Widernatur
Widernatur ist ein heute wenig gebrauchter Begriff zur Kennzeichnung disparater Erscheinungen von Unnatürlichkeit, übersteigerter Künstlichkeit, Degeneration (Entartung), Dekadenz (Abstieg) sowie Ekel und Abscheu erzeugender Phänomene. Da aber auch Natur selber Fäulnis, Verfall, Mißbildung und (beim Menschen) Lebensskepsis oder Lebensekel hervorbringt, steht das Wort „Widernatur“ in der steten Gefahr, definitorisch unpräzise verwendet zu werden.
Inhaltsverzeichnis
Friedrich Nietzsche (1844–1900)
Ideengeschichtlich gehen die meisten Verwendungen des Wortes „Widernatur“ heute direkt auf die Philosophie Friedrich Nietzsches zurück. Nietzsche entwarf eine Kulturkritik, die „die Predigt der Widernatur“ dem Christentum zuwies und dagegen eine „Umwertung aller Werte“ forderte. Diese „Umwertung aller Werte“ solle – nach Nietzsches Erwartung – die Erfahrung des Körpers, die Erfahrung der Intuition und eine, wie Nietzsche schrieb, „moralinfreie“ Tugend hervorbringen und auf diese Weise die gesellschaftliche Herrschaft der christlichen Dogmatik beenden.
Der christliche „neue Mensch“
Der Apostel Paulus lehrt im Neuen Testament, daß es in Gottes Augen gewissermaßen nur zwei Menschen gibt: Adam Nr. 1 und Adam Nr. 2. Im Korinther-Brief (1. Korinther 15,44–47) formulierte er:
- „Es wird gesät ein natürlicher Leib, und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Ist ein natürlicher Leib, so ist auch ein geistlicher Leib. Wie es geschrieben steht: der erste Mensch, Adam, ›ward zu einer lebendigen Seele‹, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht. Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; darnach der geistliche. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der andere Mensch ist der HERR vom Himmel.“
Eine vielzitierte Parallelstelle dazu befindet sich im Johannes-Evangelium (Johannes 5,21):
- „Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, also auch der Sohn macht lebendig, welche er will.“
Diese – und zahlreiche andere – biblische Aussagen kennzeichnen die biblische Botschaft als fundamental revolutionäre Lehre (ein sogenannter „konservativer Christ“ ist ein Widerspruch in sich selbst). Die christliche Botschaft stellt sich grundsätzlich gegen das von Natur aus vorliegende Wesen des Menschen. Die christliche Glaubenslehre will den Menschen im Kern auf eine Botschaft des Lichts einschwören. Lange Zeit wurde diese Lehre getragen von einer tiefen Diesseitsfeindlichkeit, die das irdische Leben als sogenanntes „Jammertal“ beschrieb. Auch die radikale Ächtung der Sexualität, die im Priesterberuf eine zölibatäre Form annimmt, stammt aus dieser Vorstellungswelt von der prinzipiellen Abweisung des Natürlichen.
Der kommunistische „neue Mensch“
Der bekennende Christ Götz Kubitschek, Autor und Verleger der Neuen Rechten, hat den Begriff des „neuen Menschen“ öffentlich zurückgewiesen.[1] Die konservativen Ausprägungen des christlichen Bekenntnisses haben gleichsam vergessen, wie umwälzend – und ursprünglich auch: wie zutiefst anstößig – die christliche Lehre eigentlich ist. Daß heute in der BRD die letzten konservativen Bestände, die letzten konservativen Lebenswelten, christlich orientiert sind, muß als eine bizarre Situation bezeichnet werden. Der modernistische Umwälzungsterror hat alles geschleift, sozialdemokratisierte Parteien von links bis „konservativ“ schützen keine Werte, sondern Konzerninteressen und immer weiter ausufernde Eingriffsrechte des „Nanny“-Staates (also des Bevormundungs- und infantilisierenden Betreuungsstaates). So geschieht es, daß sogenannte „Konservative“ heute selber sozialistische und globalistische Menschenreform-Programme durchpeitschen.
