Volkstheorie

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Prof. Dr. phil. Max Hildebert Boehm, von 1933 bis 1945 Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena, war einer der einflußreichsten Vordenker der völkischen Ideologie. Als Leiter des „Instituts für Grenz- und Auslandsstudien“ in Berlin entwickelte er ein System des gegen den egozentrischen Individualismus. Er betonte die prägende Kraft von „Stamm“, „Landschaft“ und „Volkstum“ und wurde so zu einem intellektuellen Vordenker des Volksgemeinschaftssinnes.

Volkstheorie oder Volkstumstheorie hat das Thema Volk als solches zum Gegenstand. 1933 richtete die Universität Jena einen Lehrstuhl für Volkstheorie und Volkstumssoziologie ein, auf den Max Hildebert Boehm berufen wurde. Auf Wunsch Boehms wurde sein Lehrstuhl der juristischen Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zugeordnet. Seine Veranstaltungen zu Volkstheorie, Grenzlandkunde und Auslandsdeutschtum erfreuten sich in den 1930er Jahren großer Beliebtheit. Boehms Volkstheorie stand im Spannungsverhältnis zu der nationalsozialistischen Weltanschauung. In seinem 1932 erschienen Werk Das eigenständige Volk hatte Boehm gegen die „pseudoreligiöse Blutsmystik“ der Nationalsozialisten polemisiert - eine Kritik, die er nie revidiert oder zurückgenommen hat.

Volkstheorie nach Max Hildebert Boehm

Erkenntnisinteresse und Wissenschaftsbegriff

Ausgangspunkt der Boehmschen Volkstheorie ist die Beobachtung eines seit der Renaissance und verstärkt seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu verzeichnenden politischen Erwachens der Völker. Boehm konstatiert, daß Völker und Volksgruppen angelehnt an den Staat bzw. im Konflikt mit ihm ihr Recht fordern und sich politisch formieren. In krisenhaften Zusammenstößen mit der überkommenen Staatenordnung sei eine neue Völkerordnung im Entstehen begriffen. Als Beispiele führt er unter anderem den Zerfall der Vielvölkerstaaten Osmanisches Reich und Österreich-Ungarn sowie den Zusammenschluß staatlich lange Zeit zersplitterter Völker wie der Deutschen und Italiener an. Allen Völker- und Nationalitätenbewegungen und ihren „Ethnopolitiken“ gemeinsam sei die Entdeckung des Volkes als einer eigenständigen, in die Politik und Geschichte hineinwirkenden Wesenheit.

Boehms Anliegen ist die Erarbeitung von Grundlagen einer diesen „geistigen Untergrund aller Politik“ berücksichtigenden Geistes- und Sozialwissenschaft. Was er beklagt, ist das Fehlen einer umfassenden und geschlossenen allgemeinen Volkstheorie, die dem Volk als eigenständigem Träger dieses Volkstums gerecht werde. Aufgrund befürchteter theoretischer Schwierigkeiten und eingefahrener Denkweisen sei „der metapolitische und der metahistorische Volksbegriff, das Volk als Lebewesen und das Volk als Geistgebilde nicht zu einer lebendigen Einheit und Ganzheit zusammengedacht worden“.

Er wendet sich gegen eine dem Gegenstand unangemessene analytische Zergliederung und begründet die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Herangehensweise: Auf der aktuellen Entwicklungsstufe der Volkstheorie bestehe die Aufgabe darin, das „Ganze und Wirkliche des Volkes nie aus dem Auge zu verlieren, es von den verschiedensten Blickpunkten her zu prüfen und von der Vielfalt der Zusammenhänge, Sichten und Fragen eine Vorstellung zu geben, die sich in dieser Wesenheit Volk durchkreuzen und begegnen“.

Boehm weist vor diesem Hintergrund auch auf die Probleme seines Vorhabens hin. Schwierigkeiten der Darstellung ergäben sich nicht zuletzt aus einer eigentümlichen Doppelseitigkeit im Wesen des Volkes, die sich als „Spannung zwischen seiner wesenhaften Ganzheitlichkeit oder Substanzialität und seiner individualen Zusammengesetztheit oder Kollektivität“ begreifen lasse. Scharf kritisiert er in diesem Zusammenhang die herkömmliche soziologische Betrachtungsweise des Volkes als bloßer Gemeinschaft oder Verband im weitesten Sinne. Es greife zu kurz, die Problematik der Zugehörigkeit des Einzelnen in den Mittelpunkt zu stellen. Bereits im Streben nationaler Minderheiten nach Anerkennung ihrer völkerrechtlichen Personalität vor dem Völkerbund bei gleichzeitiger Bekräftigung ihrer Zugehörigkeit zum jeweiligen Gesamtvolk komme der Anspruch zum Ausdruck, „die Völker nicht nur kollektiv, sondern ganzheitlich und damit substanziell zu sehen“. Es sei ein großes Defizit, „daß eine Zeit, die sich derart um das Verstehen des Geistes müht, wie die unsere, der Volksgeistlehre Herders und der Romantiker mit einer offensichtlichen Unsicherheit gegenübersteht“. Die Frage der Volkspersönlichkeit werde in der Theorie scheu umgangen, für die volkliche Substanz fehlten eindeutige Begriffe. Die eigentlichen zwischenvölkischen Beziehungen würden so bislang auf Beziehungen zwischen einzelnen Menschen verschiedenen Volkstums verengt. „Alle wirklichen Lebensfragen, die sich aus der Nachbarschaft und Durchdringung von Völkern, aus ihrer Größenordnung, aus Vorherrschaft und Abhängigkeit, aus Jugendlichkeit und Alter und aus allen möglichen Beziehungen der Völker als Ganzheiten ergeben“, müßten dabei notwendigerweise unberücksichtigt bleiben. Jede Geisteswissenschaft mache sich „über ‚Kultureinflüsse‘ von Volk zu Volk ihre Gedanken (...), ohne daß eine Theorie der Völkervergemeinschaftung, also eine Art von Völkersoziologie, für eine Einheitlichkeit der Betrachtungsweise und einen fruchtbaren Austausch der einzelwissenschaftlichen Sonderergebnisse Sorge trüge“. Hier wird bereits das langfristige Ziel genannt, für das Boehm mit seinem Buch einen Teil der Vorarbeit leisten will: eine „Theorie vom Volk unter Völkern“. Die ansonsten unveränderte Neuauflage von 1965 erhielt dementsprechend den neuen Untertitel „Grundlegung der Elemente einer europäischen Völkersoziologie“.

Aufgrund der Unmöglichkeit, „völkersoziologische“ Fragen in diesem Sinne zunächst weitgehend auszublenden, wählt Boehm in „Das eigenständige Volk“ eine gedankliche Ordnung, die nach einer vorläufigen Klärung des Volksbegriffs von einer ganzheitlichen Betrachtung des Volkes als einem geschichtlichen und räumlichen Wesen ausgehend die weitere Untersuchung seiner Gliederung in Angriff nimmt und erst dann „das volkszugehörige Individuum, die Person als Zelle oder Baustein des Volksganzen sichtbar werden läßt“. Dabei sei es eine absolute Notwendigkeit, die Spannung zwischen dem Subjektiven und Objektiven zu erfassen: „Weder als Gemeinschaft noch als personales Wesen höherer Ordnung können wir das Volk verstehen, ohne seiner wesensgemäßen Subjektivität als Haltung und Ethos einen Bestand an Objektivierungen gegenüberzustellen, den wir als Volkstum bezeichnen.“ Das Verstehen der Dialektik von Leben und Gestalt und wiederum Leben sei erforderlich, um sich abschließend der „Frage nach dem eigentlichen Wesen des Volkes, nach seiner Volkheit, nach Volksgeist, Volkscharakter, Volksindividualität, Volkspersönlichkeit und ähnlichen Grundbegriffen“ zuwenden zu können und diese – wenn auch nur in einer Annäherung – hinreichend fundiert zu beantworten.

Ein fundamentaler Begriff für die Volkstheorie Boehms ist der der Grenze – und dies gleich in mehrfacher Bedeutung. Zunächst einmal steht der Grenzkampf und der gesamte Fragenbereich der Völkermischgebiete im Zentrum seiner Untersuchung. Im Gegensatz zu pazifistischen Strömungen geht er vom Kampf als der gegebenen Urform der Völkerbegegnung aus – jedoch mit dem erklärten Ziel, „die Möglichkeiten einer bedingten Befriedung“ dieser Konflikte auszuloten. Aber auch mit Blick auf sein Kernanliegen, einen Beitrag zur Entwicklung einer das Volk in angemessener Weise berücksichtigenden Geisteswissenschaft zu leisten, ist der Begriff der Grenze zentral. Aufgabe der Volkstheorie sei ein „Abtasten der Grenzen des Volklichen im Sinne jener mâze, in der das deutsche Mittelalter (...) ein eigenes christlich und germanisch zugleich begründetes Ideal kraftvoller Ausgeglichenheit, Gehaltenheit, Vornehmheit aufrichtet: ‚gleich entfernt von Klippen dreisten Dünkels wie seichtem Sumpf erlogener Brüderei‘ (George)“. Im Rahmen der „Ethnopolitik“ gehe es um die Bändigung (nicht Abschaffung) des Nationalitäten- und Völkerkampfes. Sein primäres Ziel ist jedoch eine Geisteswissenschaft, „die das Volkliche weder übersteigert noch verleugnet“. Voraussetzung solchen Maßhaltens sei „begründetes Wissen um Wesen und Grenzen des Volkes“.

Kennzeichnend für sein Wissenschaftsverständnis ist dabei, daß er sich gegen ein Abstandhalten um jeden Preis wendet (Postulat der „Werturteilsfreiheit“) und die innere Teilhabe am Gegenstand als notwendige Voraussetzung einer Volkstheorie sieht. Das angestrebte Wissen könne „nur aus einem Glauben an die Werthaftigkeit und Würde der Welt gewonnen werden, um deren Beschreibung und Verständnis wir uns bemühen“. Es sei nicht sein Ziel, Individualisten und Kosmopoliten zu bekehren. Vielmehr gehe es darum, sich Volk und Volkstum verpflichtet fühlenden Menschen „zu verantwortlichem Wissen um diese unsere Welt, zu einem tiefer gegründeten Verständnis eines gemeinsamen Erlebnisbefundes, dieser uns verbindenden Lebens- und Wesenswirklichkeit zu verhelfen“.

Eingrenzung des Volksbegriffs

Das Projekt der Entwicklung einer Volkstheorie geht Boehm über eine grundlegende Erörterung verschiedener Verwendungen bzw. Dimensionen/Aspekte des Volksbegriffs an:

  1. Volk als Artbegriff: das Völkische
  2. Volk als Gesellschaftsgefüge: das Volkhafte
  3. Volk und Staat: das Nationale
  4. Volk als eigenständiges Wesen: das Volkliche

Die hierbei vorgenommene Eingrenzung des Volksbegriffs ist gerade mit Blick auf die einleitend dargestellten Verwirrungen der deutschen Gegenwart, was ihren Umgang mit dem gesamten Themenkomplex betrifft, äußerst aufschlußreich.

