Westbindung
Die Westbindung (auch Westintegration) bezeichnet die Anlehnung des westdeutschen Rumpfstaates (Bonner Republik) nach Kriegsende an die westlichen Besatzungsmächte ohne eigentliche deutsche Interessenpolitik. Erzwungen wurde die Westbindung von Konrad Adenauer, der damit Mitteldeutschland verriet und Ostdeutschland auf lange Zeit der Okkupation und weiteren Ausplünderung preisgab. Adenauer schwebte eine Wiederbelebung des französisch dominierten Rheinbundes vor, zu dessen Zeit die französischen Besatzer allein über die politischen Geschicke im von ihnen besetzten Teil Deutschlands entschieden.
Edgar Julius Jung betonte in seiner 1933 erschienenen Schrift „Sinndeutung der deutschen Revolution“, daß Deutschland sich seit dem Untergang des alten Reiches 1806 im Schlepptau des Westens, d. h. zunächst Englands und Frankreichs, befunden habe. Der Schwerpunkt Europas sei damals nach Westen verschoben worden. Im Ausgang des Weltkrieges, den er als Kampf zwischen den Ideen von 1789 und denen von 1914 betrachtet, sieht Jung dies bestätigt: Genf und Versailles seien Symbole des Sieges von 1789. Also gerade kein Sonderweg Deutschlands, sondern vielmehr eine Aufgabe des eigenen, bis 1806 verfolgten Weges.[1]
Inhaltsverzeichnis
Nach dem Ersten Weltkrieg
Bereits in der Zwischenkriegszeit ging es im Rahmen der Erfüllungspolitik darum, ob sich das Weimarer System eher nach Westen oder in Richtung Osten orientieren sollte. Durch den Vertrag von Rapallo gelang es Deutschland jedoch, sich noch einmal aus dem Würgegriff des Westens zu befreien.
Schon damals schrieb Arthur Moeller van den Bruck:
- „Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen ausgesetzt gewesen ist, und das uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind. Nachdem wir so lange zum Westen hinübergesehen haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach dem Osten hinüber und suchen die Unabhängigkeit.“[2]
Die fruchtbare Zusammenarbeit fand nur ein Ende, da der sowjet-bolschewistische Diktator Stalin Rußland, Europa und letztlich die Welt ins Unglück stürzte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Bei der neuerlichen Westintegration ab 1945 ging es nunmehr jedoch um die totale politische, ökonomische, militärische und kulturelle Einbindung des westdeutschen Rumpfstaates und damit die Preisgabe des Selbstverständnisses als deutscher Nation. Die Westbindung vertiefte die Spaltung Deutschlands. Die SPD lehnte die Westintegration deshalb zunächst ab, bekannte sich dann aber im Godesberger Programm von 1959 zu ihr.
Verhinderte Einheit
Eine Wiederherstellung der deutschen Souveränität oder gar Wiedervereinigung des zersplitterten deutschen Territoriums stand demzufolge für Adenauer von Anfang an nicht zur Debatte. Die West-BRD sollte im westlichen Lager verankert und ihre „Demokratie“ ausreichend gefestigt werden. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik in den Europarat (1951), dem 1952 unterzeichneten Deutschlandvertrag sowie der Aufnahme Deutschlands in die Westeuropäische Union (1954) waren wichtige politische Schritte für die Westintegration vollzogen. Weitere Schritte waren der Beitritt zur Montanunion und zuvor zum Vorgänger, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1952), das Anstreben einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), zur NATO (1955), zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zur Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM, beides 1957).
Selbst in der CDU gab es große Widerstände gegen die Verträge. So trat der damalige Innenminister Gustav Heinemann (später Bundespräsident) zurück. Er schrieb zu seinem Rücktritt:
- „Vor allem ist es objektiv widersinnig, die deutsche Einheit durch Eingliederung Westdeutschlands in den Westblock zu suchen. Westdeutsche Aufrüstung wird den Eisernen Vorhang dichter schließen. Die Deutschen in der Sowjetzone haben Kriegs- und Rüstungsdienst für die Sowjetunion als Antwort auf unsere Eingliederung in den Westblock zu erwarten. Ein Keil wird den anderen treiben, mit dem Ergebnis, daß eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands immer aussichtsloser wird.“[3]
Bereits am 15. Januar 1951 lehnte Adenauer den Vorschlag des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl ab, einen „Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat“ zu bilden, um dort Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu führen. Statt dessen forderte Adenauer, zunächst in der DDR die Voraussetzungen für die Durchführung freier Wahlen zu schaffen. Grotewohls Vorstoß unter dem Motto „Deutsche an einen Tisch“ sollte der von Adenauer erzwungenen Westintegration und der Wiederbewaffnung entgegenwirken und damit eine weitere Spaltung Deutschlands verhindern.
