19. Jahrhundert

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Das 19. Jahrhundert begann kalendarisch am 1. Januar 1801 und endete am 31. Dezember 1900. In der langzeithistorischen Einstufung wird es (der Begriff selbst gewinnt erst im 19. Jahrhundert Bedeutung) der Neuzeit zugerechnet, deren Anfangspunkt je nach Definition des Epochenumbruchs zwischen 1450 und 1550 angesetzt wird.

Unter dem langen 19. Jahrhundert versteht man nach Eric Hobsbawm die Phase von 1789 bis 1914/1917.
Die Phase vom Ende der Befreiungskriege 1815, spätestens jedoch ab Wirksamwerden der preußischen Reformen, bis zum Beginn der Zerstörung Deutschlands durch den Ersten Weltkrieg 1914 wird auch als Deutsches Jahrhundert bezeichnet.[1]

Zimmermann - Das 19. Jahrhundert.jpg

Einführung

Man muß betonen, daß das 19. Jahrhundert in einer schier unabsehbaren Reihe von Einzelfällen, Leistungen von erstaunlicher Kraft und von unersetzbarer Bedeutung hervorgebracht hat. Man braucht hier Einzelheiten nicht aufzuzählen. Es genügt, daran zu erinnern, das beinahe alles, was unsere Zeit im Sinne modern macht, ein Werk des 19. Jahrhunderts ist. Und dennoch: Was trotz all dieser Einzelleistungen nicht gelang, war die Schöpfung, die nötig ist, wenn die Geschichte selber ein bejahendes Urteil fallen soll: das 19. Jahrhundert hat nicht vermocht, die große und wirre Vielfalt seiner Einzelunternehmungen zusammenzufügen unter einer gemeinschaftlichen geistigen Ordnung. Die Epoche hatte unerhörte Kräfte und mächtigste Bewegungen aus dem Schlafe geweckt und zur Wirksamkeit entbunden. Aber sie hatte nicht das gesetzthafte Prinzip gefunden, das diese Fülle bändigen und planend leiten konnte. Jede der neuen Kräfte lief ihren eigenen, selbstsüchtigen Gang. Die Sage vom Zauberlehrling, dem alle Kräfte, die er gerufen hat, ohne sie dann bändigen zu können, zu zerstörendem Werk entgleiten, war am Beginn der Epoche gedichtet worden; sie erwies sich als Prophetie. Was das 19. Jahrhundert hinterließ, war eine Fülle schöpferischer Energien, ein Reichtum großer Einzelgestaltungen, eine Unzahl von Anregungen — aber all das ohne gegenseitige Abgrenzung, aber all das ohne ordnenden Willen, in einem eifersüchtigen und rücksichtslosen Geltungsdrang, auf einem Kampffeld, auf dem das ordnende Gesetz für dieses Chaos erst gefunden werden mußte. Unsere Darstellung wird darum zwei große Ziele verfolgen müssen. Sie hat das 19. Jahrhundert als die Epoche eines schweren inneren Kampfes und als die Epoche der ungelösten Aufgaben zu erkennen.