Das Völkische

Zunächst befaßt sich Boehm mit dem „Völkischen“: der Vorstellung vom Volk als einer auf gemeinsamer Abstammung beruhenden Bluts- und Artgemeinschaft. Gruppenmäßiger und idealtypischer Rassenbegriff gingen dabei fließend ineinander über. Das Stellen der Frage nach der Existenz „reinrassiger oder rassenreiner Völker“ zeige, daß die Rassenkunde den Begriff des Volkes als bekannt oder einem anderen Problemkreis zugehörig voraussetzen müsse. Angesichts der Tatsache, daß es in Europa kaum relativ „rassenreine“ Völker gebe, sei es nicht möglich, das Wesen des Volklichen mit Hilfe der Rassentheorie zu ermitteln. Das Volk besitze dennoch eine leibliche Grundlage, für die er den Ausdruck „Volkskörper“ vorschlägt. Der Idee nach umfasse dieser immer auch noch eine Ahnenschaft und die Ungeborenen. Vor diesem Hintergrund verweist er auf die Unmöglichkeit einer exakten Abgrenzung, zumal sich Leibliches und Seelisches beim Menschen nicht trennen lasse. Der Volkskörper könne somit nicht mit rein naturwissenschaftlichen Begriffen erfaßt werden.

Das Wort Rasse faßt er ausgehend von der Familie als „obersten Begriff leiblicher Verwandtschaft“. Derartige Rassen würden sich jedoch in zahlreichen einzelnen Familien und Individuen überkreuzen und durchdringen. Gerade bei größeren Völkern sei an die Stelle wirklicher abstammungsmäßiger Blutsverwandtschaft eine bloße Idee getreten: „der Glaube an Abstammungsgemeinschaft und Artgleichheit und gleichsam die Bereitschaft zur allseitigen Verschwägerung, zu einer gegen andere Völker sich abschließenden Konnubialgemeinschaft“.

Boehm, der wie bereits angesprochen die Idee der „reinen Rasse“ verwirft, die die Gefahr der Spaltung der seelischen und gemeinschaftlichen Einheit des Volkes in sich berge, verweist jedoch auf andere Strömungen der Rassenkunde, die er für durchaus fruchtbar hält. Diese operierten nicht mit einem statischen Rassenbegriff wie F. K. Günther, sondern mit einem dynamischen, der geschichtlichen Wandel einbezieht – Boehm spricht Bezug nehmend auf Ludwig Woltmann von „sekundäre(n) oder historische(n) Rasse(n)“, von „zu bedingtem Stillstand gelangte(n) Rassenkreuzungen“. Durch Verschiebungen der Erbanlagen in ein und derselben Bevölkerung sei es insofern möglich, daß Völker im Laufe ihrer Entwicklung durch verschiedene sekundäre Rassen hindurchgingen. In langen Prozessen der Anpassung, Auslese und Ausmerze entstünden örtliche Siebungsgruppen, die einen bestimmten „Schlag“ hervorbrächten. Ein solcher Rassenbegriff habe eine bedingte Berechtigung, „soweit er das Volk als Ganzes vom Leiblichen aus in der relativen Einheitlichkeit seines äußeren Typus zu erfassen sucht“.

Ziel müsse es sein, anthropologische Artbegriffe zu gewinnen, die es erlaubten, „das Volk als gemeinschaftlichen Träger einer bestimmten Blutkreuzung unter Anerkennung seiner rassischen Mannigfaltigkeit zu erfassen“.

Das Volkhafte

Unter der Überschrift „Volk als Gesellschaftsgefüge: das Volkhafte“ behandelt Boehm einen weiteren wichtigen Aspekt, der den Kern der ursprünglichen Hauptverwendung des Wortes „Volk“ umfaßt. Es bilde in diesem Kontext den „soziologischen Gegenfaktor zum Fürsten, zur Regierung, zu den Vornehmen, zu den Gebildeten, zu den Reichen“. „Volk“ wird hier also, wie Boehm vorführt, der (besseren) „Gesellschaft“ gegenübergestellt. Heute könne es auch das Massentümliche bezeichnen.

Für Boehm umfaßt diese breite tragende Schicht volkhaften Lebens Grundformen menschlichen Seins, die ethnisch noch nicht gesondert sind. Neben der Tendenz zur Vereinzelung veranschaulicht er vor allem die im historisierenden Blick auf die „Ständegesellschaft“ zum Ausdruck kommende Entwertung der Welt des Volkhaften zugunsten des marxistischen Verständnisses der bestehenden Gesellschaft als „Klassengesellschaft“. Anstelle der körperschaftlichen Gliederung des Volksganzen sei daher als massentümliche Gegenform das „Kollektiv“ getreten. In zig Millionen Menschen zählenden Völkern sei es nicht mehr ohne weiteres möglich, daß Änderungen der Selbst- und Weltdeutung sich auf ganz allmähliche Weise von Mund zu Mund verbreiteten. Derartige Transformationen des Bewußtseins setzten anders geartete Kommunikationsprozesse voraus. Zur Vereinheitlichung der Volksseele sei nun eine durchgehende Meinungsbildung mittels Tagesliteratur, Presse und Rundfunk – eine regelrechte „Massenagitation“ – erforderlich.

Das Volkhafte sei bedroht durch bürgerlich-gesellschaftliche Überfeinerung einerseits und massentümliche Vergröberung andererseits und befinde sich insofern in einer bedrängten Mittellage. Am einen Pol sieht er einen gesellschafts- und volksfeindlichen Snobismus am Werk, dem mit dem Faschismus eine Bewegung von brutaler Wucht und Durchschlagskraft gegenüberstehe. Das Volkhafte, um dessen Verteidigung sich lediglich ein „lehrhafter und manchmal etwas weinerlicher Konservativismus“ bemühe, büße in diesem Spannungsfeld zwangsläufig seine urtümlichen Strukturen ein.

Das Nationale

Eine weitere Dimension des Themas, die aus politikwissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse ist, behandelt der Abschnitt über „Volk und Staat: das Nationale“. In diesem grenzt Boehm zunächst seinen Volksbegriff von dem über die Staatsbürgerschaft definierten „Staatsvolk“ ab. Sehr eindringlich – unter anderem am Beispiel Polens (nach dem Ersten Weltkrieg als Vielvölkerstaat staatlich neuerstanden) – verdeutlicht er, daß Volkszugehörigkeit nicht einfach mit Staatsangehörigkeit zusammenfällt und sich auch nicht auf diese zurückführen läßt. Bezüglich der Beziehung des Volkes zum Staat unterscheidet Boehm zwei Grundauffassungen: die aus der römischen Tradition erwachsene monistische und die aus der germanischen erwachsene dualistische Position. Nach monistischem Verständnis sei der Staat mit unbedingter Gewalt ausgestattet, die nach unitarisch-zentralistischem Muster entweder vom Fürsten oder vom „Volk“ als der Gesamtheit der Staatsbürger ausgehe. Die germanische Staatsauffasung sei demgegenüber ihrer Grundlage nach dualistisch und habe sich – bei den Deutschen nur bis zu einem gewissen Grade ausgeprägt – hauptsächlich bei den angelsächsischen Völkern entfaltet. Staat und Volk stünden sich hier in einer bedingten Selbständigkeit gegenüber. Dem romanischen Unitarismus und Zentralismus stehe insofern der germanische Hang zum Bündischen und zur Selbstverwaltung gegenüber.

Die Entwicklung zum souveränen Demos, in der aus dem „peuple“ die „nation“ wurde, sei mit einer Rangerhöhung des Staatsvolkes verbunden, deren erste Grundlage die absolutistische Infragestellung der korporativen Volksfreiheit und Volksautonomie durch einen grundsätzlichen Individualismus und Unitarismus gewesen sei. Aus der damit verbundenen scharfen Entgegensetzung von Staat und Volk folgte, daß das seiner Autonomie beraubte Volk im nächsten Schritt selbst die Souveränität beanspruchte und – indem es sich als Nation mit dem Staat in eins setzte – schließlich eroberte. Auf diese Weise habe sich das nationaldemokratische Prinzip herausgebildet, auf dessen Grundlage Europa nach 1919 neu organisiert wurde. Boehm wirft vor diesem Hintergrund die für eine selbständige Volkstheorie entscheidende Frage auf, ob die mit dem Staat zusammenfallende „Nation“ nur aus dem staatsvolklichen Bereich heraus zu begreifen ist oder sie auf dem Wege der Staatwerdung irgendwo an anderen Quellen geschöpft habe.

Im Zuge ihrer Beantwortung verweist er zunächst auf die in Frankreich erfolgte Verwandlung des demokratischen in ein „ethnokratisches“ Prinzip. Zum Ausdruck gekommen sei dieses vor allem im assimilationistischen Bestreben der Jakobiner, die französische Sprache in ganz Frankreich mit seinen ursprünglich zahlreichen sprachlichen Minderheiten durchzusetzen. Die wegweisenden Entwicklungen seien jedoch in Italien und Mitteleuropa erfolgt. Das in Reaktion auf die Französische Revolution erfolgte nationale Erwachen der Völker sei dabei „von der demokratischen Formgebung im Kern und Wesen unabhängig“ gewesen. Namentlich in Deutschland, aber auch auf dem Balkan, habe der Nationaldemokratismus im Sinne Mazzinis nur eine Spielart neben einem nationalen Monarchismus und Föderalismus dargestellt. Auch mit Blick auf den westeuropäischen Nationalismus müsse von einer „Kreuzung zweier Entwicklungslinien“ gesprochen werden. Nur eine davon sei der Übergang von der dynastischen zur demokratischen Herrschaft gewesen. Seine eigentliche Rechtfertigung habe der zur Herrschaft gelangte Demos jedoch keineswegs aus sich selbst erlangt. Er habe sie vielmehr aus dem ethnischen Wertbereich geschöpft, „den die deutsche Romantik als ‚Volkstum‘ sichtbar macht, nachdem Herder die seelische Volksindividualität entdeckt und beim Namen genannt hatte. In Montesquieus Lehre vom ‚esprit des nations‘ und im Erwachen der geschichtstieferen Völker zum Ichbewußtsein, das sich in der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit abspielte“, sei diese Entdeckung ohnehin auch außerhalb Deutschlands angelegt und vorbereitet gewesen. Unabhängig davon, ob Hegel und die Romantiker die Volkspersönlichkeiten zutreffend als Volksgeister und Volksseelen beschrieben hätten, bleibe die grundlegende Einsicht, „daß gerade unter dem Einfluß deutschen Ideenguts das Staatsvolk nur zur Nation im heutigen Sinn werden konnte, nachdem das eigenständige Volk (...) wenigstens von fern sichtbar geworden war.“

Entschieden wendet Boehm sich daher auch gegen die Unterscheidung von Staatsnation und Kulturnation. Jede Nation sei ihrem Wesen nach Staatsnation. Ebenso unbefriedigend sei der Staatsformalismus des französischen und westeuropäischen Nationsbegriffs, der genauso verworfen wird: „Uns ist die Nation weder eine demokratisch veredelte Bezeichnung für das Staatsvolk auch in Vielvölkerstaaten, noch ein anderer Ausdruck für das Volk, das in den Pseudonationalstaaten der Gegenwart über eine mehr oder minder gewichtige Mehrheit verfügt. Unter der Nation verstehen wir das Volk, das sich im Element der Macht zu einer willensgebundenen Einheit hinentwickelt und sich als solche (...) neu konstituiert.“ Nation umfaßt für ihn auch die „Irredenta“ – die unerlösten Volksteile jenseits der Grenzen –, nicht jedoch Volksteile, die auf Geheiß ihres Staates gegen Angehörige des eigenen Volkes in den Krieg ziehen würden. Sie ist also staatsübergreifend gedacht und wird in aller Klarheit als politisches Projekt eines Volkes charakterisiert.