„Neuer Mensch“ in den kommunistischen Diktaturen war tatsächlich ein erzieherisches Konzept, das an die totale Formbarkeit und vollständige Erziehbarkeit aller Menschen geglaubt hat. Bis heute ist der pädagogische Egalitarismus abhängig von dieser Idee, die der Menschenkenntnis schroff widerspricht.
Die modernistische Zivilisation
Widernatur ist zugleich und darüber hinaus der Sammelname für schwere zivilisatorische Fehlentwicklungen der technischen, auch sozialtechnischen, Moderne.
- Der entmündigende und entmutigende Sozialstaat greift immer mehr Ressourcen bei den Tätigen ab, bis diese selber ihre Selbständigkeit verlieren und zu Staatsbettlern werden.
- Die technische Kommunikation über Mobiltelefone bzw. Smartphones hat bizarre Formen der realen Nicht-Kommunikation hervorgebracht, wenn Menschen sich gegenübersitzen und schweigend – jeder einzeln – in diese Apparate starren (oder Facebook-Nutzer mit Bots kommunizieren, mit selbstlernenden Textprogrammen, die sie für ihre realen „Freunde“ halten).
- Linke Soziologen haben im 20. Jahrhundert jahrzehntelang sehr energisch die Entkoppelung von Sexualität und familiärer Verantwortung als „Vernunft“ und als „Befreiung“ bejubelt. Die Widernatur der auffallend hohen Abtreibungszahlen (in „zivilisierten“ Ländern ein Drittel aller Schwangerschaften insgesamt werden durch Abtreibung beendet, bei schwarzen VS-Amerikanern über 50 % der Schwangerschaften) und das Wegbrechen der Kohorten kommender Geschlechter in den europäischen alten Kulturnationen, hat allerdings diese Linken immer noch nicht belehrt.
- Die technische Zivilisation vergiftet nicht nur Meere, Flüsse und Atemluft, sie rottet auch Tier- und Pflanzenarten so gründlich aus, daß schon von der Entstehung eines Anthropozoikums gesprochen wird; das heißt von der Heraufkunft einer finalen Epoche, eines Erdzeitalters, in welchem nur noch selbstdomestizierte Menschen neben eingehegten Nutzpflanzen und gezüchteten Nutztieren vorkommen und alle sonstige belebte „Natur“ endgültig beseitigt ist.
Zur Lösung dieser umfassenden Zivilisationskrise stehen keine weltanschaulich-spirituellen Konzepte bereit. Die klassischen Weltreligionen stehen in vielfältiger Weise Pate für die bezeichneten Fehlentwicklungen, und dort, wo sie selber bloße Widernatur (Weltentsagung, Eremitentum, Selbstverleugnung, Ichlosigkeit) predigen, präparieren sie die Sektenmentalität der totalen mentalen und physischen Ausbeutung.
Auch deren kritischer Widerpart in der jüngeren Neuzeit – New Age und Okkultismus des Typs, den Helena Petrowna Blavatsky zuerst verkörperte –, hat den von einer „fortgeschrittenen“ Menschheit eingeschlagenen Weg der Widernatur nicht verlassen. Die reinen Naturprediger wiederum – Ulrich Holbein nennt sie auch „Kohlrabi-Apostel“[2] – streifen gleich die ganze Zivilisation ab, so reinlich, wie es nur geht; und finden sich sodann als ärmliche Kleinbauern in einer Umgebung aus Verachtung und Gelächter wieder.
Siehe auch
Zitate
- „Denn der Parsifal ist ein Werk der Tücke, der Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des Lebens, ein schlechtes Werk. – Die Predigt der Keuschheit bleibt eine Aufreizung zur Widernatur: Ich verachte jedermann, der den Parsifal nicht als Attentat auf die Sinnlichkeit empfindet.“ — Friedrich Nietzsche[3]
- „Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, daß mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in ihre Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entarteten und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem der dionysische Zustand wieder erwachsen muß. Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren, wenn die Menschheit das Bewußtsein der härtesten, aber notwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden […].“ — Friedrich Nietzsche[4]
Literatur
- Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Piper-Verlag, München 1973, ISBN 3-492-00350-8 (Zunächst als Festschrift für Eduard Baumgarten, dann als Rundfunkproduktion verbreitet, aufgrund der großen Reaktionen danach als Mahnschrift im Taschenbuch)