Gewissen

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Das Gewissen (lat. conscientia, wörtlich „Mit-Wissen“ / „durch das Wissen“ oder altgr. συνείδησις syneidesis, wörtlich „Zusammenwissen“, „etwas zusammenbringend verstehen“) wird als eine besondere Instanz im gesunden menschlichen Bewußtsein angesehen, die bestimmt, wie man sittlich urteilen soll. Das Gewissen drängt dazu, aus ethisch-moralischen und intuitiven Gründen, bestimmte Handlungen auszuführen oder sie zu unterlassen. Bei strikt bewußten Gewissensentscheidungen ist Verantwortung der genauere Begriff.

Ursprünglich ist der Gewissensbegriff bereits im „Daimonion“ des Sokrates angelegt: Eine innere Stimme warnt vor falschen Handlungen. Die Natur dieser inneren Stimme ist – nach sokratischem Verständnis – wesentlich unbekannt und kann auch eher bedrohliche Züge aufweisen.

Die juristische Sicht

Der bundesdeutsche Gesetzgeber gesteht dem individuellen Gewissen eine hohe Bedeutung zu, beispielsweise indem er seinen Bürgern die Freiheit zur Verweigerung des Wehrpflicht aus Gewissensgründen einräumt (so Art. 4, Abs. 3 Grundgesetz: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“). Auch die strafrechtliche Bestimmung eines Verbots bei Lebensgefahr Hilfestellung zu unterlassen, ist eine Gewissensbestimmung.

Normenkonflikt

Der Mensch, der in einer alltäglichen Entscheidung zwischen Trieb und Sitte steht (zwischen dem ersten heftigen Impuls und den anschließend – aber noch vor einer Handlung oder vor einer getroffenen Entscheidung – aufkommenden Bedenken), ist gleichsam die Sonnenschein-Variante der Gewissensentscheidung. Bedeutend unhandlicher, sehr viel quälender und fataler sind dagegen jene Gewissensentscheidungen, denen ein Normenkonflikt zugrundeliegt (etwa Fälle, in denen handeln und nicht-handeln gleichermaßen gesellschaftlich unerwünscht oder sittlich falsch ist).

Üblicherweise fühlen Menschen sich gut, wenn sie nach ihrem Gewissen handeln; das ist dann ein gutes oder „reines Gewissen“. Handelt jemand entgegen seinem Gewissen, so hat er ein subjektiv schlechtes Gefühl; ein schlechtes, „nagendes“ Gewissen oder Gewissensbisse, Gewissenspein, was auch als sogenannte „kognitive Dissonanz“ – einer chronisch gestörten Harmonie im Bewußtsein – beschrieben worden ist. Eine solche Gute-Laune-Moral übersieht und verkennt jedoch das Wesen der schweren Gewissensentscheidungen, deren Resultat Einsamkeit ist (oder lebenslange Selbstzweifel).

Gewissensnot entsteht, wenn Menschen sich zwischen zwei Handlungen entscheiden müssen, die beide vom Gewissen gefordert werden, aber einander widersprechen. Diese unausweichlichen Widersprüche in Einzelfällen sind durch die Gegebenheiten unserer Welt bedingt. Eine andere Art von Gewissensnot entsteht, wenn unbegründete Schuldgefühle übermächtig werden (etwa im Falle von Kindern, die sich für die Scheidung ihrer Eltern mitverantwortlich fühlen).

Lebensbilanz

Die Alltagsintuition versteht die Rolle des Gewissens als naturwüchsig verknüpft mit den Fragen der Lebensbilanz. Wenn jemand etwa sagt, man müsse doch noch morgens in den Spiegel sehen können, um zu prüfen, ob man noch derselbe oder was aus einem geworden sei. Das so verstandene Gewissen stellt die in die Zukunft gerichtete Frage, was aus einem Lebenslauf werden soll, und blickt in die Vergangenheit auf das, was vielleicht zusammenhanglos und sittlich-gleichgültig erscheint: Wenn womöglich das eigene Leben so erscheint, daß der Lebenssinn als verfehlt angesehen werden muß (dies ist die genaue Bedeutung des oftmals flach – und bloß als plumpe Drohung – verstandenen Ausdrucks „der Ernst des Lebens“).

