Deutsches Hauptquartier Bellaria
Das Deutsche Hauptquartier „Bellaria“ war ein überwiegend selbst verwaltetes Kriegsgefangenen- und Internierungslager für deutsche Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg im Großraum Rimini – Cervia, Italien unter britischer und VS-amerikanischer Aufsicht.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Als am 2. Mai 1945 die Heeresgruppe C kapitulierte, strömten die deutschen Soldaten in die „Enklave Rimini“. Aus der Anfänglichen Improvisation voller Elend, Dreck, Hitze und vor allem Hunger wurden dann „Wohlorganisierte Zeltstädte“ mit ca. 150.000 Mann (Infanteristen, Panzergrenadiere, Flieger, Fallschirmjäger von Monte Cassino, aber auch blutjunge Luftwaffenhelfer), die in 16 Einzellagern untergebracht waren. Am 20. Mai 1945 wurde in Rimini Generalleutnant von Graffen damit beauftragt mit Hilfe eines Stabes (vornehmlich der Stab des LXXVI. Panzer-Korps) die Selbstverwaltung zu organisieren. Diese formierte sich unter dem Namen „Deutsches Hauptquartier“, ab dem 23. September 1946 als „Deutsche Verbindungsstelle“.
- „Die Teilkapitulation in Italien am 2. Mai 1945 brachte etwa eine halbe Million deutsche Soldaten in alliierten Gewahrsam. Während zu Kriegszeiten eingebrachte Gefangene von den Alliierten als reguläre Kriegsgefangene betrachtet wurden, galten die im Zuge der Kapitulation eingebrachten Gefangenen als DEF (Disarmed Enemy Forces) oder SEP (Surrendered Enemy Personnel). Der Status regulärer POW oder PW (Prisoner of War) wurde diesen Soldaten nicht zuerkannt. Gemäß entsprechenden Planungen der Alliierten aus der Zeit vor der Kapitulation wurden den kapitulierenden deutschen Verbänden Sammlungs- und Aufenthaltsräume zugewiesen. Die britische Armee wies ihrem SEP-Anteil in Italien von etwa 150.000 Mann Ende Mai 1945 einen Küstenstreifen zwischen Rimini und Cervia zu (‚SEP-Enklave Rimini‘), in dem mehrere Lager eingerichtet wurden. Von britischer Seite war die 21. Panzer-Brigade (brit.) zuständig. Organisation, Betreuung und allgemein die Verwaltung dieser Internierungslager wurde von der britischen Seite dem ‚Deutschen Hauptquartier Bellaria‘ übertragen, das wiederum aus dem Stab des LXXVI. Panzer-Korps hervorgegangen war.
- Eine seiner Aufgaben bestand darüberhinaus in der Organisation und Durchführung von Hochschulkursen für Soldaten, entsprechendem Bildungsstand (‚Lager-Hochschule‘). Die Lager-Hochschule eröffnete am 26. Juli 1945 und umfaßte etwa 80 Dozenten und Lektoren, 700 Immatrikulierte und 500 Gasthörer. Im August 1945 begann der Einsatz von Gefangenen-Arbeitseinheiten, die über ganz Italien verteilt wurden. Es entstanden etwa 350 Arbeitseinheiten, wobei allein im Raum Neapel zeitweise 10.000 Gefangene eingesetzt wurden. Ebenfalls im August 1945 erfolgten allerdings auch die ersten Entlassungen. Im Winter 1945/46 umfaßte die SEP-Enklave Rimini noch 28.000 Mann. Ab Herbst 1946 bezeichnete sich das ‚Deutsche Hauptquartier‘ schließlich als ‚Deutsche Verbindungsstelle‘, da die verbliebenen Gefangenen nun direkt britischer Verwaltung unterstellt wurden. Ende April 1947 wurde die SEP-Enklave Rimini aufgelöst. Bei dem ‚Deutschen Generalslager Bellaria‘ handelt es sich um eines der dem ‚Deutschen Hauptquartier Bellaria‘ unterstellten Internierungslager. Im Generalslager waren u. a. kriegsgefangene deutsche Offiziere untergebracht, die unter britischer Aufsicht Ausarbeitungen zu den Kämpfen in Italien aus deutscher Sicht erstellen sollten.“[1]
Lagerselbstverwaltung in der Enklave Rimini
Die „Enklave Rimini“, ausgelegt für 10.000 Gefangene, war schnell mit mehr als 150.000 Kriegsgefangene überfüllt. Aber die Deutschen waren Weltmeister in Organisation und Diziplin. Unter Anderem wurden Verpflegungslager und Betreuungsbaracken gebaut, Koch- , Wasch- und Duschmöglichkeiten geschaffen und etwa 72.000 Meter Rohrleitungen verlegt. Organisatorisch bildete sich bald eine deutsche Lagerpolizei, eine deutsche Rechtsverwaltung mit deutschen Richtern (Gericht Deutsches Hauptquartier Bellaria) und ein umfassendes Versorgungssystem mit Transporteinheiten, Werkstätten und Lagerbäckereien heraus.
