Operation Hydra
Operation Hydra war der Deckname der ersten Bombardierung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und der Erprobungsstelle der Luftwaffe „Peenemünde-West“ auf Usedom in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 durch die britische Luftwaffe, die gleichzeitig mit der Operation Whitebait stattfand. Ob nun mit „Hydra“, dem vielköpfigen schlangenähnlichen Ungeheuer der griechischen Mythologie, die Deutschen oder die Briten gemeint waren, ist nicht bekannt. Die Briten bewerteten die Operation Hydra anschließend als „not effective“, was ungefähr so viel heißt wie kompletter Reinfall.
Die ursprüngliche Bezeichnung für alle anglo-amerikanischen Unternehmen gegen die deutschen Langstreckenwaffenprogramme vom Sommer 1943 bis 1945 war Operation Bodyline, am 15. November 1943 wurde dann der neue Deckname Operation Crossbow festgelegt.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Vorbereitungen
Durch eine Zufallsaufnahme eines „Spitfire“-Aufklärers vom Mai 1943 wurden die Berichte über eine mögliche Raketenproduktion in Peenemünde bestätigt. Im Juni 1943 entschied der britische Premierminister, Winston Churchill, die Anlagen von Peenemünde anzugreifen und leitete damit die Vorbereitung für die Operation Hydra ein. Der Führungsstab der Royal Air Force entschied in der „Bomber-Command-Operations-Order No. 176“, einen „tödlichen Schlag bei Mondschein“ durchzuführen. Der Vernichtung der technischen Anlagen maß man eine zweitrangige Bedeutung bei.
Die Unternehmen begannen bereits ab dem 10. August 1943 mit Einsätzen je zehn britischer Jagdflugzeuge, die durch Angriffe in Richtung Berlin mit Flugrouten nahe bei Peenemünde ein Angriffsschema auf Berlin etablieren wollten, um der deutschen Luftwaffe das eigentliche Angriffsziel zu verschleiern – die Wohnunterkünfte der Wissenschaftler und Mitarbeiter bei Peenemünde, die Militäranlagen galten nach ausdrücklichem Befehl als zweitrangig. Zur Verstärkung dieser Täuschung wurde gleichzeitig mit „Hydra“ die Operation Whitebait mit 28 De Havilland „Mosquitos“ und 10 Bristol „Beaufighters“ (u. a. von Heinz Vinke vom Nachtjagdgeschwader 1 bekämpft) durchgeführt, die tatsächlich auf Berlin zielte.
Voralarm
Als die Gefahr eines Bombenangriffs auf die Peenemünder Anlagen für A4-Raketen immer wahrscheinlicher wurde, erfolgte der Bau von Bunkern und Splittergräben. Alle Karlshagener Frauen und Kinder sollten evakuiert werden, was jedoch immer wieder kriegsbedingt verschoben werden mußte. Der Bombenterror der Royal Air Force erfolgte in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943. Voralarm war um 23.25 Uhr, gegen 24.00 Uhr strahlten die Rundfunksender ebenfalls eine Vorwarnung aus, glaubten aber an einen Weiterflug, wie immer, auf Berlin. Innerhalb weniger Minuten wurde das Gelände vernebelt. Um 1.09 Uhr warfen Pfadfinderbomber rote Markierungen über Peenemünde ab, eine Minute später fielen aus 16 Blindmarkierungsmaschinen weiße Leuchtfallschirmbomben, danach folgten Gelblichtbomben, die grüne Markierungen zeigten. Die schweren Flakbatterien am Kölpinsee und am Rande des Flugfeldes, die Flaknester am anderen Peeneufer und bei Karlshagen, die 2-cm-Flak von den Dächern der höchsten Gebäude sowie die 3,7 vom Hafen und Vorwerk Gaaz eröffneten das Abwehrfeuer, die Tragödie nahm ihren Lauf.
Der Angriff
Der Angriff begann um 1.15 Uhr. Während des Angriffes unter dem Decknamen Operation Hydra warfen rund 596 britische Bomber (Avro „Lancaster“, Handley Page „Halifax“ und Short „Stirling“) bei ihrem Einsatz 1.593 t Sprengbomben und 281 t Brandbomben über dem Norden der Insel Usedom ab.
