Hamm-Brücher, Hildegard
Hildegard Hamm-Brücher, geb. Brücher ( 11. Mai 1921 in Essen; 7. Dezember 2016 in München),[1] war eine nahezu kompromißlos prozionistische, vierteljüdische[2] Politikerin (BRD-Blockpartei FDP) und Publizistin. Sie selbst gab ihre Herkunft als halbjüdisch an.
Inhaltsverzeichnis
Werdegang
Herkunft
Ihre Großmutter mütterlicherseits war Jüdin. Hildegard Brücher, evangelisch getauft, wurde am 11. Mai 1921 in Essen geboren und wuchs in Berlin-Dahlem auf. Ihre Eltern sind früh gestorben. Ihr Vater Paul Brücher, Jurist, am 17. Dezember 1931, und ihre Mutter Lilly, geborene Pick, am 17. November 1932. Nach dem Tod der Eltern lebte sie dann mit ihren vier Geschwistern bei der jüdischen Großmutter in Dresden.
Herkunftsklärung
Zwar ließ sich ihr deutscher Großvater mütterlicherseits jüdisch „taufen“ (Mikwe), gilt jedoch nach jüdischer Abstammungslehre als Nichtjude. Wie vorgenannt zu sehen, ist die Großmutter mütterlicherseits Jüdin. Die Großeltern väterlicherseits sind Deutsche. Damit ist die Enkelin Hildegard Brücher Vierteljüdin und war nach den Nürnberger Gesetzen Reichsbürgerin. Ihre Behauptung, sie sei Halbjüdin, ist aus jüdischer und deutscher Sicht falsch.
Ausbildung
In Berlin und Dresden besuchte Hildegard Brücher die Schulen.[3] In der Zeit des Nationalsozialismus besuchte sie (1937) das Nobel-Internat Schloß Salem am Bodensee, das sie einmal „eine sehr demokratische Schule mit geistig hochstehenden Menschen, die sich durchs Dritte Reich quälten“, nannte. Nach dem Abitur auf dem Realgymnasium in Konstanz (1939) studierte sie an der Münchner Universität Chemie, was trotz ihrer angeblichen halbjüdischen Abstammung offenbar problemlos möglich war.
In Biographien heißt es, sie habe „zum weiteren Widerstandskreis um die Weiße Rose der Geschwister Scholl“ gehört und soll im selben Labor wie der 1943 nach der Münchner Flugblattaktion hingerichtete Student Hans Leipelt gearbeitete haben. An direkten Widerstandshandlungen teilzunehmen, sei sie krankheitshalber verhindert gewesen. Daß sie in der Schulzeit am Bodensee von einem NS-Direktor schikaniert worden sei, wie sie 1993 dem „Südkurier“ (Konstanz) gegenüber behauptet hatte, rief ehemalige Mitschülerinnen auf den Plan, die in der Ortspresse das Gegenteil bezeugten.[4]
1945 promovierte Hildegard Brücher bei Nobelpreisträger Heinrich Wieland in Organischer Chemie mit der Dissertation „Untersuchungen an den Hefemutterlaugen der technischen Ergosterin-Gewinnung“. Von September 1949 bis Mai 1950 studierte Hildegard Brücher mit einem Stipendium an der Harvard University. Als aktive Sportlerin war sie einmal süddeutsche Kraulmeisterin.[5]
Wirken
Um ihre jüngeren Geschwister finanziell unterstützen zu können, arbeitete Hildegard Brücher von 1945 bis 1948 als wissenschaftliche Redakteurin beim VS-Besatzungsblatt „Neue Zeitung“ in München.[4] Hier begann ihre intensive Beschäftigung mit deutschen Schul- und Hochschulfragen. 1949 zählte sie zu den Initiatoren der Zeitschrift „Lebendige Erziehung“. Als sie 1946 den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss interviewte, machte er ihr Mut, Politikerin zu werden. 1946 schloß sie sich den Freidemokraten an und trat als Linksliberale hervor.[4] Sie wurde 1948 Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) und vertrat von Frühjahr 1948 bis 1954 ihre Partei im Münchner Stadtrat. Von 1950 bis 1966 gehörte Hildegard Brücher dem Bayerischen Landtag an, wo sie sich vor allem gegen die Konfessionsschule einsetzte. Da ihre betont liberalen Vorstellungen zur Bildungspolitik auch bei Parteifreunden auf Widerstand stießen, kam sie bei der Landtagswahl 1962 auf den scheinbar aussichtslosen 17. Listenplatz. Dank der Kampagne eines überparteilichen „Bürgerkomitees zur Wiederwahl von Dr. Hildegard Hamm-Brücher“ erhielt sie mit 44.300 Stimmen mehr als doppelt so viel Zustimmung wie der Erste auf der FDP-Liste und rückte damit nach bayerischem Wahlrecht auf den ersten Platz vor. Von 1963 bis 1976 war Hildegard Brücher erstmals Mitglied des Bundesvorstands der FDP und gehörte ab 1972 auch dem Parteipräsidium an.
1964 führt Hildegard Hamm-Brücher den Sturz des damaligen bayerischen Kultusministers Theodor Maunz herbei, dem sie „Verstrickungen“ mit dem Nationalsozialismus vorwarf. Zwei Jahre später organisierte sie das erste Volksbegehren Bayerns, durch das sie die Einführung der Gemeinschaftsschule durchsetzen wollte.