- „Etwa 150.000 Personen dieses Sonderstatus, vor allem Soldaten der 10. Armee und der Luftwaffe, wurden in den wohlbekannten Raum von Rimini transportiert, wo ab dem Wirken des Waffenstillstands begonnen worden war, einzelne Lager zu errichten. Dabei handelte es sich jeweils um etwa 2 km lange und 1200 m breite Umzäunungen, die westlich der Ortschaften an der Adriaküste, teils auf vormaligen Weizenfeldern, errichtet wurden. Die deutschen Soldaten wurden nach ihrer Ankunft einer zeitaufwändigen Registrierung und Durchsuchung unterzogen. Dabei kam es auf die jeweilige Persönlichkeit der britischen Bewacher an, welche Ausrüstung und persönlichen Gegenstände die durchsuchten Gefangenen behalten durften. Dieses war ein nicht unwichtiger Faktor, denn nach Beendigung des Eingangsprozederes mussten sich die neuen Insassen unter freiem Himmel lagern, falls sie nicht das Glück hatten, noch über ihre eigenen Zelte aus Wehrmachtsbeständen zu verfügen. Innerhalb der Lager waren die Gefangenen in Blöcken organisiert, denen jeweils ein Buchstabe zugeteilt war. Ein Block fasste 10 Hundertschaften. Während dieser Anfangsphase bestanden erst drei der folgenden sechzehn Lager in unmittelbarer Nähe des Ortes Bellaria, dem späteren Sitz der deutschen Lagerverwaltung. Die Verwaltung dieser Lager wurde am 20. Mai von der zuständigen 21. englischen Panzer-Brigade an das ‚Deutsche Hauptquartier Bellaria‘ übergeben.“[2]
Ab dem 9. Juni 1945 erschien dann die „Lagerzeitung des Deutschen Hauptquartier Bellaria“ erstmals in ihrer offiziellen Form und berichtet täglich vom Geschehen in der Welt. Später kamen weitere Druckerzeugnisse wie die Lagerzeitung „Die Brücke“, welche in ganz Italien an deutsche Gefangene verteilt wurde, oder die christlichen Schriften „Christophorus“ und „Bereitschaft“. Kamen die anfänglichen Nachrichtenblätter aus der hauseigenen Druckerei des Deutschen Hauptquartiers, so gründete sich im Oktober die „Deutsche Druckerei Miramare“, der zu einem späteren Zeitpunkt sogar andere Druckereien angeschlossen wurden.
Es gab Fußballmannschaften, Sportfeste, Sprachkurse, Studiengänge (die Eröffnungsansprache der Lager-Hochschule „Alma Mater Bellariensis“ im Lager 5d am 26. Juli 1945 hielt der Kommandierende General Generalleutnant Polack, die erste Semester-Schlußfeier fand am 17. September 1945 statt[3]),[4] Filmvorführungen, Musikkapellen, Theatergruppen und weiteres. Angehörigen der Waffen-SS, die befürchten mußten, wie es üblich war, später verlegt zu werden, wurden kameradschaftlich Wehrmachtspapiere ausgestellt. Angehörige der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (galizische Nr. 1) erhielten dagegen Sonderbehandlung. Da die meisten Soldaten aus Galizien stammen, galten sie als polnische Staatsbürger und wurden nicht an die Sowjetunion ausgeliefert, sondern in Rimini interniert. Viele wanderten nach ihrer Entlassung nach Kanada, den VSA und Australien aus. Nicht wenige wurden als Agenten ausgebildet, um sie hinter dem Eisernen Vorhang im Kampf gegen den Kommunismus einzusetzen. Der Kommandeur Fritz Freitag konnte jedoch keine Vorzugsbehandlung erwarten, er soll am 10. Mai 1945 den Freitod gewählt haben.
Arbeitsdienst
Arbeitseinheiten gab es auch in den Lagern selbst. Jedoch war die Meldung zum Arbeitsdienst hier ohne Zwang von britischer Seite. Die Freiwilligen erhielten für ihre Dienste Zusatzrationen, später sogar eine kleine geldliche Entlohnung. Die nicht zum Arbeitsdienst eingeteilten Soldaten hatten, außer einem täglichen Morgenappell mit Überprüfung der Vollzähligkeit, keine Pflichten und waren zum Zeitvertreib auf sich selbst zurück geworfen.