Noch einmal eine Definition von Boehm: „Die Nation ist im Kern das seiende oder werdende Staatsvolk, soweit es unter Berufung auf eine eigentümliche Volkheit aktiver Träger politischen und geschichtlichen Handelns sein will und die Haltung der bloßen Untertänigkeit mit staatsbürgerlichem Selbstbewußtsein vertauscht. Zu ihr gehören aber auch diejenigen konnationalen Ausländer, die ohne formale Zugehörigkeit zum Mutterstaat mit ihm in einer eigentümlichen Schwebelage schicksalhaft willenseins sind, ohne daß sie damit ihre staatsbürgerliche Legalität dem Wirtsstaat gegenüber zu verletzen brauchen. Eine eigentümliche Tragik ist ihrer seelischen Situation freilich nicht abzusprechen. Soweit die Tendenzen im Volksleben in dieser Weise auf Machtwerdung als Staat oder im Staat gerichtet sind, heben sie sich als spezifisch national aus dem weiteren volklichen Bereich heraus. Auch das Nationale setzt also, ähnlich wie das Völkische und das Volkhafte, den Eigenbereich des Volklichen voraus.“

Nicht zuletzt mit Blick auf Volksteile in der „Irredenta“ thematisiert Boehm auch kurz die Mißverständlichkeit des Begriffs der „Nationalität“, der im diplomatisch-völkerrechtlichen Gebrauch die Staatsangehörigkeit bezeichnet, im Fall der „Nationalitätenfrage“ bzw. eines „Nationalitätenkampfes“ jedoch gerade kein abstraktes Merkmal, sondern ein konkretes Gesellschaftsgebilde. Einerseits stehe der Ausdruck für ein „politisch unentwickeltes, zur staatlichen Gestalt und Selbständigkeit strebendes Volksganzes“, so daß mit Nationalität hier eine historische Vorstufe der Nation gemeint sei. Andererseits werde er für das Volk „im Element der Teilhaftigkeit“ in der Bedeutung des – zumindest damals – weniger gebräuchlichen Begriffs der „Volksgruppe“ verwendet. Eine Nationalität in diesem Sinne entstehe überall dort, „wo durch den Nichtzusammenfall von Volks- und Staatsgrenzen ethnisch bedingte Teilgebilde erwachsen, die durch Berührung mit dem Staat, also im Element der Politik, eine Gestaltwerdung irgendwelcher Art gewonnen haben oder sie anstreben“. Dies laufe jedoch nicht zwangsläufig auf staatliche Selbständigkeit oder Anschluß an den Nachbarstaat hinaus. Es bestehe auch – und interessanterweise spricht Boehm hier mit Blick auf die Zukunft auch Europa als politisches Projekt an – die Möglichkeit des Zusammenlebens befriedeter Nationalitäten im Nationalitätenstaat.

Das Volkliche

Im Abschnitt „Volk als eigenständiges Wesen: Das Volkliche“ stößt Boehm mit einer Analyse des Eigenbereichs einer Volkswesenheit zum Kern seines Volksbegriffs vor. Betrachtet wird dabei das „Volk unter Völkern, das sich weder mit Volk im staatsbezogenen noch im soziologisch-strukturhaften Sinn deckt“. Wie er verdeutlicht, ist das hier gemeinte Volk „als eigenständiges Wesen, als Volksindividualität, die zur Volkspersönlichkeit werden kann“, ein „im weitesten Sinn geistiger Zusammenhang“. Dieser stifte unter den ihm zugehörigen Menschen eine relative Artähnlichkeit, die von außen als „Gattung“ sichtbar werde und eine Gemeinschaft hervorbringe, „die das Zentrum der Personhaftigkeit des einzelnen Menschen betrifft“. Die Parallelen zum Kommunitarismus der Gegenwart sind kaum zu übersehen.

Treffend ist Boehms Formulierung, ein Volk verwirkliche sich in einer für gewöhnlich als „Volkstum“ bezeichneten „gemeinschaftlichen Kulturaussonderung“. Dieses sei „von einem gemeinschaftlichen und arteigenen Geist getragen, für dessen inbildliches Maß und Ziel die Bezeichnung Volkheit vorgeschlagen worden ist“. Zumindest als Zielbild sei damit auch die Entstehung einer Volksgemeinschaft verbunden, in der sich eigene gesellschaftliche Formen ausbilden. Wie er schreibt, entfaltet sie sich „in Sitte und Recht und prägt dem einzelnen Volksgenossen eine bestimmte Haltung auf, die im völkischen Sinn auf Blut und Art hält, die sich in der Formenwelt der oben entwickelten Volkhaftigkeit auswirkt und sich in einem Ethos überhöht, das wir volklich nennen können“. In diesem Ethos wurzele immer auch ein Zielbild für die Ebene des staatlichen Lebens.

Boehm, der das Volk als Ethnos sowohl der Rasse und dem Demos wie der Nation gegenüberstellt, liefert in diesem Abschnitt eine mit Blick auf ein angemessenes Verständnis des Nationalismus als Phänomen der Moderne äußerst aufschlußreiche Selbstkennzeichnung seiner Perspektive, die es für die abschließende Analyse im Hinterkopf zu behalten gilt. Wie er noch einmal klarstellt, steht er mit seiner Volkstheorie für einen „ethnozentrischen“ Volksbegriff, „der zwar das Seelisch-Geistige des Volkes in den Mittelpunkt seiner Wesensdeutung rückt, unter dieser Perspektive aber doch das Volk als Ganzes sieht“, d.h. unter Einbezug seiner Leiblichkeit und des bluthaften Erbes des Volkes, des Zusammenhangs zwischen dem Volklichen und dem Volkhaften, der Gefährdung des Volklichen durch Massenwerdung oder Vereinzelung sowie der Tendenz zum Nationalen. „Im Gegensatz zum ethnokratischen Prinzip des westeuropäischen Nationalismus“ liege seinem Volksbegriff eine „ethnopathetische Haltung“ zugrunde, die das Volkliche ernst und wesenhaft nehme. Zugleich gehe es ihm um die Einordnung einer volklichen Haltung in ein Weltbild und in diesem Zusammenhang um eine bewußte Schrankensetzung „gegen jeden Nationalismus, der das Volkliche ins absolute übersteigert“. Dabei sei eine gewisse Bandbreite ethnopathetischer Haltungen möglich. Der Ethnopathetiker wende sich allerdings gegen eine „Relativierung von Volk und Volkstum, soweit sie eine Folge der Absolutsetzung von Rasse, Gesellschaft und Staat ist oder dem geistigen Boden des Individualismus entsprießt“. Die Welt, in der das Volk seinen Ort habe, sei deshalb durch einen Pluralismus eigener Art bestimmt.

Wie Boehm in weitgehender Übereinstimmung mit heutigen Analysen herausarbeitet, ist die ethnopathetische Anschauung vom Wesen des Volkes „bedingt durch die Entwicklung des abendländischen Geistes, der das Erbe des griechischen Geistes angetreten hat, in allen Fragen aber zugleich durch die Bekehrung Europas zum christlichen Monotheismus bestimmt ist.“ Die Entwicklung des Christentums in Europa habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß „in der Neuzeit die Eigenständigkeit der Völker sichtbarer und vor allem bewußter werden konnte“. Die theoretischen Fixierungspunkte „dieses seelisch seit langem angebahnten völkerindividualistischen Bewußtwerdungsvorgangs“ sieht er „zunächst durch Renaissance, Humanismus und Reformation, weiterhin durch die Namen von Montesquieu und vor allem Herder und endlich durch das deutsche idealistisch-romantische Denken an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert bestimmt“.

Zu einem radikalen Bruch habe erst der „empiristisch-materialistische Gegenschlag gegen diese Denkart und die ethnokratische Vereinseitigung des Volklichen“ in den romanischen Nationalismen geführt. In der Folge sei es ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer „völligen Erstarrung der ethnopathetischen Entwicklung des deutschen Geistes“ gekommen. Entsprechend scharf fällt daher auch Boehms Kritik an den Verhältnissen im etatistisch orientierten Bismarckreich aus. Das deutsche Volk habe sich als politisch gesättigt verstanden und allenfalls für „imperialistisch-weltwirtschaftliche Fragenkreise“ interessiert. Die Überschätzung seiner Machtsicherung habe dazu geführt, daß die „nationalitäre Bedrohung in seinen Grenzgebieten“ nicht ernst genug genommen wurde. Vor allem das Deutschtum im Ausland sei sträflich vernachlässigt worden.

Boehm konstatiert dem Deutschen Reich für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein regelrechtes „Versacken selbständigen volkstheoretischen Denkens“, das sich – wie er mit seinem Verweis auf den mangelnden Sinn der deutschen Sozialdemokratie für entsprechende Fragestellungen und ihre Ignoranz gegenüber fruchtbaren Ansätzen bei ihrem österreichischen Pendant verdeutlicht – zum Teil bis in die Gegenwart der Weimarer Republik fortsetze. Die dadurch entstandene Lücke im deutschen Geistesleben macht er als eine der Ursachen des Mißverstehens der Deutschen und ihrer Intentionen durch das Ausland aus. Der nordische Rassenmessianismus Gobineaus und der imperialistische Größenwahn „einiger fast nur im Ausland bekannter Schriftsteller ‚alldeutscher‘ Färbung“ seien so als letztes Wort des deutschen Volkes in der Völker- und Nationalitätenfrage erschienen.

Durch den Kriegsausgang seien Deutschland alle Möglichkeiten genommen, aktiv an den nationalitären Neuregelungen mitzuwirken. Gerade seine momentane Machtlosigkeit verweise jedoch auf die Notwendigkeit einer Neudurchdringung volkspolitischer Grundfragen. Insofern sie die Möglichkeit einer „Wiederentdeckung des reinen Volksbegriffes“ in sich birgt, gewinnt Boehm der schwierigen Situation des Reiches also durchaus auch Positives ab. Insgesamt fällt seine Einschätzung der Zeitumstände dennoch wenig optimistisch aus. Die Neuordnung Europas in Versailles nach dem „im Mittelpunkt der unwissenden und verantwortungslosen Politik und Propaganda Wilsons“ stehenden, jedoch „von den Nutznießern des amerikanischen Materialsieges“ ethnokratisch aufgefaßten „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ habe zu seiner Balkanisierung geführt. Die Praxis des Umgangs mit der Minderheitenproblematik (Minderheitenschutz, Autonomie) habe gezeigt, wie wenig ausgeprägt der Sinn für die Eigenständigkeit des Volklichen war. Über den Kampf um Anerkennung im Staat in seiner etatistischen Normalform der ethnokratischen „république une et indivisible“ hinaus befänden sich die Völker auch durch neu auf den Plan getretene imperialistische Gebilde wie das kommunistische Rußland und das faschistische Italien in einer schwierigen Situation. Im heutigen Europa, das zwischen parlamentarischer Demokratie, faschistischer und kommunistischer Diktatur schwanke, bleibe für die Eigenständigkeit des Volkes kaum Raum, insofern die herrschaftliche Ordnung der Gegenwart „der ethnopathetischen Haltung im Tiefsten feind“ sei. Hierüber dürfe man sich nicht täuschen, wenn man trotz allem den Kampf für einen historischen Perspektivenwandel im Namen des Volklichen führen wolle. Grundlage eines solchen Wandels sei die allgemeine Volkstheorie.