Geschichte

Der innere Kampf

Was den inneren Kampf anlangt, so tritt immer wieder eine einzige Fragengruppe auf: Hat die Ideenwelt, die beanspruchte, das Jahrhundert nach ihrem Willen zu gestalten, also die Ideenwelt der Französischen Revolution, sich formend durchsetzen können oder nicht? Hat es auf der anderen Seite Kräfte gegeben, die sich diesem völlig fremden Einbruch entgegenstellten? Wir werden sehen, daß die Ideen von 1789 ihren Angriff mit einer ungeheuren Kraft vortrugen und dabei bis in die innersten Bezirke unseres nationalen Wesens eindrangen. Wir werden gleichzeitig sehen, daß sich gegen jeden einzelnen dieser fremden Einflüsse, Gegenkräfte aus dem deutschen Wertbewusstsein erhoben, die das Jahrhundert nach ihrer deutschen Gesetzlichkeit zu formen versuchten. Das Ergebnis dieses Ringens um das Recht, das deutsche Gesicht zu gestalten, ist in den meisten Fällen ein Sieg jener Gesinnungen gewesen, die auf die fremden Ursprünge zurückgingen. Dennoch sind die Versuche, die Epoche nach deutscher Gesetzlichkeit zu formen, nicht auf die bloße Auflehnung gegen die siegreichen, überfremdenden Gewalten beschränkt geblieben, sondern haben selber Werte und Gestaltungen erzeugt, die zu den unvergänglichen deutschen Leistungen gehören. Es ist die Tragik des 19. Jahrhunderts, daß die Werke und Bewegungen aus deutschem Erbe beinahe immer von den Werken und Bewegungen aus fremder Herkunft in den Hintergrund gedrängt worden sind. So gibt es während des ganzen Jahrhunderts eine politische Ideenwelt fremder, liberaler Prägung, und eine durchaus andersgeartete politische Ideenwelt deutscher Prägung; aber die fremde hat sich durchgesetzt. So gibt es einen Sozialismus fremder Prägung und einen Sozialismus deutscher Prägung; aber der fremde ist zunächst siegreich geblieben. So gibt es endlich kulturelle und geistige Schöpfungen fremder Gesinnung und kulturelle und geistige Schöpfungen deutscher Gesinnung; und auch hier sind die ihren Ursprüngen nach fremden Gesinnungen siegreich geblieben.

Die Aufgaben

Indem wir aber so diesen inneren Kampf verfolgen, stoßen wir aus eine andere Frage: welche Aufgaben das 19. Jahrhundert hatte und welche Wertbestände es schuf; das ist eine Frage nach den Gegebenheiten, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen und mit denen wir auch heute teilweise noch arbeiten können. Es wäre natürlich ein Irrsinn zu sagen, daß der Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert seine „Wurzeln" habe. Was ihn jedoch mit dieser nächsten Vergangenheit verbindet, die alte geschichtliche Tatsache, daß eine Zukunft nicht nur aus den Kräften der Gegenwart, sondern auch aus den Werten eines gesunden Erbes gestaltet wird. Welche Elemente im 19. Jahrhundert sind so gesund gewesen, daß sie in unserer eigenen Zeit, vielleicht verwandelt, noch fortleben? Das 19.Jahrhundert hat uns eine Liguidationsmasse hinterlassen; es kann deutlich genug betont werden, daß es nichtige und brauchbare Werte in buntem Wechsel enthielt. Sie müssen heute auf ihre Bedeutung hin überprüft werden. Vielleicht wird sich dabei zeigen, daß gerade die Erscheinungen, die während des 19. Jahrhunderts in Opposition zur herrschenden liberalen Zeitgesinnung standen, fruchtbares Erbe auch noch für uns bedeuten. Sie sind es, die aus einem Jahrhundert der Wirrnis als wertvolle Kräfte herüberreichen in ein Jahrhundert neuer Gestaltung.

Die Hinterlassenschaft des 18. Jahrhunderts

Geschichte wird nicht von beharrenden, sondern von dynamischen Kräften gemacht. Welches sind die dynamischen Kräfte gewesen, mit denen sich das 19. Jahrhundert an seinem Beginn auseinandersetzen musste? Als das 19. Jahrhundert beginnt, sind die beiden großen geistigen Mächte, die mit heute kaum mehr vorstellbarer Kraft auf Deutschland einwirken, die Französische Revolution und die wesentlichen eigenständig deutsche Geistesbewegung, die durch die Bezeichnungen „Deutsche Klassik" oder „Weimar" nur notdürftig umschrieben wird.

