Vertreibung von Aussig

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Aussig an der Elbe um 1910, von der Humboldtshöhe gesehen, sichtbar sind die Villa Wittrusch, die Altstadt, den Marienberg und die Einmündung der Biela in die Elbe, die rechts unten im Bild die Eisenbahnbrücke überquert

Die Vertreibung von Aussig stellt die Gesamtheit der Maßnahmen und Aktionen seitens der tschechischen Verwaltung, der von ihnen beauftragten Partisanen, und der mitarbeitenden Ziviltschechen dar, die zu dem Genozid, d.h. Völkermord an die sudetendeutschen Einwohner dieser Stadt, sowie zu der Drangsalierung und Zwangsaussiedlung deren Überlebenden in den Jahren 1945 und 1946 führte. Trister Höhepunkt der Maßnahmen bildet das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945, als ungefähr 600 bis 800 sudetendeutsche Einwohner, zum einen Teil bereits ermordet, zum andern Teil von Salvenfeuer aus Maschinenpistolen und Gewehren begleitet, von der örtlichen Neuen Brücke in die Elbe geworfen wurden.

Einwohner der Stadt Aussig

Problematisch ist an erster Stelle die Zahl der Betroffenen. Insgesamt 66.975 Einwohner hatte die Stadt Aussig im Jahre 1939 aufzuweisen. Einige Tausend von ihnen möchten tschechischer Herkunft gewesen sein, setzt ein historischer Atlas den sudetendeutschen Anteil der damaligen Bevölkerung auf ungefähr 80 Prozent an[1]. Einige Tausend, vornehmlich deutsche Männer, dürften zudem im Kriege, zum Beispiel an der Ostfront, im Einsatz, oder bereits ums Leben gekommen sein[2]. Die genaue Anzahl der Opfer der alliierten Angriffe im April 1945 läßt sich schwierig feststellen, Überreste sollen nur von 513 Toten gefunden worden sein[3]. Dabei sollte jedoch in Betracht gezogen werden, daß bei alliierten Luftangriffen, sowie auf das nur um 60 km entfernte, fast benachbarte Dresden, jeweils unzählige Bürger körperlich von den Einschlägen und nachfolgenden Feuersbrünsten derart beeinträchtigt wurden, daß es keine Überreste ihrer Personen mehr gegeben hat. Konkret wurde in Schutzkellern der genannten Stadt von der zu extremen Werten ansteigenden Hitze eine bisher unbekannte Zahl der Einwohner lebendig kremiert. Die Zahl der aufgefundenen Körper, bzw. Körperteile, in Aussig stellt daher nicht notwendig die Gesamtzahl der Opfer dar. Anzunehmen ist, daß die Stadt in den letzten Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht auf jedem Fall um 50.000 sudetendeutsche Einwohner innehatte. Dazu könnten sich noch Kinder der Kinderlandverschickung in Stadtnähe aufgehalten haben, weist doch die Geschichte des Banater Lehrers Ludwig Schwan darauf hin, daß es in Böhmen noch im April 1945 zum Teil provisorische KLV-Lager gegeben hat.

Ostdeutsche Flüchtlinge

Die Anzahl der im Jahre 1945 in Aussig befindlichen ostdeutschen Flüchtlinge, vornehmlich aus Schlesien und Ostpreußen, wird durchaus auf einige Tausend angesetzt. Es gibt jedoch Hinweise darauf, das diese Zahl grundsätzlich unzureichend ist. In seinem Buch „Polen - nicht nur Opfer“ schätzt der Verfasser Joachim Nolywaika die Zahl der in den ostdeutschen Gebieten verbleibenden Deutschen auf 16 Million, von ihnen 13 Million Einheimische, und dazu 3 Million Flüchtlinge aus West- und Mitteldeutschland, die dem alliierten Bombenterror zu entrinnen versuchten. Beim Einschreiten der Roten Armee erfolgte dann anläßlich der Greueltaten in Nemmersdorf auf deutscher Seite eine Flucht der Zivilisten in umgekehrter Richtung. Fast eine halbe Million sollen Dresden erreicht haben, als dort am 13. Februar 1945 der allesvernichtende Luftangriff stattfand. Weitere Millionen dürften die Flüsse Oder und Elbe überquert haben, auf der Suche nach von den Kriegswirren bisher unbeschadeten Brücken, und dabei auf Aussig an der Elbe gestoßen sein. Augenzeugen berichten, daß hier manchmal mehrere Familien in einer Wohnung einquartiert werden mußten. In einem Bericht von Ingeborg Weiß heißt es:

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Die Stadt Aussig ist noch im April mit Flüchtlingen überfüllt. Meist sind es Schlesier, die schon ihre ersten Erfahrungen mit den Sowjets hinter sich haben. Ein erster schwerer Bombenangriff auf die Stadt zwingt die Verantwortlichen der Stadtverwaltung, rasche Vorkehrungen für die obdachlose Bevölkerung zu treffen.