Exemplarische Einblicke

Da es im gegebenen Rahmen nur schwer möglich ist, die Volkstheorie Boehms erschöpfend darzustellen, soll sich im folgenden Überblick weitgehend auf die Elemente beschränkt werden, die zum Verständnis des volklichen Nationalismus besonders aufschlußreich sind. Boehms äußerst erhellende grundsätzliche Betrachtungen über das „Volk in der Zeit“ (unter anderem über die „Geschichtlichkeit des Volkes“, „Volksentstehung und Volksuntergang“ sowie „Volksüberdauerung“), das „Volk im Raum“ (unter anderem zur „Räumlichkeit des Volkes“ im allgemeinen sowie den Themen „Volkssiedelboden und Volksgrenze“ sowie „Volkswirkungsraum und Volkswanderung“) und „Volksgliederung“ („Stamm“, „Landschaft und Landsmannschaft“ sowie das Verhältnis von „Staat und Volksgruppe“) werden deshalb hier nicht behandelt.

Volkszugehörigkeit

Für die Themenstellung dieser Arbeit relevante Aussagen finden sich erst wieder ab dem Kapitel „Volkszugehörigkeit und Volksumfang“, in dem unter anderem auch die Problematik des Volkstumswechsels durch Assimilation und die zur Herausarbeitung der subjektiven Dimension von Volkszugehörigkeit wichtige Grenzbereichsfrage, ob ein bewußtes Überwechseln vom einen Volk in ein anderes prinzipiell möglich ist, erörtert werden. Boehm verdeutlicht, daß die „volkliche Wesensbestimmtheit“ nur zum Teil an objektiven Faktoren festgemacht werden kann. Die Volkszugehörigkeit sei durch ein dialektisches Verhältnis von objektiver Wesensprägung und subjektivem Zugehörigkeitserlebnis bestimmt. Insofern sei es auch möglich, daß es zur volklichen Selbstentfremdung komme.

Dies sei beispielsweise der Fall, wenn sich der „Stolz auf das eigene Volkstum in ein unausgesprochenes, am Volkstum haftendes Minderwertigkeitsgefühl verwandelt“, wodurch auch der wesensmäßige Bereich der Volkszugehörigkeit von Verkümmerung bedroht werde. Neben dem Extremfall, daß einzelne Menschen versuchen könnten, sich von ihrer ursprünglichen Volkszugehörigkeit zu lösen, um sich einem anderen Volkstum zuzuwenden und sich hierzu bewußt dessen prägenden Kräften aussetzen, spricht Bohm vor allem die Problematik des Volkstumskampfes in ethnischen Mischgebieten an. Da die Vermittlung eines spezifischen Geschichtsbildes und ähnliche Prägungen (Philosophie, Musik usw.) um so nachhaltigere Wirkung hätten, je früher sie erfolgten, seien häufig die Schulen das Kampffeld, auf dem um die Volkszugehörigkeit des Kindes gerungen werde.

Volksorganisation und Konnationale

Ein Volk könne seines Bestandes also keineswegs sicher sein. Gerade im Nationalitätenkampf bestehe daher die Notwendigkeit der „Volksorganisation“. Diese müsse sich allerdings stets als mittelbar und sekundär verstehen, als „ergänzender und ausbessernder Behelf“. Volksgemeinschaft und Volksorganisation müßten klar voneinander unterschieden werden. Echte Gemeinschaft sei Verbundenheit durch gemeinsame seelische Inhalte und wirkliches Zusammenleben in dieser verbindenden Welt. Volksorganisation setze diese Gemeinschaft voraus, „da Volk seinem Wesen nach schon Gemeinschaft ist“. Unter günstigen Voraussetzungen existiere die Volksgemeinschaft – vor allem bei den großen Kulturvölkern – in einer Fülle von Teilorganisationen, die neben der Familie „den seelischen Gemeinbesitz des Volkstums, die Sprache, die Wissenschaft, die Kunst, das Recht usw. wirklich als Gemeinschaft aktualisieren helfen“ (er nennt Schulen, Hochschulen, Theater, Bibliotheken und Gesangsvereine). Es könnten aber immer auch Situationen eintreten, in denen dies nicht mehr gewährleistet sei. Wenn die genannten Einrichtungen das gemeinsame Kulturgut nicht in dem Maße pflegten wie sie eigentlich sollten und statt dessen beispielsweise das eigene mit fremdem Volkstum untermischt werde oder die Volksgemeinschaft anderweitig untergraben zu werden drohe, müßten entsprechende Abwehrmechanismen greifen.

Dies geschehe in der Regel auf dem Wege, daß volkliche Schwächezustände wie selbstverständlich einen „organisatorischen Gegenwillen“ hervorriefen, der das Gepräge „volkstums-hygienischer Notstandsmaßnahmen“ trage. Ziel sei dabei die „Bekämpfung gemeinschaftszerstörender Kräfte im Volk“ und „nicht vollinhaltliche gesellschaftliche Formwerdung von eigentlicher Volksgemeinschaft“. Für Boehm ist klar, daß alles andere als eine sich als „ergänzender und ausbessernder Behelf“ verstehende Volksorganisation den „Lebenskeim echter Gemeinschaft“ zerstören würde. Was sie seiner Ansicht nach zu leisten imstande ist, kommt in seiner optimistischen – jedoch keineswegs jeglichen Realitätssinns entbehrenden – Auffassung zum Ausdruck, „daß das Volkliche, wo es ermattet oder überwuchert ist, immer noch am ehesten als Sinn und Geist aus der Zuversicht und dem frischen Mut ganz weniger heraus wiedererweckt werden kann“.

Als konkretes Beispiel für die Möglichkeiten der Volksorganisation behandelt Bohm zunächst die Frage der Minderheiten. Hierbei unterscheidet er die weitergehende Einflußmöglichkeiten eröffnende territoriale (Gebietsautonomie) von der personalen Volksgruppenorganisation. Diese beiden Formen könnten allerdings auch miteinander verbunden werden, wie der Fall Finnlands belege (Gebietsautonomie der Alandinseln, Anerkennung der Schweden als zweites Staatsvolk, Erhebung des Schwedischen zur gleichberechtigten zweiten Staatssprache, Besetzung staatlicher Stellungen nach Proporz). Vor diesem Hintergrund befaßt sich Boehm auch noch einmal explizit mit der Thematik des gegen Assimilationsgefahren gerichteten Volkstumsschutzes, wobei er vor allem die damaligen mitteleuropäischen Verhältnisse im Blick hat.

Die Arbeit in entsprechenden „Schutzvereinen“ könne neben der organisatorischen und finanziellen Unterstützung von Schulen, Volksbildungseinrichtungen und Bibliotheken auch die Gewährung landwirtschaftlicher und gewerblicher Kredite, die Organisation des Absatzes, Reisestipendien und andere Bereiche umfassen, die mit dem Volksgruppenschutz in irgendeiner Weise zusammenhingen. Es handele sich um eine umfassende Betreuungsarbeit, in deren Zentrum vor allem die Schule stehe. Oft gehe es allerdings nicht nur darum, die bestehende primäre Volksorganisation (eigene Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Selbstverwaltung auf örtlicher und landschaftlicher Ebene) zu verteidigen, sondern diese Strukturen erst einmal zu erlangen.

Vor dem Hintergrund derartiger Volkstumskämpfe und der Problematik des Minderheitenschutzes beschäftigt ihn neben den Minderheiten selbst auch die Rolle der Gesamtvolksgemeinschaft. Das über die Staatsgrenzen hinweg als Ganzes gesehene Volk und sein politisches Beziehungsgeflecht bezeichnet er dabei als „Konnationale“. Von der dergestalt gefaßten Gesamtvolksidee her bestehe eine besondere Fürsorgepflicht und solidarische Mitverantwortung des Muttervolkes für Angehörige des eigenen Volkes in Grenzregionen sowie in Gebieten mit Streu- und Inselsiedlung. Vorrangig gehe es dabei immer um die Selbsterhaltung des Volkstums und eine entsprechende Unterstützung der jeweiligen Minderheit. Naturgemäß seien die konnationalen Beziehungen zwischen Muttervolk und Minderheit deshalb nicht ohne jede Brisanz. Derartige Kontakte würden von den die Minderheiten beherbergenden Staaten häufig als tendenziell „hochverräterisch“ gewertet und entsprechende Einmischungen von außen fast durchweg aufs schärfste zurückgewiesen. Diese Linie sei jedoch nur schwer durchzuhalten, wenn – wie im Falle des in seiner Minderheitenpolitik äußerst rigoros agierenden polnischen Staates, den Boehm als Beispiel anführt – ein Interesse daran bestehe, die eigenen Minderheiten im Ausland wirkungsvoll zu unterstützen.

Boehm, der klar zwischen dem Volk und der vom Staat her gedachten willensbewußten Nation westlichen Musters unterscheidet, kritisiert in diesem Zusammenhang erneut das letzterer zugrunde liegende ethnokratische Prinzip der Volkssouveränität, durch das der ethnopathetische Gedanke der (korporativen) Volksautonomie zu verkümmern drohe. Die große Gefahr sieht er dabei in einer Verengung des konnationalen Gedankens zum Irredentismus, der als ausschließliches Endziel den Nationalstaat verkündet. Boehms differenzierte antietatistische Orientierung verdeutlicht folgende Aussage zum Aufscheinen des „echte(n) Volksgedanke(ns) als selbständiger Pol geschichtlichen Lebens“ in der damaligen Situation: „Die Völker streben einer gesamtvolklichen Integration zu, der sich die staatlichen Neugestaltungsfragen nur als Teilproblem einordnen. Vielfach wird eine richtige Sicht in ihren Folgerungen noch falsch ausgedeutet. Unmöglich kann es ernsthaftes Entwicklungsziel sein, Volk und Staat doktrinär auseinanderzureißen und jedes für sich zu organisieren.“ Die daraus folgende Perspektive wäre, wie Boehm verdeutlicht, entweder ein anationaler Staat (in Gestalt einer Monarchie oder eines Cäsarismus) oder eine staatsfreie Kultur. Für am wahrscheinlichsten hielt er es jedoch – und dies zeigt, daß er die Bedrohungen seiner Zeit klar erfaßte –, daß sich der politische Stil Europas in Richtung Diktatur „und damit im Sinne der schrankenlosen Willkür des ‚totalen Staates‘“ entwickeln würde.