Von 1969 bis 1972 wirkte sie als Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium, von 1976 bis 1982 als Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Von 1969 bis 1990 war sie Bundestagsabgeordnete. Sie ist eine „dem Sühnedeutschtum verpflichtete Politikerin“ („Deutsche National-Zeitung“). 1994 kandidierte sie vergebens um das Amt des BRD-Bundespräsidenten.
Am 6. Oktober 2001 wurde bekannt, daß die Präsidentin des Bundes„verfassungs“gerichts, Jutta Limbach, von Hildegard Hamm-Brücher den Vorsitz der Theodor-Heuss-Stiftung übernommen hat.
2002 verließ Hamm-Brücher wegen der Israel-Kritik Jürgen Möllemanns, damals noch FDP, ihre Partei. In einem Brief an den FDP-Parteivorsitzenden Guido Westerwelle erklärte sie am 22. September 2002 ihren Austritt aus der Partei. Als Gründe gab sie die „andauernde rechtspopulistische, antiisraelische und tendenziell Antisemitismus schürende Agitation“ Jürgen Möllemanns und die Führungsschwäche Westerwelles an, der zu den Fehltritten Möllemanns „zu lange geschwiegen“ habe.
Im Juli 2004 bezeichnete sie das Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 als „Glücksfall“ für die demokratische Entwicklung der nachfolgenden BRD, da nur dadurch eine bedingungslose Bezwingung Deutschlands möglich gewesen sei. Sonst wäre offensichtlich geworden, daß der Krieg nicht gegen Hitler oder den Nationalsozialismus geführt wurde, sondern gegen Deutschland.
Familie
Hildegard Brücher war seit 1954 mit dem Juristen und früheren Münchner Stadtrat Dr. jur. Erwin Hamm (CSU) verheiratet, der bis zu seiner Pensionierung 1974 Betriebs- und Krankenhausreferent in München war. Hamm-Brüchers haben einen Sohn, Florian (geb. 1955), und eine Tochter, Verena (geb. 1959). Erwin Hamm starb im Februar 2008 im Alter von 98 Jahren. Hildegard Brüchers Freizeitbeschäftigungen waren Schwimmen, Skilaufen und die Gartenarbeit.
Mitgliedschaften / Ämter
Hildegard Brücher führte seit der Gründung (12/1963) den Vorsitz der von ihr initiierten Theodor-Heuss-Stiftung. Ferner war sie Mitbegründerin des 1989 gegründeten Förderprogramms „Demokratisch Handeln“ (gemeinsame Trägerschaft der Akademie für Bildungsreform und der Theodor-Heuss-Stiftung) und war im Vorstand des Fördervereins Demokratisch Handeln e. V.. Seit 1970 war sie Mitglied des Goethe-Instituts. Sie war Mitglied des Kuratoriums am Jüdischen Zentrum München und gehörte dem Kuratorium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an, dem Senat der Max-Planck-Gesellschaft (seit 1971), dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik, der EKD Synode und dem Präsidium des Evangelischen Kirchentags. Sie unterstützte den Verein GesichtZeigen – Für ein weltoffenes Deutschland e. V.
Stiftung eines Förderpreises für Demokratie
Seit 2009 wird der Hildegard Hamm-Brücher-Förderpreis für Demokratie lernen und erfahren verliehen. Die ersten Preisträger sind Wolfgang Edelstein und Eva Madeling.
Auszeichnungen (Auszug)
- 1966: Wolfgang-Döring-Medaille
- 1981: „München leuchtet“ in Gold
- 1982: Ehrendoktorwürde Universität Lima
- 1984: Wilhelm-Leuschner-Staatsmedaille
- 1989: Bayerische Verfassungsmedaille in Gold
- 1991: Goldene Ehrenbürgermedaille der Stadt München
- 1992: Buber-Rosenzweig-Medaille, von der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
- 1993: Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband
- 1995: Ehrenbürgerschaft der Stadt München
- 1995: Comenius-Preis
- 1996: Wilhelm-Hoegner-Preis
- 10. November 2001: Lothar-Kreyssig-Friedenspreis, für ihre Verdienste um die Aussöhnung Deutschlands mit Osteuropa, in Magdeburg (mit 5.000 DM dotiert)
- 10. Oktober 2002: Wartburgpreis, für herausragende Verdienste um die europäische Einigung (mit 5.000 Euro dotiert)
- Juni 2005: Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena, für ihre Verdienste zur Reform und Modernisierung von Bildung und Erziehung
- 27. November 2005: Heinz-Galinski-Preis, für ihr langes Engagement für die Aussöhnung und Verständigung zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland
- September 2010: Eugen-Kogon-Preis der Stadt Königstein im Taunus für „gelebte Demokratie“
- 2011: Moses Mendelssohn Medaille
- 27. November 2011: Marion-Dönhoff-Preis (20.000 Euro dotiert)[6]
Siehe auch
- Heinz-Galinski-Stiftung
- Aktivitäten des Zentralrats der Juden in Deutschland
- Parlament
- Rainer Zitelmann
Fußnoten
- Geboren 1921
- Gestorben 2016
- Vierteljude
- Jüdischer BRD-Politiker
- Bundestagsabgeordneter (Bayern)
- Landtagsabgeordneter (Bayern)
- FDP-Mitglied
- Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband
- Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille
- Eugen-Kogon-Preisträger
- Träger des Marion Dönhoff Preises
- Heinz-Galinski-Preisträger
- Träger der Wilhelm-Leuschner-Medaille
- Ehrenbürger von München
- Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Parlamentarischer Staatssekretär (Bundesrepublik Deutschland)
- Staatsminister im Auswärtigen Amt