– Emil Franzl, Die Vertreibung, Seite 240

Falls Aussig an der Elbe zur Zeit gleichermaßen mit Flüchtlingen belegt worden war wie Dresden, ist bei einer derzeitigen Bevölkerung von ungefähr 70.000 Personen mit etwa 50.000 Flüchtlingen zu rechnen. In diesem Bereich soll erwähnt werden, daß einheimische Tschechen nach wie vor ungestört in der Stadt leben könnten, wie schwierig sich auch die Lage für die Sudetendeutsche und ihre Volksgenossen gestaltete. Dabei wurde auf deutscher Seite die neuentstandene Lage diszipliniert bewaltigt.

Die Zahl der Todesopfer

Einwohner und Flüchtlinge in Aussig an der Elbe April 1945
Sudetendeutsche Einwohner 50.000
Bisherige sudetendeutsche Opfer des Weltkrieges (und noch an den Fronten verbleibenden Söhne der Stadt) 3.000
Opfer der alliierten Bombenangriffe von März und April 2.000
Tschechische Einwohner 12.000
Schlesische und Ostpreußische Flüchtlinge 50.000

Die oben vorgeführten Zahlen sind ziemlich grobe Schätzungen, und somit nur annähernd eine Widergabe der wirklichen Verhältnissen. Dies belegt die Bedürftigkeit der bisherigen Forschungen. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergibt sich aus denen kein einheitliches Bild der damaligen Geschehnissen in dieser sudetendeutschen Elbestadt. Setzt man jedoch die Zahlen der einheimischen Einwohner, der Reihe nach sudetendeutsche und tschechische, auf 55.000 und 12.000 an, schätzt man die Opfer von Krieg und Luftangriffen auf einige Tausend, dabei die Anzahl der Flüchlinge auf 50.000, muß man auf 100.000 deutsche Einwohner am Ende der Monat April schließen. Da die Zahl der Vertriebenen, sowohl der ersten, wilden, als der späteren, planmäßig durchgeführten Vertreibungen aus Aussig durchaus mit 53.000 angegeben wird, ist mit einer weitaus höheren Zahl der Todesopfer zu rechnen, als in den bisherigen Systemforschungen aufgezeigt wird. Nicht einige Tausend, sondern mehr als 45.000 Tausend Sudetendeutsche und ostdeutsche Flüchtlinge dürften in Aussig ein überaus entsetzliches Ende gefunden haben[4].

Die vornehmsten Todesursachen, bzw. Stätte waren die in vielen Forschungen unbeachteten, bereits bestehenden und ab Mai 1945 neu geschaffenen städtischen Gefängnisse, das Vernichtungslager Aussig-Lerchenfeld, sowie die Massaker von Aussig. Die Massaker, weil das Massaker vom 31. Juli Augenzeugenberichte zu Folge nicht das einzige gewesen ist. Nicht bekannt wurde bisher zudem die genaue Anzahl der Deutschen, die den Freitod wählten.

Einmarsch der Roten Armee

Dieses Plakat des Volkssturmes aus dem Jahre 1945 könnte noch in April in Aussig angeklebt worden sein

Aus dem Bericht von Ingeborg Weiß geht hervor, daß beim Einmarsch der sowjetischen Truppen am 8. Mai ihrerseits nur einige von dem Volkssturm errichtete Sperren an Ausfallstraßen geräumt werden mußten. Auf dem Marktplatz wurden sie von Vertretern eines tschechischen Nationalausschusses, dem vom sudetendeutschen Oberbürgermeister[5] am vorherigen Tag die Stadtverwaltung übergeben war, begrüßt. Am 9. Mai soll es dann bei Gefechten zwischen SS-Angehörigen und Rotarmisten noch einige Todesopfer gegeben haben. Die erste Nacht unter russischer Besetzung war also entweder vom 8. bis 9. Mai, oder vom 9. bis 10. Mai. Ingeborg Weiß dazu:

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Die Dunkelheit der ersten Nacht unter russischer Besetzung senkte sich über Aussig, als auch die ersten Ausschreitungen begannen. Die Sowjets drangen in die Häuser ein, plünderten, was sie vorfanden, und bald ertönten die ersten Schreie der gequälten Frauen durch die Nacht. Die Ausschreitungen wurden zügellos. Unzählige Frauen fielen bereits in dieser Nacht den Sowjets zum Opfer. Bis zum 14. Mai war dem Oberbürgermeister der Stadt ein tschechischer Vertrauensmann beigegeben. An diesem Tag erfolgte dann die Verhaftung des letzten deutschen Oberbürgermeisters, der einer sowjetischen Einheit übergeben wurde.

