Stalinsche Säuberungen
Als Stalinsche Säuberungen oder „Große Säuberung“ wird (links-)euphemistisch einer der Höhepunkte der politischen Verfolgungen unter Josef Stalin in der Sowjetunion zwischen Herbst 1936 und Ende 1938 bezeichnet. Der Begriff ist von liberal-bolschewistischer Prägung und dient in erster Linie dazu, die Verbrechen und den Massenmord des jüdischen Bolschewismus zu verschleiern oder zu verharmlosen.
Inhaltsverzeichnis
Ablauf
Der als Säuberung bezeichnete kommunistische Massenmord begannen mit der Bluttat an Sergej Kirow im Dezember 1934 und erreichten ihren ersten Höhepunkt im Großen Terror von 1936 bis 1938. Damit ist der willkürliche Terror gegen Menschen gemeint, die angeblich gegen das kommunistische Regime Stalins konspirierten. Die Säuberungsaktionen waren oft als gerichtliche Strafverfolgung getarnt und durch unter Folter erpreßte Geständnisse begründet. Mittels dieser Schauprozesse wurden Hunderttausende zum Tode verurteilt und ermordet.
Eine zweite stalinistische Säuberungswelle setzte zu Beginn des Jahres 1948 ein. Sie war hauptsächlich gegen Juden gerichtet, in denen man Kosmopoliten sah. Die Kampagne führte zunächst zur Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, erreichte ihren Höhepunkt in der sogenannten Ärzteverschwörung und endete abrupt mit Stalins Tod im März 1953.
Hintergrund
Hintergrund waren verschiedene, einander ablösende Verschwörungstheorien, unter anderem gegen die Trotzkisten. Ebenso wie ein großer Teil der Gründer der III. Internationale wurden nahezu alle bedeutenden Theoretiker der KPdSU(B) Opfer dieser Säuberungen. Chefankläger der Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 war der Generalstaatsanwalt der Sowjetunion Andrej Januarjewitsch Wyschinski.
Außerdem wurde ein Großteil der militärischen Führungsspitze um Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski einer Verschwörung bezichtigt und ermordet. Auch viele Kommunisten anderer Herkunft, die in die Sowjetunion emigriert waren, fielen den Verfolgungen zum Opfer. Im Jahre 1940 wurde der Hauptverantwortliche für die Durchführung der Säuberungen, Nikolai Iwanowitsch Jeschow (nach ihm auch Jeschowschtschina genannt), der von 1936 bis 1938 Chef des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und Kandidat des Politbüros der KPdSU gewesen war, ebenso wie bereits sein Vorgänger Genrich Jagoda selbst zum Opfer des stalinistischen Terrors. Sein Nachfolger wurde am 24. November 1938 Lawrenti Beria, der die Säuberungen gemeinsam mit Iwan Serow fortsetzte. Er wurde 1953 hingerichtet.
Stalins Propaganda, die oft auch von kommunistischen Parteien im Ausland vertreten wurde, rechtfertigte später die Säuberungen als vorbeugende Beseitigung politischer Gegner, die sonst angeblich mit Hitler kollaboriert hätten oder als „Klassenfeinde“ gefährlich geworden wären. Etwa drei Jahre nach Stalins Tod wurden am 20. Parteitag der KPdSU die Verbrechen Stalins verurteilt und im Rahmen der Entstalinisierung Opfer auch teilweise rehabilitiert.
Opfer
Stalin ließ nicht nur seine vermeintlichen politischen Gegner, darunter zahlreiche ausländische Kommunisten, die in der Sowjetunion lebten oder vor Verfolgung dorthin emigriert waren, in Schauprozessen aburteilen, sondern es wurden ganze Völker der Sowjetunion, ethnische Minderheiten, in Lager (Gulag) deportiert. „Kulaken“ (Großbauern) und willkürlich als solche Deklarierte, Priester und Mönche sowie kirchliche Laien fielen den Säuberungen zum Opfer. Selbst die Angehörigen der Verhafteten blieben nicht verschont. So wurden regelmäßig selbst unpolitische Menschen verhaftet, um das dafür vorgegebene Plansoll zu erfüllen und damit Gefängnisse sowie Straflager zu füllen. Auch Einwohner der Gebiete, die von der Roten Armee besetzt wurden, zählten zu den Opfern – Balten, Polen, Ungarn, Rumänen und Deutsche.
Straflager
Die Opfer von Stalins Willkür wurden in Gulags gebracht, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen Waldarbeiten, Straßenbau, Kanalbau, Eisenbahnbau, Städtebau, Arbeit in Bergwerken sowie Erdarbeiten verrichten mußten. Beispielsweise wurde der Weißmeer-Ostsee-Kanal[1], Teile der Transsibirischen Eisenbahn sowie Teile der Baikal-Amur-Magistrale von Häftlingen gebaut. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren grausam. Teilweise erhielten die Häftlinge lediglich 300 Gramm und zudem feuchtes Schwarzbrot und einen Teller Brennesselsuppe pro Tag, verfügten auch im Winter nur über leichte Sommerbekleidung und lebten in hölzernen Baracken. Das Plansoll entschied über die Länge des Arbeitstages, der oft mehr als 12 Stunden betrug.