Jeder Tag zwingt zur Entscheidung. Wer sein Leben so fühlt und so führt, der kann den Menschen in seiner Umgebung entsetzlich anstrengend erscheinen (sie auch tatsächlich strapazieren), bleibt aber gefühlsmäßig und reflexiv mit dem eigenen Gewissen in gesunder Verbindung.

Das christliche Schisma

Eigentlich alle europäischen Staaten sind aufgrund ihrer geschichtlichen Entwicklung zu eindeutig katholischen oder eindeutig protestantisch-reformierten Staatswesen geworden. Anders, und zwar gründlich anders, liegt dies im Falle Deutschlands. Deutschland ist religiös tief gespalten. Die Jahrhunderte währenden Religionskriege sind nur gestoppt worden, eine religiöse, sittliche, politische, pädagogische Klärung der Norm-Ordnungen hat nicht stattgefunden. In Norddeutschland genügt allein schon der Hinweis, z.B. ein Kanzlerkandidat sei katholischer Bayer – Edmund Stoiber 2002 – und Millionen norddeutsche Wähler (die sich sonst gerne als energische Gegner jeder Form von „vorurteilsbehaftetem Denken“ und Gegner jeglicher „Diskriminierung“ positionieren) sind politisch höchst beleidigt, daß „so jemand“ es wagt, sich als Regierungschef zu bewerben.

Martin Luther

Die gegenwärtige Bedeutung des Ausdrucks Gewissen geht wesentlich auf Martin Luther zurück. Es fand eine Bedeutungsverschiebung statt: Vor Luther konnte „Gewissen“ auch Bewußtsein generell oder ein verstärktes Wissen („Gewißheit“) ausdrücken.

Die Reformation (auch ihre tschechischen und englischen Vorläufer, die mit den Namen Jan Hus und John Wycliffe verbunden sind) setzt mit Luthers Gewissenskrise aufgrund seiner Konflikte mit der Kirche seiner Zeit ein. Für viele Protestanten bekam die individuelle Gewissensentscheidung im Glauben weitaus mehr Gewicht als eine Unterwerfung unter kirchliche Autoritäten (oder durch Konzilsbeschlüsse und Enzykliken festgelegte Lesarten der Bibel. Diese Entwicklung beginnt schon bei Martin Luther selbst. Am 18  April 1521 mußte Luther vor Kaiser und Reich – auf dem Reichstag zu Worms – erscheinen und zu seinen Schriften Stellung nehmen. Er beschloß damals seine Rede mit den Worten:

„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“

Die Katholische Kirche

Die Katholische Kirche hielt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an einer schroffen Zurückweisung jenes protestantischen Gewissensbegriffes fest. Aus katholischer Sicht sind sittliche Entscheidungen immer klar bestimmt, die gleichsam als ewige Entität bestehende Sittlichkeit kann nur verfehlt oder nicht verfehlt werden (verschiedene Sittlichkeiten – oder einen unumgänglichen sittlichen Konflikt – kann es, dieser Auffassung nach, nicht geben). Bis heute gilt in der Katholischen Kirche die Vorstellung einer „autonomen Gewissensentscheidung des Einzelnen“ als eine Erscheinung von Hybris, und verinnerlichte kirchliche Sittennormen gelten als prinzipiell unveränderlich.

Jedenfalls hat noch Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mirari vos“ (vom 15. August 1832) die Forderung der Gewissensfreiheit als Wahnsinn und pestilenzialischen Irrtum bezeichnet (Pressefreiheit und Meinungsfreiheit überhaupt wies er scharf zurück). Und Papst Pius IX. hat der Enzyklika „Quanta Cura“ (vom 8. Dezember 1864) einen Anhang beigefügt mit dem Titel Über die Zeitirrtümer. Darin verurteilte Pius IX. pauschal jede Religionsfreiheit und wandte sich auch gegen die Trennung von Kirche und Staat. Er beglaubigte (in einem Lehrschreiben immerhin) damit die ausdrückliche negative Festlegung von Gregor XVI. zur Gewissens- und Religionsfreiheit!

Wenn also Protestanten – mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit – das Wort „Gewissen“ im Munde führen, dann ist ihnen oftmals gar nicht bewußt, wie ganz und gar fremdartig dies auf Katholiken wirken muß, die sich unter einem „Gewissen“ gerade keine Privatsache und keine persönliche Angelegenheit vorgestellt haben. Seit dem Mai 1945 geht die Phantasmagorie von der untilgbaren „deutschen Schuld“ (→ „Kollektivschuld“) um die Welt und dient als jederzeit – für jegliche erpresserischen Zwecke – nützliches Instrument.