Die Französische Revolution

Was die Französische Revolution auch für Deutschland bedeutsam macht, ist die Tatsache, daß sie als Missionsbewegung auftrat. Sie erheb den Anspruch, ihre Forderungen für die ganze Menschheit aufgestellt zu haben, und sie lebte in dem maßlos überheblichen Glauben, daß sie ihre Ideen mit allen Mitteln, mit Feuer und Schwert genau so wie mit Propaganda und intellektueller Bestehung, den übrigen Völkern aufzwingen dürfe. Sie gehört somit zu jenen Revolutionen, die sich nicht darauf beschränken, eine vorhandene völkische Gemeinschaft sinnvoll durchzugliedern und dadurch zu einem neuen Aufbau mobilisieren, sondern die nur dann ihre Ideen verbreiten und verwirklichen können, wenn sie geschlossene völkische und staatliche Ordnungen einer allgemeinen Auflösung unterwerfen. Missionsideen müssen vorhandene Weltbilder zerstören, ehe sie sich durchsetzen können. Selbst wenn sie ihre Ziele mit den friedlichsten Formulierungen umschreiben, ist ihre Methode zur Erreichung des Zieles notwendig die Gewalt - wobei die Gewalt in sehr kleiner Weise auch „geistig" verschleiert sein kann.

Der Grundzug der französischen Revolutionen war weltbürgerlich-kosmopolitisch: verbindlich für alle Menschen aus allen Völkern und allen Rassen. Ihre stärkste Kraft besaßen sie in dem Versprechen, die Welt zu beglücken. Wenn auch von weitdenkenderen Menschen die Worte „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" in ihrer hinterhältigen Hohlheit erkannt werden, so taten sie für die damalige Zeit die gefährlichste aller Wirkungen: sie trieben die Phantasie in eine Erhitzung hinein, in der man die Wirklichkeiten, die natürlichen Bindungen, die Tatsache völkischer Zusammengehörigkeit und rassenmäßiger Geschiedenheit, endlich die Notwendigkeiten staatlicher Zusammenschlüsse nicht mehr als verbindlich anerkannte. Halb Europa berauschte sich so an Ideologien; es merkte nicht, wie es dabei einer Verführung zum Opfer fiel, welche die Wirklichkeiten über den Haufen warf. Errang sich die neue Lehre den Sieg über die Herzen, dann waren Auflösung und Entzügelung, Willkür und Eigennutz die Folgen. Die „Freiheit" gab dann jedem Einzelnen das Recht, zu tun und zu lassen, was er wollte: der Mensch war zurückgeworfen in den Zustand des hemmungslosen reißenden Tieres. Die „Gleichheit“ entwertete dann jede Begabung und jedes höhere Können, die „Brüderlichkeit" zerstörte den Instinkt für gewachsene Unterschiede und förderte so die Anarchie.

Wurden diese Worte im Taumel der edlen Verkündigung gehört, dann hatten sie ohne Zweifel eine rauschhaft beglückende Wirkung. Wurden sie aber bis in ihre Folgen hinein durchdacht, dann enthüllte sich ihre chaotisierende Wirkung. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, daß sich diese Ideen in den verschiedensten Formen durchsetzen und überall ihre chaotisierende Auflösung betreiben.

Die deutsche Geistesbewegung

Die andere geistige Macht, die auf das beginnende 19. Jahrhundert gestaltend einwirkt, nämlich die durch unsere großen Dichter und Philosophen getragene deutsche Geistesbewegung, erwuchs aus durchaus anderen Wurzeln wie die Französische Revolution. Sie war gewiss in ihren Stoffe und selbst ihren Lehren Vorbildern verschrieben, die nicht arteigen deutscher Herkunft waren: dem Griechentum der weit verzweigten humanistischen Tradition. Sie war in diesen Dingen — äußerlichen Dingen! — gewiss nicht unmittelbar „volksverbunden" im heutigen Sinn. Sie führte auch zuweilen zu Folgerungen, die dem Praktiker als „weltfremd" anmuten mögen, weil sie nicht gleich reale Gewinne abwerfen. Was aber all diesen Äußerlichkeiten und Zeitbedingtheiten als entscheidender und für immer gültiger Wert zugrunde liegt, ist der Umstand, daß diese lange Bewegung eine der größten deutschen Leistungen überhaupt darstellt, einen der größten geistigen Erobererzüge aller Zeiten, eine geistige Weltschöpfung, die nicht ihresgleichen hat. Sie ist ganz von deutschen Menschen getragen; sie wurzelt — nicht immer in ihren Stoffen, aber als beispiellose, schöpferische Tat — ganz im deutschen Volkstum; sie hat dem deutschen Volk Werte zugebracht, die durch alle Zeiten hindurch eine einzigartige, geistige Ausstrahlung besitzen werden.