In drei Wellen griffen die britischen Bomber, von Rügen herkommend, die Heeresversuchsanstalt an. Die erste Welle bestand aus 227 Bombern; Ziel waren die Wohnhäuser der Wissenschaftler. Die zweite Welle, die vier Minuten später Peenemünde erreichte, hatte die Werkhallen zum Ziel. Die dritte Welle sollte von der gesamten 5. Bomber Group geflogen werden. Der Abwurf der Spreng- und Brandbomben erfolgte nach Stopuhr. Durch die sofort eingeleitete Verneblungsaktion und die Lage des Ziels an einem schmalen Küstenstreifen hatten die Zielmarkierer ihre Leuchtbomben zu weit südlich, in das Lager Trassenmoor, aber auch zu weit nördlich, in der Nähe des Entwicklungswerkes abgeworfen. Lediglich die mittlere Markierung fiel genau in die Wohnsiedlung. Die Folge davon war, daß die erste Welle ihre Bomben nicht wie vorgesehen auf die Siedlung warf, sondern das ca. 2 bis 3 Kilometer südlich gelegene Barackenlager „Trassenmoor“ vernichtete. Allein hier fanden 213 Menschen den Tod.
Die dritte Welle mit 113 „Lancaster“-Bombern griff das Versuchsserienwerk an. In dieser Nacht wurden insgesamt 1.593 Tonnen Sprengstoff und 281 Tonnen Brandbomben auf das Gelände der Heeresversuchsanstalt abgeworfen.
Die Opfer
Für die Siedlungsbewohner gab es nur herkömmliche Splittergräben in sandigen Böden, und nur ein Luftschutzbunker stand in der Nähe von Haus 4 zur Verfügung. Die Zahl der Opfer des Bombardements war somit auch recht hoch und wurde mit mindestens 733 Toten aufgelistet. Die Siedlung wurde bevorzugt bombardiert, da man die Spezialisten – Techniker und Wissenschaftler – eliminieren wollte. Dazu kamen Hunderte verletzte und etwa 3.000 „Fliegergeschädigte“, wie die Ausgebombten bezeichnet wurden.
Etwa 60 von den rund 100 Gebäuden in Peenemünde waren beschädigt worden, die meisten jedoch nur leicht. Die empfindliche Anlage zur Herstellung flüssigen Sauerstoffs und das zentrale Kraftwerk blieben erhalten. Jedoch mußte die Arbeit in Peenemünde für ca. sechs Wochen unterbrochen werden. Die Forschung und Entwicklung ging in Peenemünde jedoch nach einer kurzen Instandsetzungsphase weiter.
Viele Gebäude im Entwicklungswerk und im Werk Süd wurden zerstört oder beschädigt. Auf die Prüfstände und auf das Werk West fielen keine Bomben. Auch das Kraftwerk und die Sauerstoffanlage im Dorf Peenemünde blieben verschont. Große Teile der Wohnsiedlung, das sogenannte Brandenburger Tor, die Post und andere Gebäude wurden zerstört. Unter den insgesamt 733 bzw. 735 vorwiegend zivilen Opfern (andere Schätzungen sind viele höher) befanden sich 123 Bewohner aus Karlshagen und Peenemünde, darunter der Triebwerksspezialist Dr. Walter Thiel und Chefingenieur Dr. Erich Walther (Betriebsleiter des Entwicklungswerkes) mit ihren gesamten Familien.
In den Tagen nach dem Bombenangriff versammelten sich die Einwohner, die in den Baracken des Gemeinschaftslagers Karlshagen eine erste Unterkunft gefunden hatten, mit den wenigen geretteten Gepäckstücken vor dem Wirtschaftsgebäude zur Evakuierung in die umliegenden Ortschaften auf dem Festland. Die Familien der Siedlung wurden auf viele Ortschaften verteilt. Alle noch im Werk Beschäftigten erreichten mit der Werksbahn und Autobussen ihre Arbeitsstelle.