Viele Menschen wurden nach Folterungen exekutiert: Während der Großen Säuberung wurden im Mittel tausend Menschen pro Tag ermordet.
Anzahl der Opfer
Die Zahl der Menschen, die in den Säuberungen umgekommen sind, ist Gegenstand vieler Streitigkeiten. Frühe Historiker konnten sie nur schätzen, und so gingen die Zahlen der Todesopfer mit einer bis 60 Millionen[2] weit auseinander, je nachdem, wer sie zählte und was als Säuberungen galt.[3]
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war es erstmals möglich, Angaben durch dortige Archive zu erhalten. Ihnen wurde entnommen, daß ungefähr 800.000 Gefangene unter Stalin exekutiert worden seien, 1,7 Millionen im Gulag gestorben und außerdem 389.000 Kulaken während der Umsiedlung umgekommen seien – insgesamt ungefähr drei Millionen Opfer.
Die Debatte geht jedoch weiter, solange einige Historiker diese offiziell bisher herausgegebenen Daten für unzuverlässig halten.[4] Inzwischen ist man sich sicher, daß die Daten unvollständig sind, da über einige Opfergruppen keine sorgfältigen Daten erhoben wurden. Dazu gehören die Opfer von ethnischen Deportationen und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Deshalb vertreten einige Wissenschaftler die Meinung, die Opfer Stalins überschreiten nicht die vier Millionen, während andere glauben, die Zahl liege wesentlich höher. Der russische Schriftsteller Vadim Erlikman[5] stellte beispielsweise folgende Schätzung an:
- 1,5 Millionen exekutiert,
- 5 Millionen starben im Gulag,
- 1,7 Millionen verloren bei der Deportation ihr Leben (von den 7,5 Millionen Deportierten)
- 1 Million umgekommene Kriegsgefangene und deutsche Zivilisten,
was insgesamt ungefähr 9 Millionen Opfer der Säuberungen ergibt.
Aber selbst diese Zahl reicht nicht aus, wenn man noch die Opfer der Hungersnot von 1932/33 hinzuzählt, der sechs bis acht Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.[6][7] Jedoch sind sich Historiker nicht einig, ob diese Opfer als ein Teil des Feldzugs gegen die Kulaken getötet wurden oder ob sie in Kauf genommene Opfer der gewaltsamen Kollektivierung geworden sind.
Dessen ungeachtet scheint es, daß man Stalin und seiner Politik mindestens etwa 10 Millionen Tote anrechnen muß (vier Millionen durch die Säuberungen und sechs Millionen durch die Hungersnot). Viele Bücher nehmen eine Opferzahl von 15 bis 20 Millionen an. Addiert man beispielsweise die sechs bis acht Millionen, die durch die Hungersnot umkamen, zu den Schätzungen von Erlikman hinzu, kommt man auf 15 bis 17 Millionen Opfer. Robert Conquest, der als einer der ersten eine Schätzung der Opferzahlen veröffentlichte, korrigierte inzwischen seinen Wert von mindestens 30 Millionen Opfer auf 20 Millionen.[8] Andere hingegen bleiben bei ihren meist höheren Opferzahlen.
So schätzt Stalins Biograph Dimitri Wolkogonow, daß zwischen 1929 bis 1953 19,5 bis 22 Millionen Menschen durch die sogenannten Säuberungen zu Tode kamen.[9] Gunnar Heinsohn gibt eine Zahl von mindestens 20 Millionen Opfern an, davon 4,4 Millionen in den Jahren des „Großen Terrors“ 1936–1939.[10]
- „56 Millionen Tote. Der Friedhof der Bolschewiken [...] der größte Massenmord in der Geschichte der Menschheit.“ — Israel Nachrichten, 10. September 1992
Einige der prominenten Opfer
Den Säuberungen fielen
- 12 frühere Mitglieder des Politbüros der KPdSU (Trotzki (ermordet in Mexiko), Kamenew, Sinowjew, Bucharin, Rykow, Krestinski, Sokolnikow, Serebrjakow, Tomski, Rudsutak, Kossior, Tschubar) und drei Kandidaten des Politbüros,
- 98 ehemalige Vollmitglieder oder Kandidaten des Zentralkomitees der KPdSU, darunter Rakowski,
- über 15 ehemalige Mitglieder der Regierung (Volkskommissare etc.): soweit nicht schon als Politbüromitglieder aufgeführt u. a. Radek, Jagoda, Jeschow, Krylenko, Rosenholz, Grinkow, Brjuchanow, Anatow, Meshlauk,
- 3 von 5 Marschällen der Sowjetunion: Tuchatschewski, Blücher, Jegorow,
- 13 von 15 Armeekommandeuren,
- alle 16 Politkommissare der Armeen,
- 25 von 28 Korpskommissaren,
- alle elf Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung und
- 98 von 108 Mitgliedern des Obersten Militärrats
zum Opfer.