Tiefste Unterschiede trennen diese Wertewelt von der Wertewelt der Französischen Revolution. Während die Französische Revolution Parolen entwickelte, die, wenn sie sich durchsetzen wollten, die Fundamente der deutschen Ordnungen zerstören mussten, schuf diese deutsche Geistigkeit in der gleichen Zeitlage einen deutschen Leistungsschatz, der zu den großen Besitztümern der Nation gehört. Während von Frankreich Theorien herüberrauschten, die, einer eingebildeten Menschheit zuliebe, das Eigenleben der Volkstümer als nichtig verschrien, wuchs in Deutschland eine Welt auf, die, wenn sie sich auch in manchen Anschauungen kosmopolitisch — weltbürgerlich — gebärdete, der Nation doch das Recht aus einen besonderen deutschen Stolz und eine besondere deutsche Würde verlieh, — Kräfte von höchster politischer Bedeutung. Während die Lehren der Französischen Revolution chaotisierend auf das 19. Jahrhundert einwirkten, wirkte die deutsche Geistesbewegung, selbst wenn sie sich für ganz unpolitisch hielt, krafterhöhend und erzielte damit einen Zustand geistiger Rüstung im höchsten Sinn.

Es mag sein, daß die deutsche Geistesbewegung die eindringende Französische Revolution nicht unmittelbar bekämpft, ja sich zuweilen in einer grotesken Selbsttäuschung mit ihr verbrüdert hat. Dennoch war sie gleich am Beginn des Jahrhunderts die mächtigste geistige Gegenkraft gegen die einbrechende Überfremdung: Männer wie Stein oder Clausewitz, die schärfsten Feinde und die Überwinder der Französischen Revolution, sind ohne den Einfluss der deutschen Dichter und Philosophen nicht denkbar.

Der deutsche Staat

Die beiden dynamischen Bewegungen, die Französische Revolution und die deutsche Geistesbewegung, waren so in ihrer wesenhaften Herkunft wie in ihrer Auswirkung durchaus voneinander verschieden. Und doch gab es eine Einrichtung, die beiden mit dem gleichen Gefühl begegnete: mit Anlass vor ihrer unheimlichen Lebendigkeit. Das war der damalige deutsche Staat. Um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert befand sich der staatliche Zustand Deutschlands in einem vollendeten Verfall. Formal herrscht das System des absolutistischen Obrigkeitsstaates: ein regierender, niemandem verantwortlicher Fürst über der Masse der rechtlosen „Untertanen", im schlimmen Falle dazwischen geschoben eine ausbeuterische Schicht von Schranzen, Abenteurern und Hofjuden. Einen geistigen Inhalt, eine verpflichtende Idee, der sich die Menschen zugehörig fühlen könnten, besaßen diese Staatswesen nicht. Selbst Preußen hatte die Tradition Friedrichs des Großens vergessen; es war, wie die Dutzende der übrigen deutschen Einzelstaaten, eine leere Maschinerie geworden, in der trübe Bürokraten und vergreiste Generäle ein müdes Wesen trieben. Dieser Staatenwelt fehlte also jede überzeugende innere Kraft. In dem weltgeschichtlichen Augenblick, da zwei der lebendigsten Kräfte der Geschichte, die Französische Revolution und die deutsche Bewegung, die Geister zur Nachfolge aufriefen, lebten in Deutschland die politischen Institutionen ein völlig gleichgültiges Dasein dahin. Die Folgen sind klar: das Volk, das den Staat eigentlich tragen soll, spaltete sich in zwei Richtungen. Die einen liefen den Fahnen der französischen Weltzerstörunng zu, die anderen verlieren sich in die hohen, „unpraktischen", staatsfremden Ideen, die die deutsche Geistesbewegung entwickelte. Mehr und mehr gingen so die deutschen politischen Mächte ihrer lebendigen Träger verlustig.