- „Am 23.05.1945 geriet Heinrich [Baumbach] in britische Gefangenschaft. Er kam ins Lager 5a wo man ihm 3.500 italienische Lire abnahm. Im Kriegsdienst erhielt er einen monatlichen Wehrsold von durchschnittlich 460 Lire. Heinrich wurde im deutschen Hauptquartier ‚Bellaria‘ in Rimini von der 21. englischen Tankbrigade und dem 218. Spezial AREA (Sonderzone) als Fernsprecher eingesetzt. Über die Gefangenschaft sind Angehörige sofort informiert worden und zwar durch den Gefangenen selbst. Jeder erhielt nämlich eine ‚Card of Capture‘ (Gefangenenmeldung). Das war eine, auf beiden Seiten vorgedruckte Postkarte, worauf er den derzeitigen Aufenthalt, die Gefangenennummer und den Gesundheitszustand schreiben durfte.“
Flucht und Liebschaften
Natürlich wurde auch aus dem Lager geflüchtet. Kritiker in englischsprachigen militärhistorischen Publikationen haben angeführt, die Deutschen von Rimini hätten ein bequemes, ja, gar Luxus-Leben. Dies entsprach jedoch nicht der Wahrheit, denn Gefangenschaft und Zwangsarbeit nach einer fingierten „Entlassung“ kann man kaum als „Luxus“ bewerten. Die Familienväter in der Enklave machten sich große Sorgen um ihre geschändeten Frauen und hungernden Kindern in der Heimat. Die Barbarei der Besatzer, insbesondere die der Roten Armee, war auch den deutschen Kriegsgefangenen bekannt (u. a. durch die Lagerzeitungen,[5] die internationale Zeitungen und Zeitschriften von „BBC“, „New York Times“ uvm. zur Verfügung hatten), die sich grämten, weil sie ihre Familien nicht schützen konnten. So mußten die Briten von Anfang an Einheiten abstellen, die Geflüchtete auf dem Weg in die Heimat jagten und auch erschossen.
Auch ledige Männer wollten dem Lagerleben entkommen und schlugen sich zuweilen nach Südtirol durch (alleine im Mai 1947 wurden 40 Wehrmachtssoldaten von der italienischen Polizei in Bozen aufgegriffen). Hier kam es vor, daß ein Soldat blieb und heiratete. Auch der Arbeitsdienst außerhalb des Lagers bot Abwechslung, nicht wenige deutsche Soldaten verliebten sich, wie dies schon während des Krieges geschah, in eine Italienerin, manche blieben im Süden als Ehemann nach der Repatriierung.
Wahr ist allerdings, daß die Verhältnisse als Kriegsgefangener in Italien um ein vielfaches besser war, als das Grauen und die Sterblichkeitsrate der Kriegsgefangenschaft im Osten der Sowjetunion.
Die Müll- und Gefangenenorgel von Rimini
- „Mai 1945: 150.000 deutsche Soldaten kommen in das Kriegsgefangenenlager Rimini-Bellaria unter englisch-amerikanischer Leitung. Die Soldaten leben erbärmlich in selbst gebuddelten Erdlöchern in der Hitze am Strand von Rimini. Die tägliche Essensration beträgt ein Brot für 12 Mann. In dieser bedrückenden und scheinbar so ausweglosen Situation wird eine kleine Pfeifenorgel zum Symbol für den Willen zum Überleben und ein starkes Miteinander ‚Gemeinsam schaffen wir das‘. [...]
- Alte Konservendosen und Kekskanister werden zu Orgelpfeifen. 50 alte Holz- und Lebensmittelkästen werden zu Windladen und Gehäuse verarbeitet, Stahldraht zu Abstrakten, eine alte Lederhose, alte Stiefelschäfte und ein alter Soldatenrock zu Dichtungen von Ventilen und Windladen. Das Lötzinn wird aus Kanistern herausgeschmolzen. Ein Lagerpfarrer unterstützt das Vorhaben und besorgt Materialien aus der Lagerumgebung. Unter den Gefangenen sind zahlreiche Handwerker, Künstler und Architekten und nach und nach findet sich eine Gruppe von bis zu 12 Mitarbeiter zusammen. Die englisch-amerikanischen Lagerbewacher beobachten das Treiben auf dem Lagerplatz zunächst aufmerksam mit skeptischer Sorge, die deutschen Gefangenen könnten Waffen herstellen.
