der drei Fenster ist Platz für zwei Menschen. Nun sitzen die Schwestern abwechselnd dort, und für einen Teil der Nacht haben wir Doktora dort einquartiert. Eine Weile sitze ich bei ihr und lese ihr aus dem Hebräerbrief vor, den sie so sehr liebt. „Wir haben einen Hohenpriester, der Mitleiden hat –.“ Es ist sehr still geworden bei uns. Ich habe versprochen, sie alle zu erschießen, falls wir verschüttet werden und nicht wieder herauskommen sollten. Das beruhigt sie für den Augenblick.
Unter uns auf dem Fußboden liegt Dr. Hasten mit durchschnittenen Pulsadern. Sie brachten ihn morgens von der Barmherzigkeit herüber, wo er liegengeblieben war, als geräumt wurde. Eine von den Schwestern, die ihn brachten, hat mir [Oberarzt] Bothmers letzten Gruß bestellt. Sie ist dabeigewesen, als er am 8. April verwundet wurde und am 10. April starb.
[...]
Im Vorbeigehen nehme ich Abschied auch von Doktoras Grab. Sie hatte es sich immer gewünscht, noch einmal auf heimlichen Wegen durch ostpreußisches Land zu gehen, mehr um der Wege als um des Zieles willen. Wenn sie noch lebte, so würde sie jetzt mit mir gehen.
Bekannte Führer und Kämpfer (Auswahl)
- Gauleiter-Stellvertreter Ferdinand Großherr
- General der Infanterie Friedrich-Wilhelm Müller (Oberbefehlshaber der 4. Armee bei der Schlacht um Ostpreußen)
- Generalmajor Erich Sudau
Siehe auch
- Angriff der Alliierten auf Königsberg 1944
- Massaker von Königsberg (1945-1948)
- Massaker von Metgethen
Literatur
- Otto Lasch: So fiel Königsberg. Kampf und Untergang von Ostpreußens Hauptstadt
Verweise
- Der Todeskampf der Festung Königsberg, Preußische Allgemeine Zeitung, 9. April 2005