Daß 1806 der morsche Bau des Reiches endgültig zerfiel und bei Jena und Auerstedt der preußische Staat vor dem größten Soldaten der französischen Nation zusammenbrach, daß der Magistrat und die Bevölkerung der preußischen Hauptstadt in einem geistigen und charakterlichen Landesverrat dem einziehenden despotischen Träger der französischen Überfremdung hündisch huldigten: das alles waren keine unerwarteten Schicksalsschläge, sondern nur Zeugnisse für einen lange vorhandenen Zustand. Es gab zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine lebendige Staatlichkeit mehr, sondern nur die in breiter Front eingedrungenen Ideen von 1789. Es gab daneben ein sehr stark entwickeltes, aber nur auf Umwegen politisch wirksames deutsches Geistesleben rein deutscher Herkunft. Eine Spannung also zwischen zwei unvereinbaren Gegensätzen; aber niemand konnte sagen, wie der Austrag verlaufen und wer den Sieg davontragen würde.

Die großen Kämpfe

Aus dieser ungeklärten Lage heraus entwickelt nun das 19. Jahrhundert seine schwere Problematik. Nirgendwo findet es dabei eine Klärung seiner Verwirrungen. Sein entscheidendes Kennzeichen ist, daß es mit einer erstaunlichen schöpferischen Kraft für seine Spannungen einen Lösungsversuch nach dem andern gebiert, aber trotzdem nicht einer Bereinigung seiner Situationen und zu einer klaren Ordnung gelangt. All die vielen Unternehmungen, mit denen es seine Aufgaben meistern will, führen nur zu gegenseitigen Reibungen, in denen das Jahrhundert allmählich seine Kraft verzehrt.

Der Kampf um die politische Wertewelt

Als in den napoleonischen Kriegen Preußen zerbrach, hatte sich erwiesen, daß der absolutistische Obrigkeitsstaat keine geschichtebildenden Kräfte mehr besaß. Der Zusammenbruch war eine geschichtliche Notwendigkeit gewesen. Als in den deutschen Befreiungskriegen Napoleon besiegt wurde, hatte sich erwiesen, daß dieser Sieg von einer neuen, bisher noch kaum so deutlich sichtbar gewordenen Kraft errungen wurde: dem Volk. Damit aber erhob sich ein neuer, geschichtebildender Wert. Zwischen dem Niederbruch Preußens und seiner Wiedererhebung lag ein Zeitraum von knapp sieben Jahren. In dieser Frist, die aus einem politischen und charakterlichen Verfall ohnegleichen folgte, wurden die politischen Zustände und die Gesinnungen in Preußen von Grund aus verändert. Von dem erneuerten Preußen aus strahlte die neugewonnene politische Gesinnung über ganz Deutschland hin.

Die preußischen Reformer

Man kann die vielen Maßnahmen, die die preußischen Reformer zur Gesundung des niedergebrochenen Volkes vorschlugen und teilweise auch durchführen konnten, auf einen einzigen Grundgedanken zurückführen: an die Stelle des unzulänglichen alten Obrigkeitsstaates sollte ein neuer Volksstaat treten. Nicht mehr eine bürokratische Maschinerie unter einem absoluten Potentaten sollte der Staat darstellen, nicht mehr sollten sich die Beziehungen der Einzelnen zum Staate allein durch eine erschreckende Interesselosigkeit an den Dingen des Ganzen ausdrücken. Bisher hatte der Bürger Abgaben bezahlt; fortan sollte er den Staat mitverantwortlich und mitsorgend tragen helfen. Aus einer Masse von rechlosen „Untertanen" sollte eine Gemeinschaft interessierter, mittätiger und durch Verantwortung mitverpflichteter Volksgenossen werden.

