Gnosis

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Gnosis (von altgr. γνῶσις gnōsis „[Er-]Kenntnis“) oder Gnostik, Gnostizismus ist die Bezeichnung für eine von den frühen christlichen Kirchenoberen bzw. -vätern bekämpfte Bewegung im 1. und 2. Jahrhundert n. d. Z., welche die Erlösung durch Erkenntnis Gottes in mystischer Schau, nicht durch den Glauben, lehrte. Die Gnostiker vereinten das Christentum mit älteren griechischen und orientalischen Religionselementen (→ Doketismus).

Gnostische Quellen

In der Einleitung zu ihrer weit verbreiteten Textsammlung zur antiken Gnosis schreibt Johanna Brankaer:

„Es gibt keine abgegrenzte, klar definierbare Religion, die wir Gnosis nennen. Die Gnosis ist ein vielförmiges Phänomen und daher auch in vieler Hinsicht unfassbar. Über die Sozialgeschichte der Gnosis wissen wir z. B. fast nichts. Da ihre Schriften häufig von mythologischer Art sind, enthüllen sie uns höchstens in indirekter Weise etwas über das Leben, die Organisation, die Praxis der Menschen, die diese Texte benutzt und gelesen haben. Die Gnosis hatte keine eigene Dogmatik, keinen exklusiven Kanon von autoritativen Schriften, keine Lebensregel, keine Ämter, usw. Auch über die Bedeutung des Begriffes ‚Gnosis‘ gibt es keine Einigkeit in der Forschung. Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition des Phänomens Gnosis. Die Gnosis ist ein Phänomen besonderer Art, es ist keine eigentliche Religion. Vielleicht ist es nur eine Tendenz, die wir bei verschiedenen Denkern und in verschiedenen Schriften finden.“[1]

Jeder Laie (der nicht weiß, wie es in den Wissenschaften ansonsten zugeht) wird nun abwinken und sagen: Wenn das so ist, dann kann man sich das schöne Wort ja sparen. Scheinbar benennt es nichts, trennt nichts, kennzeichnet nichts und besagt deshalb auch nichts. Tatsächlich jedoch weisen einflußreiche Texte der Spätantike wie etwa das Evangelium nach Maria und das Thomas-Evangelium Merkmale einer über Generationen tradierten Glaubensvorstellung auf, die – im Falle dieser beiden Beispiele – in seltsamer Nähe zu neutestamentlichen Überlieferungen stehen.

Im Thomas-Evangelium (das 1945 in Nag Hammadi in Oberägypten [= Südägypten] gefunden wurde) finden sich „Logien“ – also Aussprüche –, die auch zur Grundlage der biblischen Jesus-Geschichten wurden, und wiederum solche, die aus der späteren christlichen Tradition völlig eliminiert worden sind. Wesentliche spirituelle Differenz dieser Überlieferungen ist die Frage des „göttlichen Funkens“: Nach gnostischer Auffassung besitzt jeder Mensch wegen seiner Schöpfung durch Gott einen göttlichen Seelenfunken, der ihn befähigt, Gott und Göttlichkeit selbst zu erkennen. Falls dies zutrifft, braucht niemand eine Kirche, niemand braucht Dogmen, Bischöfe, Päpste, Kirchensteuern und noch weniger silbengenau formalisierte Glaubensbekenntnisse. Die Gottsuche allein würde genügen, eine Unterweisung oder Lehre bei geachteten Spiritualisten (und eine Ausrichtung der persönlichen Lebensführung auf deren Maßstäbe) wäre schwierig genug, aber zugleich auch zielführend genug.

Wie die spätere Kirchengeschichte zeigt (→ Katharer, Ketzerei, Protestanten) haben exakt diese spezifisch religiösen Einwände gegen die Katholische Kirche immer wieder Gefolgsleute gefunden. Ebenso zutreffend ist es jedoch auch, wenn man sagt, die zutiefst anti-gesellschaftlichen, ja naturwidrigen Impulse namentlich der christlichen Glaubenslehre wären schon in der europäischen Antike sogleich totgetreten worden, wenn nicht der klerikale Machtanspruch, das Meinungsdiktat und die endgültige dogmatische Festlegung die freien Spiritualisten in einen organisatorischen Rahmen gezwängt hätten. Denn im Unterschied etwa zu den griechischen Philosophen (die ebefalls als Lehrer der Bescheidenheit, des Maßes, der Demut und der leisen Lebensklugkeit auftraten) verwarfen etliche Gnostiker gleich auch Vernunft und Materie als solche und stellten den Lebenswillen selbst unter Fluch und Bann.