Feindabschuß
Es gelang dem Feind, die Reichsluftverteidigung zu täuschen. Das Hauptziel des Angriffes sah man in Berlin. Als die Täuschung erkannt wurde, schickte die Luftwaffe 30 Nachtjäger Richtung Usedom, die aber nur noch die letzte, die dritte Welle antraf. Sie schossen um 1.35 Uhr dennoch 42 Maschinen auf dem Rückflug ab, 245 britische Besatzungsmitglieder fielen, zahlreiche gerieten nach Fallschirmabsprung in Kriegsgefangenschaft. Die 30 Focke-Wulf Fw 190 verwendeten sehr erfolgreich das „Wilde-Sau-Nachtjagdverfahren“, und es erfolgte der erste Kampfeinsatz der „Schrägen Musik“ durch zwei Bf 110, geflogen von Rottenführer Leutnant Peter Erhardt und seinem Rottenflieger (Flügelmann) Unteroffizier Walter Höker.
Die Luftwaffe verlor während des Unternehmens samt Täuschungs- und Ablenkungs- sowie zahlreicher Störmanöver der Royal Air Force entlang der Küste bei der Verteidigung des Reiches 4 Bf 110, 1 Do 217, 2 Fw 190, 1 Bf 109 und 1 Ju 88.
Generaloberst Hans Jeschonnek, Chef des Generalstabes der Luftwaffe, übernahm die Verantwortung für das Versagen und wählte im Komplex „Robinson“ den Freitod durch die Dienstpistole. Seine Entscheidung galt jedoch als verfrüht, denn die Schäden in Peenemünde, die Walter Dornberger verständlicherweise zuerst als absolut verheerend berichtete, waren weit weniger dramatisch.
Zeugen der Bombardierung
Prof. Wernher von Braun befand sich während des Bombenangriffes im Bunker beim Haus 4. Er hatte bis kurz vor Auslösung des Fliegeralarms den Abend gemeinsam mit Generalmajor Dornberger und der Testfliegerin Hanna Reitsch im Kasino verbracht. Als der Angriff vorüber war, begab er sich in das brennende Haus 4, um aus seinem Büro die wichtigsten Akten zu retten. Seine Sekretärin Dorette Schlidt (geb. Kersten) schilderte in ihren Erinnerungen die Ereignisse nach dem Angriff, als sie den Luftschutzbunker verließ:
- „Die Schläge lassen nach, nur noch vereinzelt fallen Bomben … Wie angewurzelt bleibe ich stehen: Unser Haus 4 brennt, lichterloh. Haus 5 steht in Flammen, ringsum Feuer – ein schauerlich schönes Bild! … Wir rennen am brennenden Haus 5 vorbei, hier und da kracht es noch, Blindgänger gehen hoch, Balken fallen, Giebel stürzen ein, wo ist mein Haus? Ich sehe nichts als Flammen, die Sträucher brennen um uns herum, wir stehen mitten im Feuer, meine Haare fangen an zu sengen, es geht nicht mehr weiter, auch nicht mehr zurück. … Zum Bunker zurück. … Dort ist der Professor, wir müssen die Geheimsachen retten, ich habe den Schlüssel zum Panzerschrank. Aber das Haus brennt, der 2. Stock ist schon herunter, können wir es noch wagen die Treppe hochzugehen? Der Professor geht vor, nimmt mich an die Hand. Es dröhnt und kracht, vorsichtig tasten wir uns an der Wand entlang die Treppe hoch. Jetzt in den Flur, wir zählen 1. Tür, 2., dritte, vierte fünfte Tür – ja das war unser Büro. … Wir erreichen das Zimmer, Panzerschrank auf und raus mit den Sachen. Ich finde jetzt den noch gangbaren Weg, renne mit den Geheimakten die Treppe hoch und wieder runter, jeden Moment kann der Giebel einstürzen, es geht nicht mehr, ich bleibe unten. Der Professor schmeißt jetzt die Sachen aus dem Fenster, auch Tische, Stühle, sogar mit einigen Männern schaffen sie den Panzerschrank heraus …“
Mit zu den ersten Opfern des Angriffes zählten die Einwohner des Dorfes Karlshagen. Besonders in der Hauptstraße wurden einige Gebäude zerstört bzw. stark beschädigt. Auch die Kirche des Ortes wurde schwer getroffen. Der Musiklehrer Ewald Brauns – er wohnte in der Niederstraße bei seinen Großeltern – schrieb in einem Brief an seinem Bruder von seinem Erlebnissen in der Bombennacht:
- „Um 12 Uhr gingen die Alarmsirenen. Ich hörte es wohl, aber da wir ja nicht mehr aufzustehen pflegten, drehte ich mich um und schlief wieder ein. Kurz vor 1 Uhr erwachte ich dann plötzlich von dem Lärm der unzähligen Leuchtkugeln, die über dem Wald am Strand niedergingen. Da wußte ich sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Ich rief Oma und Opa, sofort aufzustehen … Ich war noch beim Ankleiden, machte noch schnell das Fenster auf, - da ging es auch schon los. Die erste Bombenreihe fing bei Beuges an. Eine Bombe berührte den Giebel und warf das Haus sofort in Trümmer. Glücklicherweise hatten alle bereits das Haus verlassen. Eine weitere Bombe detonierte auf Wachtels Weg und gab unserem Haus einen gehörigen Ruck. Die Fensterscheiben zersplitterten und flogen in die Stube, auch die ersten Ziegel kamen vom Dach … Unser Haus drohte einzustürzen und ich rief: ‚Wir müssen raus, sofort raus!‘ Es krachte und blitzte unaufhörlich, jetzt mehr vom Dorf und der Siedlung her. Wir liefen über den Hof. Das Krachen und Zucken setzte sich fort, die Erde schüttelte sich förmlich. Die Stalltüren waren durch den Luftdruck alle weit aufgerissen. Zuerst suchten wir Schutz in dem Gebüsch auf Wachtels Acker. Da kamen die grünen Weihnachtsbäume auf gerade auf uns herab…Da ging eine Bombenreihe gerade durch Christian Schulzes Koppel. Der Druck preßte uns förmlich an den Boden, und die Splitter heulten über uns hinweg. Es heulte und zischte und krachte, die Luft schien zu brodeln, besonders schlimm in der Siedlung, an der Chaussee und im Wald … eineinhalb Stunden sollte es dauern. Plötzlich entdeckte ich in der Luft unsere Jäger. Wir sahen wie ein Bombenflugzeug unter dem Leuchtspurbeschuß in Flammen aufging, wie eine Rakete dahinschoß und dann sich überschlagend in der Nähe des Wasserturmes herabstürzte. Noch hörte man in der Ferne Schüsse der Luftabwehr, da wurde es still. Geräusche, die vorher im Bombengetöse untergegangen waren, wurden jetzt wahrnehmbar. Das Krachen der Brände war zu hören, Rufe, Schreie.“
Nachgeschichte
Einen Monat nach dem Luftangriff auf Peenemünde ernannte Adolf Hitler SS-Obergruppenführer Hans Kammler zum Leiter des „Mittelwerkes“. Nach vier Monaten lief die erste Rakete vom Band. Erst ein zweiter massiver Luftangriff im Juli 1944 hatte zur Folge, daß auch die Erprobung aus Peenemünde verlagert wurde. Der wertvolle Windkanal wurde im Juli 1944 nach Kochel in Oberbayern gebracht und nach dem Krieg in den VSA verschleppt, wo er noch jahrelang in Betrieb war.
Durch die USAAF erfolgte am 18. Juli (mit über 2.000 Opfer) und am 4. August 1944 weiterer Bombenterror (bei diesem Angriff waren die Verluste an Menschen nicht mehr so hoch, denn inzwischen hatte man mehrere Luftschutzbunker gebaut).
Am 25. August 1944 erfolgte der vierte und letzte Angriff der alliierten Terrorflieger auf Peenemünde. Die Reparaturen der vorausgegangenen Angriffe wurden wieder zunichte gemacht und frühere Schäden noch verschlimmert. Das Material für Reparaturen war knapp, und so wurden nur noch die notwendigen Instandsetzungsarbeiten ausgeführt. Am 31. Januar 1945 kam der Befehl zur Evakuierung Peenemündes.
Interessant ist, daß am 21. Juli 1969, einen Tag nach der ersten angeblichen VS-amerikanischen Mondlandung, der Parlamentsabgeordnete Duncan Sandys ein Telegramm an Wernher von Braun schickte. Darin schreibt er, wie die „Washington Post“ 1969 berichtete:
- „Beste Glückwünsche für Ihre großartigen Beitrag zu dieser historischen Leistung. Ich bin dankbar, daß Ihre glänzende Karriere nicht bei dem Bombenangriff auf Peenemünde vor 26 Jahren abgekürzt wurde.“