War das nicht Demokratie? Sprach nicht in ganz ähnlicher Weise auch die Französische Revolution vom „Volk"? Aber für die Französische Revolution war „Volk" in den großen Massen gegeben, den ungegliederten Zusammenschüssen individualistischer Einzelner, die durchaus in der Gegenwart standen, die ein Augenblickszweck oder ein Augenblicksrausch zu ihrer geschichtlichen Wirksamkeit führte, die keine andere Bindung besaßen als die Magie einer großen Parole und die in bedrängten Zeiten in Interessengebilde zerfielen. Für die preußischen Reformer — für tein und Arndt, Scharnhorst und Jahn und Clausewitz — bedeutete „Volk” etwas anders. Für sie war „Volk" eine geschichtliche Macht, eine lebendige Wesenheit durch alle Seiten hindurch, ein Erbgefüge, daß in der Vergangenheit verwurzelt war und zu lebendiger Schöpfung in die fernste Zukunft reichte, nicht vom Glanz und der „gloire" des Augenblicks abhängig, sondern einer ewigen Verantwortung unterstellt. Für diese preußischen Reformer waren die gegenwärtigen Geschlechter, denen sie ihre Sorgen weihten, nur das Glied in einer Kette, die durch die Geschichte reichte.

Durch den absolutistischen Obrigkeitsstaat war das gegenwärtige Glied bedroht und in seiner inneren Tragkraft zermürbt worden. Die Aufgabe war, es wieder von dieser Belastung frei zu machen. Als das in den selben Jahren der preußischen Reform geschah, vollzog sich eine der stillen und dennoch folgenreichsten Revolutionen, in der die geistigen Grundlagen einer alten Weltordnung überwunden wurden.

Der außerordentlichen Tatsache, daß sie Träger einer echten Revolution waren, waren sich die Männer der preußischen Reform durchaus bewusst. Es waren nur wenige, aber sehr durchgreifende Maßnahmen, die dieser Reform revolutionären Charakter verliehen: mit der Bauernbefreiung zerbrach die soziale Grundlage des alten Systems; mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht erhielten die kriegerischen Gemeinschaften des Staates ein neues Ethos: Wehrdienst war nicht mehr Strafe und Verhängnis, sondern eine ehrenhafte Verpflichtung; mit den Plänen einer engeren Beteiligung an der Verantwortung für den Staat, dem es bisher nur fronte, sollte das bürokratische System der toten Staatsmaschine den Umbau zu einem lebendigeren, organischeren Gefüge erfahren. Indem aber so das Volk in seinen regesten Kräften beteiligt wurde, erlebte der Staat eine ungemeine Ausweitung seiner Energien. Und indem die, ihres Sinnes längst entleerten, äußeren Formen des alten Zustandes zerbrochen werden sollten, tat sich dem schöpferischen Urgrund alles staatliches Daseins, eben dem Volk, das Tor zu einer breiten Wirksamkeit auf. Manchen der Reformer schwebte das Bild der altgermanischen Gemeinde vor, bei dem jeder Einzelne in dienender Freiheit an der Verantwortung teilhatte. Es ist kein Zweifel: dieser außergewöhnliche Aufruf an die schöpferische Kraft des Volkes war ein Akt von revolutionärem Rang. Er entzügelte aber nicht primitive Instinkte, sondern führte das aus seinen Einengungen befreite Volk in eine neue Ordnung hinein. Diese Revolution war eine Revolution zur Bindung, zum Gefüge, zum Staat und zur Gemeinschaft hin.