Wenn es aber Schuld gleichsam als epochales Ereignis gibt, dann wäre dies ein anthropologisches Problem (und unzweifelhaft kein „deutsches“). Wenn andererseits Schuld und Gewissensentscheidung notwendig individuell zu verstehen ist, dann muß man Menschen ihre persönlichen Entscheidungen freistellen: Das deutsche Volk hat sich in seiner Gesamtheit gegen den Bolschewismus gestellt. Der Zusammenbruch 1945 hat den Weg freigemacht für eine völkervernichtende Weltordnung (→ NWO) und für die Durchsetzung egalitärer Dogmen mit der Brechstange des staatlichen Gewaltmonopols. Diese Entwicklung zu verabscheuen (und alles zu tun, damit sie nicht eintritt), war (und ist) eine freie, berechtigte, jederzeit mögliche Gewissensentscheidung.

Das Gewissen in der Bibel

Altes Testament

Das Alte Testament kennt kein eigenes Wort für Gewissen. Vielmehr werden die Funktionen des Gewissens dem „Herzen“ oder manchmal den „Nieren“ als dem Inneren des Menschen zugeordnet. Dabei bezeichnen das Herz als der Ausgangspunkt guter wie böser Taten mehr die verstandesmäßige, die Nieren mehr die gefühlsmäßige Komponente des Gewissens. Am Beispiel erläutert: 2.Sam 24,10 → „nachdem David das Volk gezählt hatte, schlug ihm das Herz (= das Gewissen)“. In Jeremia 12,2 werden die Gottlosen beschrieben: „Du bist nur ihrem Munde nahe, aber fern von ihren Nieren“, d. h., sie reden zwar von Gott, aber ihre innersten Entscheidungen und Gefühle wollen sie nicht von ihm beeinflussen lassen.

Neues Testament

Im Neuen Testament werden die Bezeichnung „Herz“ und parallel dazu der griechische Begriff syneidäsis = Mitwisser, Gewissen verwendet. Im Römerbrief des Apostels Paulus (2,15) wird anschaulich beschrieben, was im Gewissen vor sich geht: „Sie beweisen damit, daß in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es in ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen.“ Das befleckte Gewissen kann durch das „Blut Christi“ gereinigt werden, d. h. durch eine Annahme des vollbrachten Opfers Jesu Christi für die Tat, die die Gewissensbisse verursacht hat (Hebräerbrief 9,14).

Da jedoch das Gewissen kein in sich absoluter Maßstab ist (1.Kor 4,4), ist es wichtig, es durch das Ausrichten am Wort Gottes immer wieder zu schärfen (Römerbrief 12,2). Darüber hinaus gesteht Paulus bei einzelnen „zweifelhaften Fragen“ zu, daß es zu unterschiedlichen Bewertungen bei Christen kommen kann. Dann (aber nicht bei eindeutigen Antworten der Heiligen Schrift) sollte man sich nicht im Verhalten an andere anpassen, sondern dem eigenen Gewissen folgen (Römerbrief 14; 1.Kor 8 und 10). Das wichtige Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten wird unterstrichen durch die Aussage in 1.Tim 1,5–6: „Das Endziel der Unterweisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben. Dieses Ziel haben einige aus den Augen verloren und haben sich nutzlosem Geschwätz zugewandt.“

Die Psychoanalyse von Sigmund Freud

Nach Sigmund Freud beruht Gewissen auf der Unterscheidung von Es, Ich und Über-Ich. Seiner Vorstellung nach wird das unbewußt-triebhafte Es in seinen Äußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Introjekt, also als Verinnerlichung der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität, wodurch sich das Gewissen mühsam herausbildet. Es veranlaßt das Kind, gesellschaftlich übliche oder erwartete Verhaltensweisen und Erwartungen einzuhalten. Das reife Ich – so diese Theorie –, die individuelle Persönlichkeit mit ihren aus Erfahrung gewonnenen bewußten Wertsetzungen, bildet sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und durch Überwindung der Anforderungen des Über-Ichs.