Die „Urgeschichte aller Dissidenz“

In seiner Einleitung des ersten Bandes der „Weltrevolution der Seele“, dem einschlägigen „Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart“ schildert Peter Sloterdijk das spirituelle Demiurg-Konzept (von der totalen Verworfenheit der Materie) als archaische Keimzelle, worin die „Urgeschichte aller Dissidenz“ heute noch studiert werden könne. Diese verdienstvolle Anthologie aus den frühen 1990er Jahren spannt die ganz große Folie, vor der zunächst schon die christliche Glaubens- und Dogmengeschichte klare Konturen gewinnt (als Amalgam aus eigentlich widerstreitenden Ideen von radikaler Weltablehnung und monotheistischer Weltbejahung). Eine Folie, die aber auch allen späteren gegenchristlichen, manichäischen, erleuchteten und entsagenden Formen religiöser Opposition in der europäischen Kulturgeschichte einen gut hörbaren Grundbaß aus den Anfängen der Schriftlichkeit beiklingen läßt. Sloterdijk schreibt dort wörtlich:

Man wird diese Texte [die Gnosis-Quellen aus Nag Hammadi] – eine Mixtur aus alternativen Evangelien und apokryphen Traktaten – auch künftig lesen wie verlorene Briefe an die Nachwelt, wie eine Flaschenpost im Sand, wie Geheimpapiere des Weltgeistes, versteckt vor den Drohungen der christlichen Zensur, versehen mit dem unsichtbaren Vermerk: ‚aufbewahren für alle Zeiten‘. Ihr Studium gehört in den Lehrplan derer, die dem aktuellen Stand von Weltkrieg und Weltkrise auch historisch auf den Grund gehen wollen. In den Originalschriften der Gnostiker meinen wir endlich an die Urgeschichte aller Dissidenz zu rühren; in ihnen liegen die Spuren der metaphysischen Revolte offen. Die ‚Vollkommenen‘ der Wüste hatten den Weltungehorsam bis zum Ende erprobt — bis zum Bruch mit allem, was ans Gegebene und Bestehende bindet. Bei ihrer Sezession vom Seienden überhaupt, stellten sich die Autoren von Nag Hammadi zusammen mit ihren ersten Lesern in ein phantastisches Abseits, links von der Schöpfung, fern von den Mächten des Kosmos, in die Fülle des Nichts an Welt und Wirklichkeit.[2]

E. M. Cioran: Spirituelle Gnosis im 20. Jahrhundert

Mehrere gnostische Grundauffassungen finden sich im 20. Jahrhundert exemplarisch ausformuliert im Werk von E. M. Cioran. Er galt zu Lebzeiten als poetisch versierter Philosoph in der weiteren Nietzsche-Nachfolge, ein gebürtiger Rumäne, der – übersiedelt nach Paris – französische Bücher abfaßte. Der europäische Leser des 20. Jahrhunderts, in Sonderheit der akademische Literatentypus, war typischerweise so völlig blind in allen spirituellen Belangen, daß die unverfälschte Wiederkehr gnostischer Religiosität im Werk dieses Autors lange unbemerkt und unverstanden blieb. Dabei steht alles im Text, gut verständlich und geduldig erläutert:

„Mit Ausnahme einiger Sonderfälle neigt der Mensch nicht zum Guten: Welcher Gott drängte ihn dazu? Um die geringste, nicht vom Bösen befleckte Tat zu begehen, muß er sich überwinden, sich Gewalt antun. Wann immer es ihm gelingt, provoziert und demütigt er seinen Schöpfer. Und unterläuft es ihm, gut zu sein – nicht aus Anstrengung oder Berechnung, sondern von Natur aus –, so schuldet er das einer Unaufmerksamkeit der höheren Instanz: Er situiert sich außerhalb der universalen Ordnung, er war in keinem göttlichen Plan vorgesehen. Man sieht nicht recht, welchen Ort er unter den Wesen einnimmt. Wäre er ein Phantom?
Das Gute ist, was war oder sein wird, es ist das, was niemals ist. Schmarotzer der Erinnerung oder der Vorahnung, abgetan oder möglich, könnte es nicht ›aktuell‹ sein, noch aus sich selber bestehen: Das Bewußtsein ignoriert es, solange es ist und erfaßt es, wenn es verschwindet. Alles beweist seine Substanzlosigkeit: Es ist eine große unwirkliche Kraft, es ist das Prinzip, das schon im Entstehen vergeht: Unausdenklich altes Versagen, Bankrott, dessen Wirkungen sich im Maß, in dem die Geschichte abläuft, verdeutlichen. In den Zeiten des Ursprungs, in jener Promiskuität, in der sich das Abgleiten lebenwärts vollzog, muß etwas Unnennbares vorgegangen sein, das sich in unserem Unbehagen, wenn nicht in unseren Überlegungen, fortsetzt. Daß die Existenz in ihrer Quelle verdorben wurde, sie und die Elemente selber, wie kann man auf diese Hypothese verzichten? Wer nicht mindestens einmal am Tag bereit ist, sie ins Auge zu fassen, der hat als Schlafwandler gelebt.“[3]

Der Lebensprozeß: ein Abgleiten, das sich „lebenwärts“ vollzieht. Die Existenz: substanzlos und „in ihrer Quelle verdorben“. Das Gute: nur als Beleidigung des eigentlichen Schöpfers vorkommend, Folge einer „Unaufmerksamkeit der höheren Instanz“. Solche Ideen zählen traditionell zum Kern der gnostischen Wirklichkeitsauffassung. Ein winziger Seelenfunke, verloren und verzweifelt, gelangt nur in den wenigsten glücklichen Momenten zur Einsicht in das ganze Ausmaß des Verhängnisses. Ein „böser Demirug“ hat all das angerichtet. Er wird auch „Untergott“ genannt:

„Entstammt die Welt einem ehrenwerten Gott, so wäre es eine Kühnheit, eine unsägliche Provokation, sich zu töten. Da jedoch alles dafür spricht, daß sie das Werk eines Untergottes ist, sieht man nicht, warum man sich genieren sollte! Wen gilt es zu schonen? [...] Halten wir uns an die Hypothese des Untergottes, die den Vorteil hat, äußerste Gesten zu gestatten, den radikalen Sieg über eine verdorbene Welt.“[4]

Die losen Enden religiöser Opposition im 20. Jahrhundert – Okkultismus, Esoterik, Wassermann-Zeitalter, Neuheidentum, Selbstvergöttlichung oder extreme Askese und Ego-Auslöschung – münden schon seit einiger Zeit unmerklich, aber zielgenau in eine neue Religion von Oberschichten ein, die keine Ähnlichkeit mehr hat mit monotheistischen Quellen, mit naiv-heidnischen oder erlösungssüchtigen Formen religiöser Organisation, sondern die lediglich von einem festen Willen beseelt sind, dem wirren Dasein unverwechselbare Widerstandshandlungen abzutrotzen.

Zitate

  • „Die Gnostiker haben den eigentlichen Geist des neutestamentlichen Christentums tiefer aufgefaßt und beßer verstanden, als unser Kirchenvater dem das Alte Testament beßer gefällt: Die Kirche aber mußte darauf bedacht seyn, eine Religion auf die Beine zu bringen, die doch auch gehn und stehn könne in der Welt, wie sie ist, und unter den Menschen.“Arthur Schopenhauer über die Gnostiker, Martin Luther und die katholische Kirche[6]
  • „Die Kabbalistische und die Gnostische Philosophie, bei deren Urhebern, als Juden und Christen, der Monotheismus vorweg feststand, sind Versuche, den schreienden Widerspruch zwischen der Hervorbringung der Welt durch ein allmächtiges, allgütiges und allweises Wesen, und der traurigen, mangelhaften Beschaffenheit eben dieser Welt aufzuheben. Sie führen daher, zwischen die Welt und jene Weltursache, eine Reihe Mittelwesen ein, durch deren Schuld ein Abfall und durch diesen erst die Welt entstanden sei. Sie wälzen also gleichsam die Schuld vom Souverän auf die Minister.“Arthur Schopenhauer[7]