Reaktion und Revolution

Es ist der tragische Schlag in der Geschichte des 19. Jahrhundert, daß diese schöpferische Revolution der Ordnung abgewürgt wurde, noch ehe sie richtig begann. Zwei Kräfte teilen sich hierbei die Schuld. Die schwerste Verantwortung trägt die beginnende Reaktion der alten muffigen Mächte, die sich mit allen Mitteln der aus rein deutschen Notwendigkeiten aufbrechenden Revolution zu erwehren suchte. Geschichtliche Begriffe wie Allianz (der am 26. September 1815 in Paris geschlossene Bund der Regenten von Rußland, Österreich und Preußen zur Förderung einer allgemeinen Friedenspolitik"), Metternich (17731859, österreichischer Staatskanzler, Vertreter der habsburgisch- lothr. Hauspolitik und entschiedener Gegner jeder nationalen Bewegung.), „Karlsbader Beschlüsse“ und „Demagogenverfolgung“ bezeichnen die Wegmale dieses Gespensterzuges, der eine der fruchtbaren Entwicklungen unserer neueren Geschichte im ersten Ansatz zerstörte und eine dreiste Erneuerung des alten Obrigkeitsstaates hervorbrachte. Jede Reaktion trägt aber in ihrem Schoß eine neue Revolution. Auch damals erwies sich, daß die revolutionäre Leistung der Männer um Stein, die eine neue Ordnung und neue schöpferische Bindungen erstrebt hatten, durch diese zweite Revolution nun zerstört und im innersten Sinn verfälscht wurde. Deutschland erlebte und erlitt den ersten großzügigen Sieg der liberalistischen Überfremdung.

Die Träger der revolutionären preußischen Erneuerung hatten sich gegen den Obrigkeitsstaat erhoben; aber auch die Parolen der Französischen Revolution waren gegen den absolutistischen Staat gerichtet gewesen. Ebenso hatten die Begriffe, mit denen die preußischen Reformer ihr Wollen umkleiden, ganz ähnlich wie die Begriffe der Jakobiner geklungen. Aber wo Stein unter Freiheit daß Mittel zur größerer Verantwortung begriff, deutete die Französische Revolution dieses Wort als eine Entbindung von jeder Pflicht. Wo Stein und seine Gefährten unter „Volk" eine geschichtliche Größe verstanden, die ihren Wert in Dienst und Arbeit erweise, sahen die Männer der französischen Parolen im „Volk" die Massen, die Rechte verlangen dürften. So war es überall: die gleichen Worte hatten verschiedenen Sinn: dem einen bedeuteten sie auflösenden Parolen, dem andern verpflichtende Gebote; dem einen dienten sie als Mittel zur Zerspaltung des Volkes in Individuum, dem andern dienten sie als Mittel zum Aufbau einer Gemeinschaft.

Dennoch: als Steins aufbauende Revolution unterdrückt wurde, führte die allgemeine Empörung gegen den Obrigkeitsstaat, den die Anhänger der preußischen Reform genau so heftig befehdeten wie die Anhänger der durchaus Andersgeprägten französischen Lehren, ehren einer Verwischung der Grenzen. Weil man sich einig rottete in der Opposition, vergaß man die Verschiedenheit der politischen Bekenntnisse und der ethischen Ziele. Die Folge war der erste schleichende Sieg des Liberalismus.