- Nach drei Monaten und 3.600 Arbeitsstunden, am Freitag, den 13. September 1945, erklingen um 20.15 Uhr die ersten Töne der Orgel und zwei Tage später, am Sonntag, den 15. September, ist feierliche Orgelweihe. Die Orgel steht im Freien am Strand noch im 4 Meter hohen Gerüst, kunstvoll zusammengefügt aus handgesägten Latten und Brettern, Prinzipal 8´im Prospekt, zwei Flügeltüren rechts und links mit einem großen, überragenden Kreuz in der Mitte: ein Kunstwerk aus Kriegsabfällen.“[6]
Repatriierung
Die Repatriierung der ersten Gefangenen erfolgte bereits im August 1945. Die Alliierten sahen sich in Deutschland mit einer Hungersnot im kommenden Winter konfrontiert, weshalb sie an ihre Gefangenenlager den Befehl ausgaben, Personen mit einer landwirtschaftlichen Berufsausbildung oder mit Erfahrung in diesem Bereich zu entlassen, damit sie schnellst möglich in der Heimat für die Lebensmittelerzeugung eingesetzt werden könnten. Doch ein Teil der „Entlassenen“ wurde nicht, wie erhofft, nach Deutschland gebracht, sondern in Arbeitseinheiten zusammengefaßt und in Italien, Frankreich und den Beneluxländern als deutsche Zwangsarbeiter eingesetzt. Unter den Gefangenen sorgte dies für Wut und Verunsicherung, hoffte man doch auf die Entlassung, mußte aber gleichzeitig befürchten, längere Zeit als Sklave des Feindes arbeiten zu müssen.
Tote und Auflösung
Es gab über 200 Tote bis zur Auflösung der Enklave im Frühjahr/Sommer 1947. Traugott Herr gehörte zu den letzten Offizieren, die Rimini verließen (19. Juni 1947), statt jedoch entlassen zu werden, wurde der General der Panzertruppe noch knapp ein Jahr nach England verbracht.
Personen
Kommandierende Generäle
- Generalleutnant Karl von Graffen
- Generalleutnant Dr. rer. pol. Fritz Polack
Lagerkommandanten
Die 16 Einzellagern hatten jeweils einen Lagerkommandanten, zumeist mit dem Dienstgrad Oberst, die wiederum von den Blockkommandanten (zumeist Hauptleute) unterstützt wurden (Verteilung der Versorgungsgüter, Disziplinarmaßnahmen, Appelle u. ä.).
Bekannte Kriegsgefangene (kleine Auswahl)
- Otto Baum
- Desiderius Hampel
- Erich Priebke
- Gerhard Graf von Schwerin
- Heinrich von Vietinghoff
- Karl Wolff
Deutscher Ehrenfriedhof Cervia
Viele deutsche Gefallenen an der Italienfront, aber auch die Toten der Enklave fanden ihre letzte Ruhestätte auf dem „Deutschen Ehrenfriedhof Cervia“ (im Lager Rimini-Miramare), der am 4. Oktober 1945 eingeweiht wurde. Der Ehrenfriedhof in Cervia galt als besondere, heilige Ruhestätte, weil sie von deutschen Kriegsgefangenen für ihre Kameraden liebevoll angelegt wurde. Angehörige aus dem besetzten Deutschland dürften erst zwischen Weihnachten 1950 und Neujahr 1951 die deutsche Kriegsgräberstätte besuchen, zuvor hatten die Italiener dies verboten.
Nach „deutsch-italienischen Unstimmigkeiten“, die Italiener wollten die Kriegsgräber der Fremden weit weg vom zukünftigen Fremdenverkehrsparadies haben, wurde der Ehrenfriedhof komplett nach Futa-Paß „verlegt“ (Zusammenbettung der Gefallenen). Zur Erinnerung an den von den Italienern schändlich eingeebneten deutschen Soldatenfriedhof in Cervia hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die bei der Überführung der Gefallenen erhalten gebliebenen Gedenksteine der Truppe in dem „Cervia-Raum“ der Krypta der Kriegsgräberstätte Futa-Paß (am 28. Juni 1969 eingeweiht mit 30.653 Gefallenen) aufgestellt.
Bildergalerie
Literatur
- Heinz Koller-Kraus (gemeinsam mit anderen Stabsangehörigen): Deutscher Ehrenfriedhof Cervia – Ein Bericht des deutschen Hauptquartiers Rimini (Italien) von der Einweihung am 4. Okt. 1945
- DRK Suchdienst: Zur Geschichte der Kriegsgefangenen im Westen, 1962
- Helmut Wolff: Die deutschen Kriegsgefangenen in britischer Hand – Ein Überblick, München/Bielefeld 1974
- Matthias Weindel: Leben und Lernen hinter Stacheldraht, Vandenhoeck & Ruprecht (2001), ISBN 978-3525557570
- Patrizia Dogliani: Rimini Enklave 1945-1947. Un sistema di campi alleati per prigionieri dell'esercito germanico, 2005, ISBN 9788849124712
Verweise
- Michael Wunder: Die Lagerzeitung des Deutschen Hauptquartiers Bellaria