Diese kulturkonservative Schau Freuds übergeht die tatsächlichen Lebenskonflikte von Menschen per definitionem. Freud hat als Arzt niemals einen einzigen Menschen geheilt. Er hat vielmehr die Unart der Endlos-Therapie eingeführt (und selber stets vor allem gesellschaftlich hochgestellte Damen behandelt, deren Beschwerden – selbst wenn sie banal waren – lebenslang nie mehr verschwanden).

Friedrich Nietzsche

In Nietzsches Werk „Zur Genealogie der Moral“[1] wird das „Gewissen“ mit „Schuld“, „Pflicht“ und „Heiligkeit der Pflicht“ auf eine Ebene gestellt. Instinkte, die nicht aktiv gelebt werden können, „wenden sich nach innen“. „Schuld“ und „Pflicht“ gegenüber den vorherigen Generationen werden – im Verlaufe eines langen, sich über Mikro-Epochen erstreckenden Geschichtsweges – in Gestalt des „schlechten Gewissens“ schließlich zu einer unabzahlbaren Schuld:

„[Im Schuldner], in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe‘) concipiert ist [...].“

Zeitgenössische Verhaltensbiologie

Die Schlüsselrolle bei der Gewissensentscheidung nimmt aus verhaltensbiologischer Sicht die „Hemmschwelle“ ein. Sie ist die Instanz der Entscheidung zwischen miteinander unvereinbaren Verhaltenstendenzen. Der jeweils stärkste Verhaltensimpuls „gewinnt“ dann die jeweilige Gewissensentscheidung. Die Verhaltensimpulse stammen aus drei Bereichen: biologisch bedingte Impulse, durch Vorgänge und Ergebnisse des Lernens geprägte Impulse und durch geistige Prozesse geprägte Impulse. So „überfluten“ Gefühle wie panische Angst bei einer Gewissensentscheidung leicht „geistige Impulse“ (wie zum Beispiel die Überzeugung, einem Menschen in einer Notsituation zu helfen).

Die „Inhalte“ des Gewissens sind nach dem verhaltensbiologischen Modell grundsätzlich unbestimmt. So kann auch schlüssig beschrieben und verstanden werden, daß eine Ausrichtung an Werten wie „Gottes Gebote“, „das Anständige“, „die Schicklichkeit“ in unzähligen sozialen Situationen zu grausamen Resultaten führt. Wie das kollektive Gewissen (das unübersehbar leicht betäubt und getäuscht zu werden vermag), so ist auch das einsame Gewissen (das Fehlen oder Vermeiden eines Austauschs mit Anderen vor schweren Gewissensentscheidungen) störbar.

Gewissenlosigkeit

Gewissenlosigkeit (das mitunter vollkommene Fehlen von Empathie) zählt zu den klassischen Merkmalen der psycho- oder soziopathischen Persönlichkeit. Anders als es die Menschenrechtsdeklarationen behaupten, haben eben nicht „alle Menschen ein Gewissen“. Es gibt hirnphysiologische Bedingungen, die dies ausschließen, und es gibt erlernte Reaktionen des frühen Jugendalters, die das Gewissen weitgehend ausschalten.

Die Gruppenaggression kann extremste Formen der Ausschließung, der Ächtung, Verfolgung und Schädigung anderer Menschen bewirken, ohne jemals eine negative Gewissensreaktion auszulösen. Ähnliche Folgen hat ferner die angstbedingte Denkhemmung (die auch „Verdrängung“ genannt wird): Menschen umgehen systematisch Gedanken, die unerträglich waren. Ein Gedanke ist mit angstbesetzten Assoziationen verknüpft und wird daher vermieden. Der Rest des Denkens verläuft durchaus gewöhnlich und ohne neurotische Verzerrung.

Wenn schon die unleugbare Tatsache der höchst ungleich verteilten Tugenden den radikalen Durchmarsch egalitärer Fiktionen nicht hat aufhalten können, dann wird vielleicht doch die Tatsache der unvergleichlichen Gewissenstypen das egalitäre Dogma bald wirksam einschränken. Alle Menschen sind ungleich, der blanke Selbstschutz gebietet die Verbreitung dieser Einsicht. Die Gleichheitslehren (die behaupten, den Schwachen zu schützen), haben ihn in Wahrheit nur hilfloser, wehrloser und dümmer gemacht.

Literatur

Siehe auch

Fußnoten

  1. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. KSA, Bd. 5, S. 291ff.