Entsprechend engagiert fällt Boehms Beschwörung der Verantwortung des Staates für das Volkstum aus. Bemerkenswert ist dabei seine Warnung, ein die absolute Trennung von Volk und Staat fordernder Rationalismus könne „das eigenständige Volk auf derart sekundäre und individualistische Ausgangspunkte“ zurückverweisen, „daß das Ende einer chaotischen Zwischenepoche nicht die Nationalisierung, sondern entweder die Wiederverkirchlichung oder die Wiederverstaatlichung der Reste europäischen Kulturlebens sein würde“, die unter heute gänzlich anderen Vorzeichen an Aktualität gewinnen könnte (vor allem wenn man sich die Entwicklung der EU zu einem ideologisch von der aus der europäischen Geistestradition erwachsenen Menschenrechtsideologie überwölbten bürokratischen Superstaat vor Augen hält, aber auch angesichts der auf dem Wege der Massenzuwanderung und der Konversion drohenden Islamisierung Europas und seiner zumindest momentan noch zu keinerlei Widerstand fähigen Völker). Das Band zwischen Volk und Staat dürfe daher nicht achtlos zerrissen werden, vielmehr müsse man es „behutsam und wohlüberlegt (...) lockern, um den jetzigen Verkrampfungszustand durch eine fruchtbare Spannung zwischen Volk und Staat abzulösen“. Ziel der konnationalen Organisation müsse „die wirkliche und umfassende, von lebendigen Menschen getragene und in deren Wollens-, Gefühls- und Denkinhalten verkörperte Lebensgemeinschaft des Volkes über seine staatlichen Grenzen hinweg“ sein.

Kampf um Anerkennung

Bevor Boehm sich detailliert der objektiven und subjektiven Seite des Eigenbereichs des Volklichen zuwendet, weist er noch einmal auf wesentliche Unterschiede der von ihm vertretenen ethnopathetischen Perspektive zum westlichen Denken hin. Der deutsche Volksgedanke sei von ungleich größerer „seelischer Kraft und Glaubenstiefe“ als die westliche „Nation“, „die ein bloßer Schatten des Staates ist“. Interessant sind seine Ausführungen vor allem mit Blick auf das immer wieder zu beobachtende Erwachen von Völkern und damit einhergehende ethnische Konflikte, so wenn er den Begriff der „Volksehre“ in den Mittelpunkt entsprechender Prozesse rückt. Worum es den erwachenden Volksindividualitäten gehe, sei ein bestimmtes Maß an „Ehre, Würdigung, Anerkennung, Geltung (...) im Völker- und Gesellschaftsleben“. Derartige Ansprüche stünden im Zentrum aller Ethnopolitik. Die entscheidende Wendung in diese Richtung ist für ihn klar mit der Moderne verbunden. Die Aufklärung habe nicht nur das Staatliche relativiert, sondern in der Person Herders „gerade dem Volklichen eine vorher nicht gekannte Weihe und Wertigkeit zugesprochen.“ Bis dahin habe für das Volkliche stets die Gefahr bestanden, „entweder durch zu weitgehende Relativierung entwertet zu werden, wozu namentlich die Überschattung durch den katholischen Universalismus nicht wenig beigetragen hat, oder in ein Abhängigkeitsverhältnis zum staatlichen Bereich zu geraten“. Auch wenn volkliche und staatliche Ehre nicht ernstlich miteinander kollidieren könnten, da das Volksbewußtsein ein Teilelement oder eine Vorstufe des Patriotismus bilde, werde die konkrete Stellung der Volksehre von der Eigenwertigkeit des Volklichen gegenüber Gesellschaft, Staat und Kirche bestimmt.

In Frage gestellt werde die Eigenwertigkeit des Volklichen in neuerer Zeit auf gesellschaftlicher Ebene vom Individualismus und Sozialismus, auf staatlicher von einem reinen Etatismus und auf kirchlicher durch verschiedene konfessionelle Spielarten. Insofern ziele ein Großteil der „Ehransprüche der Völker und Volksgruppen (...) gar nicht auf ihren individuellen Sonderwert, sondern zunächst einmal auf die Werthaftigkeit und Werthöhe des volklichen Lebensbereichs überhaupt“. Hier bestehe eine grundsätzliche Interessengleichheit der Minderheiten und Volksgruppen Europas, die nicht an einem etatistischen Nationalismus ausgerichteten Völkern eine weitergehende Solidarisierung ermögliche. Neben der Anerkennung des Volklichen im allgemeinen gehe es allerdings immer auch um das Eigentümliche eines Volkes. Somit bilde „die Ehre, die jedem Volk allgemein als solchem zukommt und für jedes Volk zu erkämpfen ist, doch nur den Rahmen und die Form, worin sich die Ehre gerade dieses meines Volkes verkörpert“. Namentlich im Völkerkampf richte jedes Volk seinen Stolz daher gerade auf jene Werte, die es von anderen unterscheide. Zentral ist also die Bejahung des Eigenen – und zwar nicht im Sinne einer „glücklichen und geschickten Wahl“, sondern als „Schicksal“.

Volkstum und Volkswesenheit

Als absolut grundlegend können Boehms Ausführungen zum Thema „Volkstum“ gelten. Wie er darlegt, steht „im Mittelpunkt des Volkstums die konkret gestaltete, die objektiv verwirklichte Wertfülle der Kultur eines Volkes, soweit sie auf den Lebensvorgang des Volkes zurückgewandt ist und sich gleichsam von diesem Strom tragen läßt. Volkstum ist uns ein Stück dargelebter Kultur, das als wirklicher geistiger Besitz und Gehalt eine Volksgemeinschaft zusammenhält und auf sie zurückweist. Volkstum ist zu Form und Gebild gestaltete Volksindividualität, vergegenständlichte Volkheit, die aus volklichem Leben entspringt und unaufhörlich in solches zurückverwandelt wird. So ist es ein Schatz geistiger Objektivationen, den ein Volk geschichtlich erzeugt und als Bildungsstoff auch wieder geschichtlich verbraucht. Volkstum ist Volksgut in statu vivendi. Es umfaßt die ganze lebendige ideale Realität und reale Idealität, in der sich der Volkscharakter mit seinen ursprunghaften, ererbten und erworbenen Wesenszügen Ausdruck verschafft. Darum kann das Volkstum unmöglich ein logisch widerspruchsloses, rational faßbares Gebilde sein. Dazu ist es viel zu sehr wandlungsfähiges und ständiges Volkserzeugnis, der Gestalt gewordene Inbegriff der schöpferischen Kräfte eines Volkes, die auf dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten immerdar neugestaltend zurückwirken. So stehen Volksgemeinschaft, Volklichkeit und Volkstum in stetiger unmittelbarer Wechselwirkung. Keines ist ohne die anderen zu denken.“

Das Volkstum bringt, wie Boehm veranschaulicht, eine „bestimmte volkliche Subjektivität, Individualität oder Persönlichkeit in ihren Wesenseigentümlichkeiten zum Ausdruck (...). Volkstum ist Ausdruck der Volkseigenart. Das Volk legt Zeugnis von seinem Selbst ab, indem es sich in seinem Volkstum objektiviert. Das Volkstum ist das ‚Wort‘, das jedes Volk in der Geschichte spricht und von dem zumindest ein Nachklang auch dann noch bleibt, wenn das Volk als atmendes Wesen untergegangen ist. Die Kultur eines Volkes und jedes Stück von ihr gewinnt damit unabhängig von seinen sonstigen Sachbezogenheiten eine sinnbildliche Bedeutung für das Volk als subjekthafte Wesenheit.“ Als wesentliche Volkstumselemente nennt er neben der sicherlich zu Recht als absolut zentral erachteten Sprache unter anderem auch Musik und Wissenschaft. Im einzelnen werden in den entsprechenden Abschnitten „Sprache“, „Dichtung und Schauspiel“, „Wissenschaft und Schrifttum“, „Musik und Tanz“, „Bild- und Baukunst“ sowie „Glaube und Bildung“ einer genaueren Analyse unterzogen.

Zur Rolle des Volkstums in der Gegenwart schreibt Boehm: „In unserem Zeitalter ist unter den Aufgaben, die wir dem Volkstum überhaupt zuerkannten, die Vergemeinschaftung der Menschen zu Völkern wahrscheinlich die wichtigste. An ihr entscheidet sich dann auch – weit jenseits der Überlegungen der Völkerkundler – die Wiederganzwerdung des Geistes, die Einswerdung von Gesittung und Kultur und Volkstum.“ Die Realität sehe jedoch anders aus. In dem Kapitel, das sich der „Volkswesenheit“ widmet (Abschnitt zur „Kollektivität und Substanzialität des Volkes“), beklagt er vor diesem Hintergrund insbesondere die Behandlung des Volkes in der Soziologie und die Folgen einer Psychologie ohne Seele. Auch wenn der Glaube an die Wesenhaftigkeit des Volkes den zahlreichen „Anstürmen des zergliedernden Verstandes und seiner mehr einleuchtenden als erleuchteten Verfahren und Grundsätze“ insgesamt standgehalten habe, sei er nicht gänzlich ohne Wirkung geblieben. So habe sich das empirische Denken des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts nach Kräften darum bemüht, „die Substanzialität aller Zwischengebilde zwischen dem ‚Individuum‘ und der ‚Menschheit‘ als bloßes soziologisches Gruppierungsmosaik zu ‚entschleiern‘“.

Hand in Hand mit diesem substanzfeindlichen Denken sei ein Kausalitätswahn gegangen, „der alles ‚erklären‘, d.h. auf mechanische oder biologische Gesetze zurückführen wollte. Aus solchem Denkzwang wurde das Volk auf die Rasse und diese wieder auf die Umwelt, das Volk auf den Staat, der Staat auf das Volk, die Kultur auf die Wirtschaft, das Seelenleben auf Geschlechtlichkeit wie die Farbe auf Ätherschwingungen ‚zurückgeführt‘“. Gemeinsam sei derartigen Systemen das Bedürfnis, sämtliche Glaubenswirklichkeiten, „ja alle Gegenständlichkeiten der inneren Anschauung durch Enthüllungen zu entwerten. Man suchte dem Menschen einzureden, daß er mit seinem leiblichen und geistigen Auge in einer Alsobwelt lebe und mittels analytischer Verfahren der verschiedensten Art durch die ‚Illusion‘ zur ‚wahren‘ Wirklichkeit durchstoßen könne.“

Volkstheoretisch sei das Ergebnis des herrschenden Psychologismus und Soziologismus um so bedenklicher, da über die Wirklichkeit des Volkes konsequent hinweggegangen werde. Es sei „geradezu erschütternd, mit welcher Achtlosigkeit, Lebensfremdheit und vielfach auch Unkenntnis im einzelnen die Erscheinung des Volkes in fast allen größeren Soziologien behandelt wird. Die meisten würden sie am liebsten ganz in die Völkerpsychopathologie verweisen.“ Erforderlich sei eine Perspektive, die „die Wirklichkeitsgebundenheit des Empirismus und die Wesenssichtigkeit des Idealismus wieder zu vereinigen sucht“, ein „neuer Realismus“, der sich nach dem Scheitern zahlreicher „Erklärungs“-Versuche um tieferes „Verstehen“ bemühe. Es geht ihm also um die Entfaltung einer hermeneutischen Sozialwissenschaft – eine „wirklichkeitliche“ Sicht der Welt und eben auch des Volkes. Kollektivität und Substanzialität des Volkes dürften bei diesem Unterfangen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wolle man der Vielfältigkeit volklichen Lebens gerecht werden. Sie seien gleichermaßen zu berücksichtigen.