– Emil Franzl, Die Vertreibung, Seite 241

Bald setzten Plünderungen und Mißhandlungen seitens tschechischer Militärpolizei und tschechischer, privater Plünderern ein, die Deutsche waren vogelfrei geworden. Der Internist, zudem Direktor und Primararzt der inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses, Dr. med. Franz Bardachzi erklärte später:

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Überall wurden Dekrete angeschlagen, in welchen die Enteignung aller Deutschen und ihre Entlassung aus allen Dienststellen angeordnet wurden. Auf großen Plakaten stand zu lesen, daß der Gebrauch der deutschen Sprache untersagt war. Alle deutschen Veröffentlichungen mußten eingestellt, die Schulen mußten geschlossen werden. Und alle Deutschen hatten eine weithin sichtbare weiße Armbinde zu tragen. Das Sprechen und Stehenbleiben auf der Straße war gleichfalls streng verboten.

– Emil Franzl, Die Vertreibung, Seite 244

Städtische Gefängnisse

Vernichtungslager Aussig-Lerchenfeld

Massaker von Aussig

Hauptartikel: Massaker von Aussig

Freitod

Die Brücke von Aussig

Die den Elbefluß überragende Neue Brücke wurde am 31. Juli des Jahres 1945 Schauplatz tief ergreifender Ereignisse, als von dieser Brücke die Leichname von ungefähr 600 getöteten Deutschen in die Elbe geworfen wurden. Dazu kamen ungefähr 200 noch lebendige Deutsche, unter ihnen eine Mutter mit ihrem Kind im Wagen, die unter Begleitfeuer von Maschinenpistolen ebenfalls in den Fluß hinunter gestoßen wurden. Die Brücke gilt seitdem als Wahrzeichen der Vertreibung von Aussig. Nur ein kleines, zweisprachiges[6] Schild am Brückenrand erinnert seit dem Jahre 2005 an den begangenen Mord an die Sudetendeutschen, sowie an die zur Zeit in der Stadt verbleibenden, und in die Falle gegangenen ostdeutschen Flüchtlinge.

Die Inschrift lautet auf Deutsch:

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ZUM GEDENKEN AN DIE OPFER DER GEWALT VOM 31.JULI 1945

– Brücke von Aussig, Inschrift des kleinen Schildes am Brückenrand
Die Inschrift des kleinen Schildes am Brückenrand.jpg


Literatur

  • Emil Franzl: „Die Vertreibung. Sudetenland 1945–1946.“ Aufstieg Verlag, Landshut 1967, ISBN 3-7612-0149-4
  • Roland Pietsch und Heinrich Pleticha: „Sudetendeutscher Heimatatlas.“ Weltbild Verlag, Augsburg 2012, ISBN 978-3-8289-0911-3
  • Joachim Nolywaika: „Polen — nicht nur Opfer. Die Verschwörung des Verschweigens.“ Deutsche Stimme Verlag, Riesa 2006, ISBN 3-935102-13-5

Verweise

Fußnoten

  1. Pietsch, Pleticha, Sudetendeutscher Heimatatlas, Seite 14. Bitte beachte, manche Systemforschungen setzten die Rate der einheimischen Sudetendeutschen jedoch höher an, so wäre im April 1945 von 60.000 sudetendeutsche Einwohner die Rede gewesen. Ob dabei die Zahl der bereits an den Fronten gefallenen Söhne der Stadt, sowie der Opfer der Luftangriffe, ausreichend betrachtet wurde, geht aus benannten Forschungen jeweils nicht hervor.
  2. Ein Augenzeugenbericht des Überlebenden Heinrich Michel zum Lager Aussig-Lerchenfeld befaßt sich im dreizehnten Abschnitt mit dem Los eines jungen, gerade heimgekehrten Aussiger Wehrmachtssoldaten.
  3. So in der tschechischen Nachforschung Vladimír Kaisers: Das Ende des Krieges und die Vertreibung der Deutschen aus dem Aussiger Gebiet, in Detlef Brandes, Edita Ivaničková und Jiří Pešek: Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien.
  4. Bitte beachte, Zahlen derzeit in der Nähe von Aussig gefallener Wehrmachtssoldaten und SS-Angehöriger sind hier nicht berücksichtigt worden.
  5. Der Bürgervater hieß Franz Czermak. Bei der Übergabe sollen die Stadtkasse, der Mittelwellensender und die Eisenbahnverwaltung einbegriffen gewesen sein.
  6. Die Inschrift ist, der Reihe nach, auf Tschechisch und Deutsch verfaßt worden.