Siehe auch: Kategorie: Opfer des Stalinismus
Erklärungsversuche
Wie es zu den stalinschen Säuberungen kam und welche Funktion sie im Herrschaftssystem des Stalinismus hatten, ist in der Forschung umstritten. Es wird einerseits für möglich gehalten, daß Stalin von den Verschwörungstheorien, die den Anklagen zugrunde lagen, wirklich überzeugt war – die Ursache also die persönliche Paranoia des „Führers“ der Sowjetunion war, wie er sich damals nannte. Dieser Meinung hängen z. B. Oleg Gordievsky und Christopher Andrew an, die in ihrer Studie über den KGB schreiben, es könne nicht bezweifelt werden, daß „Stalin an seine eigenen Verschwörungstheorien glaubte. Dies gilt, auf die eine oder andere Weise, auch für den größten Teil der Parteihierachie.“[11]
Dimitri Wolkogonow bezweifelt dagegen, daß Stalin tatsächlich trotzkistische Verschwörer und Agenten des Kapitalismus bekämpfen wollte. Die Säuberungen und die ihnen zugrundeliegenden Verschwörungstheorien seien ursprünglich ein im Kern rationales Kalkül zur äußeren Stabilisierung der Sowjetunion und zur Sicherung der persönlichen Herrschaft gewesen, hätten dann aber eine Eigendynamik gewonnen und auf das Bewußtsein ihres Urhebers zurückgewirkt:
- „Die Verfolgungsmaschinerie, die Stalin in den dreißiger Jahren mit voller Kraft wüten ließ, machte nicht nur Funktionäre der unteren Ränge besessen, sondern auch Stalin selbst. Es ist denkbar, daß das Abgleiten zur Idee der Gewalt eine Reihe von Etappen durchlief: Zunächst war es ein Kampf gegen wirkliche Feinde, dann folgte die Vernichtung von persönlichen Gegnern, und schließlich wurde die Gewalt angewendet als Zeichen der persönlichen Ergebenheit gegenüber dem Führer.“[12]
Die deutsche Historikerin Ingeborg Fleischhauer sieht den Massenterror der Säuberungen als Funktion der internationalen Situation der Sowjetunion: Er könne nur vor dem Hintergrund der wachsenden Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland erklärt werden, das durch seinen Nichtangriffspakt mit Polen im Januar 1934 das Gleichgewicht der Kräfte in Osteuropa zerstört habe. Stalin sei – nicht anders als die führenden Politiker der Westmächte – in den Jahren 1936 bis 1938 vom deutschen Machtzuwachs zunehmend besorgt gewesen und habe daher zeitgleich versucht, eine möglichst große Homogenität in der Partei und der sowjetischen Gesellschaft in der Unterordnung unter seinen Willen zu erzeugen. In dieser Perspektive „könnten die Maßnahmen Stalins primär und präventiven und defensiven Gesichtspunkten erfolgt sein“.[13]
Der VS-amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Rudolph Joseph Rummel meint dagegen, daß die Säuberungen weder von einer wahnhaften Verschwörungstheorie noch von einem rationalen Kalkül verursacht worden seien. Ursache sei vielmehr die Ideologie des Marxismus, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit betrachte und keine Kompromisse kenne. Er benenne das Gute (Kommunismus) und das Böse (Kapitalismus, Feudalismus) und zeige den Weg zur Veränderung der Gesellschaft auf, die sozialistische Diktatur des Proletariats. Der Staat mußte demnach im Besitz absoluter Gewalt sein und diese ausüben, um eine „bessere Welt“ zu verwirklichen. Wer auch immer dies zu behindern drohte, mußte laut marxistischer Lehre ausgeschaltet werden.[14]
Siehe auch
Literatur
- Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1963
- Schauprozesse unter Stalin 1932–1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer, mit einem Vorwort von Horst Schützler, Dietz Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-320-01600-8
- Wadim S. Rogowin: 1937. Jahr des Terrors, Arbeiterpresse Verlag, 2001, ISBN 3-886-34071-6
- Hermann Weber: „Weiße Flecken“ in der Geschichte: Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, SDP-Verlag, Frankfurt a. M. 1990
- Hans Schafranek: Kontingentierte „Volksfeinde“ und „Agenturarbeit“. Verfolgungsmechanismen der stalinistischen Geheimpolizei NKWD am Beispiel der fiktiven „Hitler-Jugend“ in Moskau (1938) und der „antisowjetischen Gruppe von Kindern repressierter Eltern“ (1940). In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Nr. 1 (2001), S. 1–76