Volkstypus und Artbild

Boehm geht auch auf das aus heutiger Sicht vielen brisant erscheinende Thema des Verhältnisses von Volk und Rasse noch einmal genauer ein. Wie bereits in seiner Eingrenzung des Volksbegriffs deutlich geworden ist, wendet er sich klar gegen ein rassentheoretisch verengtes Verständnis. Dennoch stehe es „außer Zweifel, daß es eine äußere Erscheinung und Wirklichkeitsform des Volkes gibt, die biologischen Gesetzen weiteren Umfangs gehorcht und für das innere Leben und die äußeren Beziehungen des Volkes von größter Wichtigkeit ist. Wir wollen dieses äußere Bild mit einem weniger festgelegten Ausdruck seinen Volkstypus nennen.“ Worum es Boehm geht, ist die Anerkennung der leiblichen Faktoren der Erscheinung Volk. Einer reduktionistischen Rassentheorie kann er nichts abgewinnen. Die von ihm betrachteten Erscheinungen reichen „über das im eigentlichen Sinne Physische“ (die anthropometrischen Befunde der Rassenkunde) weit hinaus: „Der Leib des Menschen ist eine viel umfassendere Wirklichkeit. Zu ihr gehören (...) Haltung, Gebärde und Mienenspiel, Stimme und Tonfall des lebendigen Menschen.

Es zählen zu ihr die geschlechtlichen Reizungs- und Abstoßungswirkungen, eine Rassigkeit, die zur Achtung und zum Gehorsam nötigt und eine geduckte Unterwürfigkeit, die den geborenen Sklaven kennzeichnet.“ Das Letztgenannte läßt sich wohl am besten als Habitus fassen. Daneben nennt Boehm allerdings auch Sitten und Gebräuche – beispielsweise Haar- und Barttracht, Körperpflege und Kleidung – als Elemente, die den Volkstypus mit bestimmten und Einfluß auf das Verhältnis (Sympathie/Antipathie) zwischen miteinander lebenden Völkern hätten. Was einen Volkstypus ausmache, seien Gemeinsamkeiten der äußeren Erscheinung. Wie differenziert Boehms Perspektive dabei ist, zeigt sein von einem ganzheitlichen Blick geprägtes Fazit: „Natur und Kultur, Urgesetzlichkeit und Geschichte, Rasse und Konstitution, Vererbung und Erziehung, Physisches und Seelisches durchdringen sich in der leibhaften Gestalt des Volkstypus derart, daß es vollkommen aussichtslos erscheint, diese vielfältige und doch so geschlossene Wirklichkeit auf ein einziges Erklärungsprinzip zurückzuführen.“

Je größer ein Volk sei, je vielfältiger seine rassische Herkunft, je zerstreuter es siedele, je mehr geschichtliche Prägungen sich auswirkten, desto wahrscheinlicher sei es, daß seine äußere Erscheinung in eine Vielfalt von Typen zerfalle, die nicht einfach als Formen eines übergreifenden Volkstypus verstanden werden könnten. Wolle man bei den komplexeren Völkern dieser Art überhaupt noch von einem einzigen Volkstypus sprechen, so werde man ihn, wie Boehm schreibt, „in keinerlei Durchschnitt des erfahrungsmäßigen Befundes antreffen können“. Vielmehr hänge der Typus dann mit dem „Zielbildlichen der äußeren Erscheinung zusammen“, das er als „Artbild“ bezeichnet. Derartige Völker – und hier sind konkret die Deutschen angesprochen – täuschten sich deshalb häufig sehr über die Wahrnehmung ihres Typus im Ausland. Aus der Binnenperspektive würden primär die Unterschiede zwischen Stämmen, Ständen, Klassen und Individualitäten gesehen, während das Verbindende des Volkstypus kaum bewußt sei. Statt einer realistischen Vorstellung vom Normaltypus des eigenen Volkes existiere jedoch oft bis zu einem gewissen Grade so etwas wie ein Idealtypus äußerer Erscheinung. In diesem bejahe sich das Volk nicht, „wie der Einzelne in ihm durchschnittlich aussieht, sondern wie dieser aussehen möchte.“ An diesem Typus werde sich in unterschiedlichster Weise ausgerichtet und versucht, ihm gerecht zu werden. Insofern gebe es auch eine „Wechselwirkung zwischen leiblichem Volksideal und leiblicher Volkswirklichkeit“, deren überdauerndes Element möglicherweise im Rassischen liege. Die problematischen Wirkungen der Rassenlehren und die Unzulänglichkeit bisheriger Theoriebildung sind ihm dabei sehr bewußt: „Die Theorie des Volkstypus liegt sicherlich ganz besonders im Argen. Nur von ihr aus aber können die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die besondere Methodik der Rassenforschung von ihren Vereinseitigungen und Übersteigerungen zu befreien und sie dann in sicherlich hervorragendem Maße dem Verständnis volklicher Wirklichkeiten dienstbar zu machen.“

Volksgeist und Volkheit

Boehm beschäftigt sich auch mit dem nicht unumstrittenen – vor allem von Hegel geprägten – Begriff des „Volksgeistes“. Vorbehalten gegen die Begrifflichkeit tritt er jedoch konsequent entgegen. Wie er richtig einwendet, werde vor dem Allgemeinbegriff des Volksgeistes oft zurückgescheut, während es andererseits selbstverständlich sei, „vom deutschen oder französischen Geist oder vom Geist der Griechen und der Römer (zu) sprechen“. Als wichtigsten Anreger entsprechender Vorstellungen nennt er den Franzosen Montesquieu. Die eigentliche Wende sieht er allerdings mit Herder verbunden, bei dem sich eine Vorstellung vom Volksgeist als jedem Volk eigene „volklich-individuelle Substanz“ angekündigt habe. Durch ihn habe das deutsche Denken (Stichwort „Deutsche Bewegung“) den entscheidenden Anstoß erhalten, ganz im Gegensatz zum Aufklärungsdenken, das im „Esprit général ein Prinzip der Identität oder eigentlich nur der Gleichartigkeit im Gleichzeitigen innerhalb des staatlichen Rahmens“ zu sehen vermochte, „die Identität des Volkes in der Überdauerung und zwar unabhängig vom Staat zu erfassen“.

Boehm macht sehr eindringlich deutlich, wie überaus fruchtbar dieser Impuls Herders war und verweist dabei nicht zuletzt auf seine Bedeutung für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, der Geographie, der Völkerkunde und insbesondere der altsprachlichen und germanischen Philologie. Durch den Neuhumanismus seien dem Volksgedanken jedoch zugleich auch wieder neue Gefahren erwachsen – mit geistesgeschichtlich schwerwiegenden Folgen, wie Boehm veranschaulicht. Durch die Orientierung der abendländischen Staatsrechtslehre am Modell der Polis-Bürgerschaft sei letztere mit dem griechischen Volk verwechselt worden. Vor dem Hintergrund des deutschen Kleinstaatsgeists habe dies zu einer etatistischen Verengung des Denkens – einer „Verstaatlichung“ des Volksbegriffs – geführt, für die er vor allem Hegel verantwortlich macht. Zwar sei der Volksgeist „einer der uranfänglichen Grundbegriffe des Hegelschen Denkens“ gewesen, sein allmählicher Einbau in dessen geschlossenes System habe sich allerdings nur auf Kosten der Elastizität und Lebendigkeit des Begriffs vollziehen können. Die fruchtbare Spannung zwischen Volk und Staat sei hierbei Hegels „Identitätsdenken“ (im Sinne von Übereinstimmung/Deckungsgleichheit) zum Opfer gefallen.

Bevor er sich der Bedeutung des Volksgeistes in der Gegenwart zuwendet, geht es jedoch zunächst um die Klärung des Begriffs der „Volkheit“, wobei er die Ausführungen Wilhelm Stapels in „Volksbürgerliche Erziehung“ als Ausgangspunkt nimmt, da dieser dem seinerzeitigen Sprachgebrauch am besten gerecht werde, auch wenn er die Volkheit in enge Nachbarschaft zu den Begriffen „Volkspersönlichkeit“ und „Volkscharakter“ rücke. Wie Boehm darlegt, ist für den Jungkonservativen die Volkheit weit „mehr als bloß das ‚Typische‘ eines Volkes, nämlich seine zugleich ästhetische und sittliche Norm“ und umfaßt die Polarität zwischen Sein und Wahrheit. Nach Stapel ist Volkheit demnach „ein natürlicher und sittlicher Begriff, er muß sowohl ethnisch wie ethisch verstanden werden ... Er bezeichnet das Wunder der Naturwerdung des Sittlichen ... Der Wille der Volkheit ist der wahre Volkswille ... Volkheit ist die Subjektivität des Volkes in seiner gesetzmäßigen Entwicklung“ und kann nur unmittelbar gelebt werden. Wie ein Mensch eine Persönlichkeit habe, so lebe ein Volk seine Volkheit dar. Boehm schließt sich auch voll der Formulierung Stapels an, Volkheit sei die „gestaltende Gesetzmäßigkeit“ eines Volkstums. So drücke sich beispielsweise in der Gesetzmäßigkeit der Sprache – wiederum in den Worten Stapels – „die Volkheit als die Gesetzmäßigkeit der Volksseele aus“, verwirkliche sich aber auch in Idealgestalten und im Genie. Die Volkheit sei insofern „die eigentlich geschichtsbildende Kraft ... kein Sein, sondern ein Werden.“ Volkheit könne im Volk geweckt werden, das Volk selbst jedoch als Subjekt der Geschichte sei „eine Idee Gottes – es steht jedem frei zu sagen: eine Idee der Natur, oder eine Erscheinung des Dinges an sich.

Jedenfalls eine Idee, die nicht wir erzeugen, sondern aus der wir erzeugt werden“. Wenn auch auf etwas anderer Ebene, ist hier wiederum eine eindeutige Parallele zu den Grundannahmen des Kommunitarismus der Gegenwart, konkret dessen kulturalistischer Perspektive (Betonung des konstitutiven Charakters von Kultur), zu erkennen. Wie Boehm allerdings einräumt, hat sich der Begriff der Volkheit – obwohl gelegentlich zur Kennzeichnung „volklicher Geprägtheit und Gebundenheit“ gebraucht – nicht wirklich durchgesetzt. Er plädiert daher dafür, sich in nüchterner Weise (bei Abkehr vom Hegelschen Idealismus und dessen Fortschrittsvorstellungen) dem Begriff des Volksgeistes zu nähern. Dazu müßten die konkreten Gemeinschaftsbeziehungen der Völker in den Blick genommen werden, denn hier zeigten sich die Möglichkeiten und Begrenztheiten gegenseitigen Verstehens, die „relative Gemeinschaftlichkeit und die relative Gespaltenheit im Geist, zugleich aber auch die Substanzialität des Volksgeistes“. Die Existenz von so etwas wie dem „deutschen Geist“, dem „polnischen Geist“ oder dem „italienischen Geist“ könne nicht geleugnet werden, auch wenn sie begrifflich nur schwer zu fassen sei. Die „Volkheit“ scheine dabei jedoch immer mitzuschwingen, „insofern dieser ‚Geist des Volkes‘, wie wir mit Herder sagen, eine Spannung in sich birgt und immer wieder eine Idealität aus sich herausstellt, die auch der Genius nicht unter sich läßt, an der aber die Vielen im Volk sich messen, ohne sie zu erreichen“. Das Fortbestehen dieses „bindenden und verbindenden Geistes in den Völkern“ sei jedoch an die Erhaltung ihres Volkseins geknüpft.