Stalin-Noten
Die Stalin-Noten vom März 1952 waren für das Ziel Adenauers die größte Bedrohung:
- „Eisenharte strategische Disziplin ließ deshalb den Kanzler 1955 vertraulich nach London signalisieren, daß die weitere Westintegration gegenwärtig bedeutsamer wäre als eine erneute Diskussion um die Wiedervereinigung.“[4]
Der britische Außenminister Sir Ivone Kirkpatrick unterbreitete dem deutschen Botschafter in London dennoch das Angebot...
- „...daß wir in dieser Frage vielleicht flexibler als die Amerikaner sein sollten. Wir könnten zu einer Position kommen, in der wir erklärten, daß wir, unter Voraussetzung einer Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage freier Wahlen und der Handlungsfreiheit für eine gesamtdeutsche Regierung in inneren und äußeren Angelegenheiten, jeden einigermaßen vernünftigen Sicherheitsvertrag mit den Russen unterzeichnen sollten.“[3]
Damit stieß er bei Adenauer auf eisige Ablehnung. Kirkpatrick schrieb zum deutschfeindlichen Verhalten Adenauers:
- „Dr. Adenauer wollte mich [Kirkpatrick] wissen lassen, daß er eine solche Haltung mißbillige. Der entscheidende Grund sei, daß Dr. Adenauer kein Vertrauen in das deutsche Volk habe. Er sei äußerst besorgt, daß sich eine künftige deutsche Regierung, wenn er von der politischen Bühne abgetreten sei, zu Lasten Deutschlands mit Rußland verständigen könnte. Folglich sei er der Meinung, daß die Integration Westdeutschlands in den Westen wichtiger als die Wiedervereinigung Deutschlands sei.“[3]
Darüber hinaus teilte Adenauer mit, es würde natürlich katastrophale Folgen für seine politische Position haben, wenn seine Ansichten, die er Kirkpatrick in solcher Offenheit mitgeteilt habe, jemals in Deutschland bekannt würden.
Hier sagte Adenauer ganz deutlich, daß er überhaupt keine Wiedervereinigung wollte. Er bestand sogar darauf, daß eine Möglichkeit zur Wiedervereinigung wie durch die Stalin-Note möglichst vermieden werden sollte. Er wollte die feste Einbindung in den Westen um jeden Preis, die mit Annahme der Stalin-Note nicht mehr möglich gewesen wäre. Adenauer setzte damit die Forderung seines Schwagers John McCloy um, dessen Auftrag als Hoher Kommissar der VSA in Deutschland darin bestand, nach dem Motto „lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb“ zumindest einen Teil Deutschlands in ein westliches Militär- und Wirtschaftsbündnis zu führen.
Viermächtekonferenz
Im Februar 1954 kam es in Berlin zur Viermächtekonferenz, bei der auch Aspekte einer deutschen Wiedervereinigung erörtert werden sollten. Am 18. Februar 1954 ging die Viermächtekonferenz zu Ende. In der Deutschlandfrage hatte sie kein Ergebnis gebracht. Die Standpunkte blieben unvereinbar. Bundeskanzler Konrad Adenauer jedoch schien das Scheitern der Konferenz ganz recht zu sein. Ihm war die Westintegration immer schon wichtiger gewesen als die Wiedervereinigung, auch wenn er das nicht so offen sagte. Jetzt, nach dem Scheitern des Vierertreffens, würde jeder einsehen, daß es eine ernsthafte Alternative zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, der EVG, nicht gab.