Siehe auch

Literatur

  • Michael Baigent: Die Gottesmacher. Die Wahrheit über Jesus von Nazareth und das geheime Erbe der Kirche. Lübbe, Bergisch Gladbach 2006 [englische Originalausgabe: The Jesus Papers: Exposing the Greatest Cover-Up in History], ISBN 3-7857-2252-4
  • Johanna Brankaer: Die Gnosis. Texte und Kommentar. Marix Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-86539-954-0
  • Wolfgang Schultz: Dokumente der Gnosis. Mit Aufsätzen von Georges Bataille, Henri-Charles Puech und Wolfgang Schultz. Weltbild Verlag, Augsburg 2000, ISBN 3-8289-4839-1 (Lizenzausgabe, zunächst Matthes & Seitz Verlag, München)
  • Horst E. Miers: Lexikon des Geheimwissens. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1993, ISBN 3-442-12179-5, S. 250–253
  • Erich Bischoff: Im Reiche der Gnosis. (1906) (PDF-Datei)
  • Charles Kingsley Barrett / Claus-Jürgen Thornton (Hgg.): Texte zur Umwelt des Neuen Testaments. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1991 [= UTB, Bd. 1591, ISBN 3-16-145619-X]
  • Holger Strutwolf: Gnosis als System. Zur Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 56); Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, ISBN 3-525-55164-9
  • Hans-Josef Klauck:
    • Die religiöse Umwelt des Urchristentums; Bd. I: Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube (Studienbücher Theologie IX/1), Kohlhammer, Stuttgart 1995, ISBN 978-3-170-10312-2 [207 Seiten]; Bd. II: Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (Studienbücher Theologie IX/2), Kohlhammer, Stuttgart 1996, ISBN 978-3-170-13781-3 [206 Seiten]
    • Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (= Stuttgarter Bibel-Studien, Bd.167), Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 1996, ISBN 978-3-460-04671-9
  • Elaine Pagels: Das Geheimnis des Fünften Evangeliums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt. dtv, München 2004, ISBN 3-423-34333-8 [amerikanische Originalausgabe: Beyond Belief. The Secret Gospel of Thomas (2003)]
  • Peter Sloterdijk / Thomas H. Macho (Hgg.): Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart; 2 Bände, Artemis & Winkler Verlag, München/Zürich 1991, ISBN 3-7608-1055-1 [Abweichend von den theologischen und religionswissenschaftlichen klassischen Anthologien zum Thema Gnosis, präferiert diese Anthologie die eher philosophischen Texte der europäischen Tradition, bietet aber auch das Nag-Hammadi-Material ausführlich.]
  • Gerhard Zacharias: Satanskult und Schwarze Messe. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Religion. Limes-Verlag, Wiesbaden 1970 [keine ISBN zugewiesen, Erstausgabe: 1964]
  • Ludger Lütkehaus: Die Geburt der Fallgeschichte. Peter Sloterdijks kühne Expedition ins Reich der Gnosis. – In: DIE ZEIT, Nr. 41, 8. Oktober 1993, S. 45

Fußnoten

  1. Johanna Brankaer: Die Gnosis. Texte und Kommentar. Marix Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-86539-954-0, S. 7
  2. Peter Sloterdijk / Thomas H. Macho (Hgg.): Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart; 2 Bände, Artemis & Winkler Verlag, München/Zürich 1991, ISBN 3-7608-1055-1, S.19
  3. E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979 [frz. Originalausgabe: 1969], ISBN 3-518-37050-2, S.7
  4. E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979 [frz. Originalausgabe: 1969], ISBN 3-518-37050-2, S. 64
  5. Ludger Lütkehaus: Die Geburt der Fallgeschichte. Peter Sloterdijks kühne Expedition ins Reich der Gnosis. – In: DIE ZEIT, Nr. 41, 8. Oktober 1993; S. 45
  6. Senilia, S. 134, Verlag C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59645-2
  7. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena I, Erster Teilband, § 8, Seite 74, Ausgabe: Diogenes 1977, ISBN 3-257-20427-2