Volkswille und Volkscharakter

Äußerst aufschlußreich – nicht zuletzt mit Blick auf seine Einschätzung der dominanten nationalistischen Strömungen der Zeit – sind auch die Betrachtungen, die Boehm zum „Volkswillen“ und „Volkscharakter“ anstellt. Für ihn ist der „Nationalismus und vorab das, was sich heute als faschistische Fanfare oder als tragischer Verzweiflungsschrei des ‚Neuen Nationalismus‘ zur Geltung bringt, ein Krampf- und Fieberzustand, der in Krisenzeiten notwendig und heilsam sein kann, der aber nicht die letzten Wahrheiten sichtbar werden läßt. Kräfte und Werte verbrennen in ihm: und das kann in einem Zeitalter des Umbruches Erneuerung bedeuten und der Gesundung den Weg bahnen. Die Genesung selber aber wird daran zu erkennen sein, daß das Volk sich Reserven wahrt, daß sein Selbsterhaltungswille, der den Instinkt für Jahrhunderte und Jahrtausende einschließt, sich dem notwendig wechselnden und häufig irrläufigen staatlichen Aktionswillen nicht mehr restlos preisgibt, sondern ihm widersteht (...).“ In seinen Ausführungen betont er wiederum die unaufhebbare Wesensfremdheit zwischen Volk und Staat, verdeutlicht aber auch ihre wechselseitige Abhängigkeit. Ihr kompliziertes Verhältnis charakterisiert er in dem anschaulichen Bild, daß Volk und Staat sich stets suchten, ohne sich jemals finden zu können. Das Volk wolle „nicht die Anarchie, sondern die Ordnung, nicht die Wucherung, sondern die Zucht, zu der es nie aus eigenen Kräften hinfindet“. Es könne sich allenfalls selber verwalten.

Boehm weist darauf hin, daß er an diesem Punkt nicht viel mehr als tastend anzudeuten vermag, „in welchen Bereichen die Äußerungen des Volkswillens, sofern man ein eigenständiges Volk in Spannung zu den herrschaftlichen Kräften des Staates anerkennt, etwa zu suchen wären“. Das Nationale gewinne dadurch eine „vermittelnde Stellung zwischen dem eigentlich staatlichen und dem eigentlich volklichen Bereich. Zugleich rücken das Völkische, das Volkhafte, das Volkliche: Art, gesellschaftliche Form und tiefstes Wesen in größere gegenseitige Nähe. Ein naturhafter wachstümlicher Zug verbindet sie miteinander, obschon das Volk nicht im Natürlichen stecken bleiben darf. (...) Zum Willen erwacht das Volk erst an seinem Schicksal. Sein Schicksal ist ihm verkörpert im Staat und in den Staaten, in denen, vor denen und gegen die es sich zu behaupten hat. Volkswille hat nur das Volk unter Völkern. (...) Seine Substanz erfährt das Volk an seinen Grenzen. Und an dieser Erfahrung, die seine eigentliche Volksgeschichte ist, bildet sich der Volkscharakter aus.“

Im sich anschließenden Abschnitt zum „Volkscharakter“ verweist Boehm zunächst darauf, daß eine Beschäftigung mit Charakter immer in erster Linie erfolgt, um künftiges Verhalten von Menschen einschätzen zu können. Hierbei gehe es weniger um Erkenntnis als um „Kennerschaft“. Analog sei das Ziel einer derartigen Betrachtung von Völkern, „die entsprechende relative Konstante im geschichtlichen Verhalten des anderen Volkes zu erfassen“. Boehm behauptet dabei keine Unveränderlichkeit des Volkscharakters. Einer „starr substanzialistischen Auffassung“ erteilt er eine klare Absage. Wie bereits angeklungen, ist für ihn der „Volkscharakter zunächst ein kennerschaftlicher Behelf und nicht ein Element exakter Wissenschaft“. Wichtig ist ihm dabei der als Ausdruck seiner holistischen Perspektive zu lesende Hinweis, „daß der persönliche Charakter den Volkscharakter nicht umhüllt, sondern ihn als dessen Individuation repräsentiert“. In dieser Repräsentation seien natürlich Gradabstufungen möglich, so daß es mehr oder weniger typische Vertreter eines Volkes gebe. Überdies bestehe bei größeren Völkern die Möglichkeit, „auf ein eigentümliches System unabhängiger Stammes- und Landsmannschaftscharaktere zu stoßen, die nicht auf eine einfache Gesamtformel gebracht werden können.“

Boehm unterscheidet drei Komponenten oder Elemente des Volkscharakters: Er sieht ihn bestimmt durch Anlage und Begabung als nicht zuletzt biologisches Erbe („Ererbtes und Angeborenes“) und bis zu einem gewissen Grade zeitbedingte Prägung („Anerzogenes und Erlerntes“); darüber hinaus gebe es noch ein normatives Moment des Volkscharakters, eine „besondere Idealität, die das Volk gleichsam als ein Prinzip der Selbststilisierung im Hinblick auf seine zukünftige Entwicklung aus sich herausstellt. (...) Wer ein Volk nur kennt, wie es sich tatsächlich darstellt, und nicht berücksichtigt, wie es im einzelnen und im ganzen, offen und im Geheimen sein und werden will, was es von sich und den Seinigen verlangt, der sieht nur einen Teil seines Charakters. Erbbild, Zeitbild und Zielbild gehören miteinander zusammen.“ Hieraus resultiere auch die Schwierigkeit, „bei der Charakterisierung von Völkern zu allgemeingültigen, beweisbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen“. Bei Völkercharakterisierungen bestehe stets die Gefahr vorschneller Verallgemeinerungen. „Auf der anderen Seite verfälscht aber der Versuch, etwa durch exakte statistische Erhebungen oder andere Verfahren einer kritischen Induktion zu ‚beweisbaren‘ Urteilen zu kommen, den Volkscharakter gerade in seiner eigentümlichen Schwebelage zwischen Substanziellem, Kollektivem und Individuellem, die uns so aufschlußreich erscheint.“ Der Volkscharakter entziehe sich somit den Methoden der „exakten“ Wissenschaft.

Offensichtlich schwebt ihm eine ähnliche Herangehensweise vor wie dem eingangs angeführten Hartmut Rosa, der sich – orientiert an Charles Taylor – für die Wiederbelebung einer hermeneutischen Sozialwissenschaft einsetzt. Im konkreten Fall des Volkscharakters schlägt Boehm eine Betrachtung der Selbstcharakterisierungen von Völkern vor, wie es im Eigenlob und der Überkompensation von Schwächen zum Ausdruck komme. In diesem Zusammenhang spricht er insbesondere die Selbstzuschreibung bestimmter Nationaltugenden an, so beispielsweise die Betonung der „slawischen Sanftmut“, der „französischen Großherzigkeit“ oder der „deutschen Treue“, die häufig gerade auf Defizite in den entsprechenden Bereichen hindeute, die entweder in der Vergangenheit bestanden oder nach wie vor eine Rolle spielten. Interessant mit Blick auf die Gegenwart ist, daß Boehm das Vorhandensein eines bis zur Selbstverunglimpfung gesteigerten Hangs zur Selbstkritik als Schwäche vor allem der Deutschen und Russen herausstellt. Er weist allerdings auch darauf hin, daß derartige Selbstbeurteilungen als Spezialfall von Völkercharakterisierungen in besonderem Maße affektbedingt seien: „So wenig wie das Individuum steht ein Volk sich selber unbefangen und objektiv gegenüber.

Dasselbe gilt für Nachbarvölker mit strittigen Grenzen, für Völker, die sich überschichten und durchdringen, für abhängige gegenüber Herrenvölkern, für große gegenüber Kleinvölkern und umgekehrt. Namentlich die Erkenntnismittel der Ressentimentpsychologie machen hier manche Erscheinungen begreiflich.“ Die vermeintlich „unbefangenen“ Völkercharakterisierungen seien allerdings nicht per se überlegen. Für besonders problematisch hält Boehm jedoch „stehende, traditionell weitergegebene Charakterisierungen“. Derartige vergröberte und entsprechend anfechtbare Beurteilungen seien dabei keineswegs nur auf Völkerhaß zurückzuführen, sie könnten auch aus schwärmerischen Formen der Völkerfreundschaft, den sogenannten Philien, herrühren. Für Boehm ist es selbstverständlich, daß der Volkscharakter nicht statisch gedacht werden darf. Er müsse als Kraft angesehen werden, „die sich mindestens durch die Antwort auf die stets wechselnden Anforderungen des geschichtlichen Schicksals und durch Verbindungen mit Zeitideen und anderen veränderlichen Potenzen wandelt“. Dabei sei der Blick auf den Volkswillen unerläßlich.

Volksseele, Volksindividualität und Volkspersönlichkeit

Die verbreitete Ablehnung des romantischen Begriffs der „Volksseele“ wird von Boehm sehr kritisch gesehen. Da in anderen Zusammenhängen ohne jegliche Bedenken von „Tier- und Pflanzenseele, von Rassen- und Massenseele“ gesprochen werde, deute die in diesem speziellen Fall an den Tag gelegte Scheu darauf hin, „daß die volkliche Eigenständigkeit nicht gesehen und anerkannt, daß das Volk als unselbständige Nebenerscheinung auf Staat, Rasse oder anderes ‚zurückgeführt‘ wird und daß man sich mithin über die Einheit und den inneren Zusammenhang dessen, was wir als Volksgeist, Volkswillen und Volkscharakter bereits prüften, aus allgemeiner volkstheoretischer Gedankenlosigkeit keine klareren Vorstellungen macht. Die geistige Lage, in der wir uns volkstheoretisch befinden, wirkt sich im übrigen, wie wir auf Schritt und Tritt sahen, keineswegs bloß an den zentralen, vom metaphysischen Wagnis bedrohten Begriffen, sondern auch an allen einzelnen Vorstellungen und ihrem sinnvollen Zusammenhang verhängnisvoll aus. Die Skepsis gegenüber der ‚Volksseele‘ ist dafür nur ein Anzeichen unter vielen.“ Vor diesem Hintergrund ist auch Boehm geneigt, den problematischen Begriff der Volksseele außen vor zu lassen und „nach Vorstellungen zu suchen, die weniger mißdeutbar und metaphysisch unverbindlicher sind.“ Ein geeigneter Begriff sei der der „Volksindividualität“. Um deren tieferes Verständnis habe sich vor allem Herder verdient gemacht. Schließlich sei „Volksgeist“ im Wortgebrauch der jungen Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts nichts anderes als ein „idealistisch zugespitzter Ausdruck für Volksindividualität“.