Nato-Beitritt
Mit der Wiederbewaffnung, dem WEU-Beitritt und der NATO-Mitgliedschaft schaffte Adenauer vollendete Tatsachen. Der Sozialdemokratische Pressedienst schrieb dazu:
- „Die Kluft wird vertieft [...] Das deutsche Volk hat keinen Anlaß zum Jubeln. Die Unterzeichnung des Generalvertrages erschwert die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und vertieft die Kluft, die die Bundesrepublik von den achtzehn Millionen in der Sowjetzone trennt.“[3]
Die Meinung von Erich Ollenhauer (SPD) dazu war:
- „Die Eingliederung der Bundesrepublik in das militärische Verteidigungssystem des Westens [...] kann nur zu einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands führen. Demgegenüber ist die Annahme, daß das Aufrüsten der Bundesrepublik in der europäischen Gemeinschaft zu einer größeren Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion führen könnte, bestenfalls eine spekulative Hoffnung und nicht mehr [...]“[3]
Mauerbau als Konsequenz
Festzustellen ist, daß Adenauer, indem er alle Chancen auf Wiedervereinigung bewußt ungenutzt ließ und sie sogar bewußt verhindert hat, die Teilung Deutschlands objektiv erheblich begünstigt hat. Auch sein Verhalten am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus zeigt, wie unwichtig für ihn eigentlich die deutsche Einheit war. Er setzte seine Wahlkampftour fort, ohne sich großartig um die Ereignisse zu kümmern. Für ihn war die Teilung Deutschlands eigentlich schon seit dem Kriegsende beschlossene Sache. Daher war der Mauerbau für ihn auch kein einschneidendes Ereignis, da damit nur die von ihm bereits geschaffenen Tatsachen zementiert wurden.
Deutschfeindliches Ergebnis
Gustav Heinemann sagte 1962 im Rückblick nochmals das, was er schon zehn Jahre vorher erklärt hatte:
- „Über der Politik der großen Worte und einer eingebildeten Stärke wurde das Angebot der Sowjetunion von 1952/54 noch nicht einmal ausgelotet, sondern rundweg ausgeschlagen - das Angebot, einen Friedensvertrag mit einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung gegen Verzicht des wiedervereinigten Deutschland auf militärischen Aufmarsch gegen die Sowjetunion einzuhandeln [...] Uns [...] von der Hinterlassenschaft der Adenauer-Politik abzuwenden, steht uns leider nicht frei. Die Angebote, die Alternativen, die gestern galten, sind heute überholt. Die Zeit hat nicht für, sondern gegen Gesamtdeutschland gearbeitet. Nichts weist die Sowjetunion heute heftiger zurück, als was sie vor zehn Jahren vergeblich anbot. Auch Europa will nicht halten, was die Adenauer, Schuman und de Gasperi in den fünfziger Jahren versprachen.“[3]
Folge der Spalterpolitik Adenauers im Zuge der Westbindung waren die gegenseitige Entfremdung des deutschen Volkes in West- und Mitteldeutschland über Jahrzehnte der Teilung, die Preisgabe Ostdeutschlands unter dauerhafte Fremdherrschaft und letztlich die Zerstörung der Identität des deutschen Volkes und seines Bewußtseins als Nation.
- „Bezahlen mußten die Westbindung die 18 Millionen Deutsche in der DDR, bezahlen mußten das auch etwa 10.000 Kriegsgefangene, die in der Sowjetunion zu 25 Jahren „Arbeits- und Besserungslager“ – so nannte man dort das Todesurteil – verurteilt worden waren, und bezahlen mußten das im Endeffekt auch die Westdeutschen, die von dieser ‚Westbindung‘ nicht mehr loskommen und die jetzt sogar mit der Bundeswehr so etwas wie Söldnerdienste für die westliche Wertegemeinschaft – was immer das auch ist – ableisten müssen.“[5]
Siehe auch
Verweise
- Radioprotokoll der Ereignisse der Viermächtekonferenz 1954
- Adenauers Deutschland-Verrat
- Hintergrundwissen
- Zeitschrift „Neue Politik“ März/April 2003: Dr. Gerhard Schmidt: 1955 bis 1990, 35 Jahre unnötiger deutscher Spaltung (PDF-Datei)
Literatur
- Marianne Weil: Das Märchen von der Wiedervereinigung, erzählt von Konrad Adenauer. Ein Hörspiel mit Adenauers entlarvenden Passagen; Der Audio Verlag 2004. 1 Audio-CD. ISBN 978-3-89813-354-8
- Caspar von Schrenck-Notzing: Charakterwäsche. Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen. Ares-Verlag, Graz 2004 (3. Aufl. 2010), ISBN 978-3-902475-01-5
- Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, aus dem Amerikanischen von Angelika Beck; mit einem Vorwort von Hans Dietrich Genscher (amerikanische Originalausgabe: ›The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperatives‹, 1997); Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14358-6
- Manfred Kleine-Hartlage: Die liberale Gesellschaft und ihr Ende. Über den Selbstmord eines Systems. Verlag Antaios, Schnellroda 2013, ISBN 978-3-944422-30-5