„Volkspersönlichkeit“ sei demgegenüber zumeist etatistisch konnotiert. Als rein staatsbezogener Begriff habe er in der Gegenwart die Vorherrschaft errungen. Dennoch sei die Saat des Ethnopathetikers Herder insgesamt aufgegangen. In den Völkern würden geistig-seelische Potenzen gesehen, wobei weder individualistische noch kollektivistische Vorstellungen den Ausgangspunkt bildeten, sondern häufig mehr tastende organische oder ganzheitliche Anschauungen. Die bestehenden Unklarheiten hätten allerdings auch dazu geführt, daß die Frage nach dem Verhältnis von Volk und Staat nicht angemessen erfaßt und beantwortet worden sei. So erkläre sich die „seltsame Tatsache, daß ein im Grunde liberales Zeitalter in eine besondere Verhärtung und Verengung einseitig staatlichen Substanzdenkens verfallen ist, und daß wir heute der Gefahr gegenüberstehen, gerade dieses Erbe der Vorkriegszeit nach einer kurzen Zwischenzeit der Auflockerung wiederbelebt und im liberalismusfeindlichen Denken der jungen Generation neu befestigt zu sehen“, womit wohl in erster Linie die nationalsozialistische Bewegung gemeint ist. Vor diesem Hintergrund bleibe nichts anderes übrig, als sich von „mehr oder minder verbrauchten Begriffen zu lösen, und zunächst einmal das Problem der Wesenserfassung des Volkes aus seinen zeitbedingten Verkrustungen herauszuschälen.“ Bereits die Fragen nach Volksindividualität und Volkspersönlichkeit, die letzteres noch nicht berührten, gäben hierzu Anlaß.

Die Volksindividualität betrachtet Boehm zunächst unter dem prozeßhaften Gesichtspunkt der Volksindividualisierung (Blick auf das Volk als „Werdewesen“): „Überblickt man die Völkerwelt, in der wir leben, so zeigt sie sich als eine Vielfalt ethnischer Sondergebilde, die wir in ihren geschichtlich reiferen und komplexeren Gestaltungen Völker, in den unentwickelteren und elementareren auch Völkerschaften, Volksstämme oder einfach Stämme nennen. In ihren Rand- und Überschneidungsgebieten gehen diese ethnischen Gebilde teilweise ineinander über, setzen sich aber vielfach zugleich, sogar in überschärftem Gegensatz, gegeneinander ab. Damit ist bereits ein entscheidender Ort der Individualisierung genannt: die Grenze des Volkssiedelbodens. Die räumliche Begegnung mit dem Volksfremden macht im Kontrasterlebnis nicht nur die Eigenart bewußt, sondern zwingt zu deren Verteidigung oder verlockt zum Angriff auf fremdes Volkstum.“

Die Individualität der Völker sei allerdings nicht nur äußerlich vom Nachbarn bedroht, sondern auch von innen her. Die heutigen Völker des Abendlandes als Träger eines gemeinsamen Erbes seien religiös verbunden durch das Christentum, ihre Kultur bestimmt durch Antike, christliches Mittelalter und Aufklärung als geistiger Allgemeinbesitz. Hinzu kämen besondere Gemeinschaftserinnerungen, die durch die moderne Zivilisation allerdings wirksam ausgeglichen würden. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen seien „Träger einer besonderen übernationalen Prägung und Haltung“, „volklicher Durchindividualisierung entzogen und von volksübergreifenden Mächten geprägt“. Angesichts von Überfremdung und der Tendenz zum „weltbürgerlichen oder polynationalen Ausgleich“ (also einem allgemeinen Angleichungsprozeß) bilde der Nationalismus eine Gegenkraft, die der „Individualisierung, Bewußtwerdung und Betonung der volklichen Eigenart“ diene. Er stelle insofern eine „Form der Abwehr der Völker gegen bestimmte Überfremdungs- und Entselbstungsgefahren“ dar. Dabei zeigt sich eine eindeutige Parallele zu dem linksnationalen Theoretiker Henning Eichberg, der den modernen Nationalismus über das Begriffspaar Identität und Entfremdung zu deuten versucht. Hierauf wird später noch genauer einzugehen sein.

Auch wenn manche Spezifika der Moderne (vor allem das in der neuen Wertschätzung der Individualität mitschwingende Ideal der Originalität und Authentizität) mehr angedeutet werden als explizit zur Geltung zu kommen, so versteht Boehm es doch, entscheidende Triebkräfte des Nationalismus zu entschlüsseln. Als Form des Volkswillens gründe er sich geistig auf ein Kontrasterlebnis. Immer gehe es um die Behauptung des Eigenen. Dadurch bestehe für ihn allerdings stets die Gefahr, zu einer bloßen Antibewegung zu werden. Die Volksindividualität drohe dann in eine sublime Abhängigkeit gegenüber dem bekämpften Gegner zu geraten. Eine andere Gefahr sei ein überspannter Nationalismus, der den Kampf schließlich sogar nach innen kehre und neue das Volk spaltende Fronten schaffe (gegen breite Gruppen im eigenen Volk: er nennt unter anderem eine geförderte Gegnerschaft zum Klerikalismus, zum Sozialismus, aber auch zur Staatsräson). In der Gegenwart allerdings drohe die weit größere Gefahr von anationaler, internationalistischer Seite, „wo die Eigenständigkeit des Volkes und Volkstums von Relativismus zerfressen und einem verständlerischen Naturgeist zum Opfer gebracht wird. Wie es übergrelle Individualitäten auch unter den Völkern gibt, so stoßen wir auch auf eine Blässe, die die Farbe des Todes ahnen läßt und dem Untergang der Nationen voraufgeht.“

Boehm stellt dar, daß das Volk sich am besten als „Gesamtperson“ fassen läßt. Volksgeist und Volksseele, Volkswille und Volkscharakter seien damit Aspekte oder Ausstrahlungen der Volkspersönlichkeit, die sich durch den Begriff der Volkheit eines tieferen metahistorischen Sinnes versichere. „Die Volkspersönlichkeit selber ist ein Prinzip des geschichtlichen Lebens. Sie baut sich in den mannigfaltigsten Formen (...) aus einzelnen Personen auf, oder läßt sich durch deren kollektives Bemühen auferbauen. Sie opfert dabei nicht das Personsein des Einzelnen auf, sondern überhöht den Waltungsbereich der Einzelpersönlichkeit. (...) In der Spannung zwischen Volkstypus und Volkscharakter einerseits, Volkheit andererseits, nimmt sie an der Würde des Ethnischen teil. Kollektivität und Substanzialität sind in ihr zu einer höheren Einheit verknüpft.“ Mindestens in Ansätzen sei dies bereits ohne Staat möglich. Es könne Grenzfälle der Personalität des Volkes geben, in denen diese noch nicht staatlich geformt sei. Dabei sei allerdings die „Grenze zwischen einem vegetativen Stammestum und echter Volklichkeit insofern vom Staatlichen her bestimmbar (...), als das Volk Ansätze einer arteigenen Organisation und den Willen zum Zusammenhalt und zur zielbewußten Überdauerung entweder in Anlehnung an staatliche Mächte oder im Kampf mit ihnen, also in jedem Falle staatsbezogen ausbildet.

Nationwerdung und Personwerdung des Volkes hängt demnach doch engstens zusammen.“ Das Volk kennzeichnet er vor diesem Hintergrund als ein „Wir-Ich“, eine Gemeinschaft, die „mehr und ein anderes (ist) als bloße Kollektivität oder Gesamtheitlichkeit“. Die Gemeinschaftlichkeit des Volkes lege sich in eine unübersehbare Fülle ganz konkreter, zeit- und raumübergreifender Gemeinschaftsbeziehungen auseinander, so daß es sich als eine „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ aufbaue. Durch das allumfassende Wirbewußtsein des Volkes würden diese Einzelbeziehungen überwölbt und „die Volksgemeinschaft zu einer relativen Gleichheit oder Ähnlichkeit der Volksgenossen (geführt), die namentlich der Fremde sofort sieht und die durch den Vorgang der inneren Assimilation planmäßiger gestaltet und verstärkt wird.“ Zwischen dem „Gattungsmäßige(n) und Gemeinschaftsartige(n) in der Volkspersönlichkeit“ bestehe insofern eine eigentümliche Wechselwirkung. Das Volk als „lebendiges Wir-Ich“ sei Gemeinschaft und Gattung zugleich und werde in dieser „gedoppelten Kollektivität“ zur geschichtsgültigen Substanz als Volkspersönlichkeit. Die Zugehörigkeit zu einem Volk bedeute daher „Teilhabe an der Personwerdung des Volkes, an seiner substanziell-kollektiven Existenz als geschichtliches Werdewesen“.

In seiner Schlußbetrachtung wagt Boehm einen Ausblick und richtet konkrete – allerdings bis heute nicht eingelöste – Forderungen an die Geistes- und Sozialwissenschaften. Scharfe Kritik übt er vor allem an einem Vorbeidenken an den Völkern. In Boehms Worten: „Es darf keine politische Theorie mehr geben, die mit naiver Selbstverständlichkeit das Volk in einem Nebenabschnitt der Staatslehre behandelt: die Eigenständigkeit des Volkes muß metapolitisch zum allermindesten als Problem ernst genommen werden. Und es geht ebensowenig an, daß eine Theorie der Geisteswissenschaften, die es dauernd mit dem Geist oder dem geistigen Leben und den geistigen Schöpfungen einzelner Völker zu tun haben, die Frage der geistigen Völkerindividuation, das Problem des Volksgeistes und der Volkspersönlichkeit einfach zu übergehen beliebt, oder diesen Problembereich gegen die metapolitische, aller Ethnopolitik zugrundeliegende Frage nach der Eigenständigkeit und damit der Autonomiefähigkeit und Autonomiewürdigkeit des Volkes im Reich der Macht willkürlich abschottet.“ Für die damalige Zeit äußert sich Boehm durchaus optimistisch. Angesichts der Krise der Gegenwart, eines umfassenden Wertnihilismus und der Erschütterung der Sozialordnung (als extremsten Ausdruck dieser Tendenzen sieht er den Bolschewismus als „weltrevolutionäres Prinzip“) sei eine Wendung zum Volk erkennbar – wenn auch teilweise in Verzerrungen, Übersteigerungen und Verfälschungen. Hierbei verweist er explizit auf Faschisten, Nationalsozialisten und den „Neuen Nationalismus“ der Frontgeneration und ihren Versuch einer Nationalisierung des „dämonischen Massengeist(s) unseres Spätalters“. Insgesamt scheine jedoch „aus der Krise, in der das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts verbrennt“ – und trotz aller damit einhergehenden Gefährdungen – der Volksgedanke neue Lebenskraft zu gewinnen. Die Vision Herders warte darauf, „der europäischen Wissenschaft anverwandelt und einverleibt zu werden.“

Literatur

  • Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932
  • Max Rumpf: Volkstheorie und Volkssoziologie, Junker und Dünnhaupt, 1933
  • Kurt Stavenhagen: Kritische Gänge in die Volkstheorie, 1936
  • Max Hildebert Boehm: Volkstheorie als politische Wissenschaft, 1934
  • Max Hildebert Boehm: Volkstheorie und Volkstumspolitik der Gegenwart, 1935
  • Emerich Francis: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Duncker & Humblot, 1. Auflage (1965)

Verweise