Der Liberalismus

Der Liberalismus ist die verbürgerlichte Form der französischen Revolutionstendenzen. Dieselben Gedanken, die die Revolution mit Gewalt durchgesetzt hatte, führte er mit den unauffälligen Mitteln der langsamen Insizierung aller Lebensbereiche von Erfolg zu Erfolg. Er benutzte dabei Methoden, die im Grunde feindlich waren, denen er aber bald das Ansehen der Loyalität zu verschaffen wusste: Parlament, Parteien und die Medien. Er verstand es mit instinktivem Geschick, für seinen auflösenden Kampf die Begriffe und die Symbole aufbauender Kräfte zu verwenden: dieselbe verfälschende Überfremdung, die das Gedankengut Steins erlebt hatte, ist noch in Bismarcks Zeit spürbar, als sich die „liberalen" mit den „nationalen" Prinzipien vermählten. Gerade dieser Vermischung innerlich fremdester, sich widerstrebender Werte ist es zuzuschreiben, daß immer wieder bestes deutsches Menschentum dem Liberalismus verfiel und ihm, in redlichsten Glauben, mit einem erstaunlichen Reichtum an Begabung und Charakter diente.

Dennoch war von Anfang an — ob seine Anhänger das nun erkannten oder nicht — das innerste Gesetz des Liberalismus die Destruktion. Sein wichtigstes Leitwort, das allgemeine Wort von der „Freiheit", war durchaus im Sinne der chaotisierenden Lehren der Französischen Revolution gefasst. Als Stein die Bauern befreite, nahm er ihnen ungerechte und würgende Lasten ab; aber er band sie streng an den Boden, ihr neugewonnenes Eigentum. Als Hardenberg diese Bauernbefreiung im liberalen Sinne „verbesserte", tat er das, indem er die Bindung an die Scholle löste: der Einzelne konnte ziehen, wohin er wollte. Immer kommt es dem Liberalismus nur auf den Einzelnen an: Um dem Einzelnen ungehemmt seine „Rechte" zu geben, zerschlug man die Gefüge, die die Klassen der Einzelnen sinnvoll zu ordnen mühen. Die Folgen waren chaotische Kämpfe der Einzelnen untereinander. Weil aber so der Liberalismus an die Göttlichkeit und die unbedingte Vernunft des Einzelnen glaubte, leugnete er auch das Herrschaftsrecht und die Ordnungsaufgabe des Staates. Der Staat ist dem Liberalismus nichts anderes als der Verkörperer alles ungerechtfertigten Zwanges. Deshalb sucht er die Befugnisse des Staates auf jede Weise zu mindern. Weil der Liberalismus den Staat hasst, hält er ihm private Einrichtungen entgegen, die ihn bekämpfen oder ersetzen sollen. Während der Staat Obergewalt besitzt, die nicht leicht angreifbar ist, unterstehen private Einrichtungen leichter der Kontrolle durch Einzelne: die neuen, politisierenden Gemeinschaften, die damals aufkommen, die politischen Klubs, die Parteien, die Parlamente. Sie tragen die Zersetzung gegen den Staat vor, indem sie ihn und sein Ethos zerschwätzen. Den Gewinn solcher Zerspaltung aber trägt nicht das Volk - denn Volk ist eine ewige Ordnung, die Dienst und Einfügung bedingt —, sondern die Masse, wenn auch nur für kurze Zeit.

Im Grunde sind es freilich nur einzelne besonders gewiefte Gruppen der Masse, die die Gewinne aus der Wirkung der liberalen Parolen einheimsen. Zu den größten Nutznießern der liberalen Zersetzung gehörten im 19. Jahrhundert die Mächte des Kapitals.

Der Kapitalismus

Das Kapital hat an sich die Neigung, sich den Anforderungen des Staates zu entziehen: ihm nicht zu dienen, sondern zu beherrschen. Umso näher steht es jenen Bereichen, in dessen staatsfremde, private Gesinnungen maßgebend sind: hier hat die Freiheit, sich zu entfalten und uneingeschränkt zu vermehren. Das auflösende Ethos Liberalismus und das bindungsfeindliche Ethos des Kapitalismus sind zuinnerst verwandt.

Schon während der preußischen Reform hatte ein dramatisches Ringen zwischen den staatserneuernden Mächten und den aufsteigenden kapitalistischen Mächten begonnen. Der Gegenstand des Kampfes war vor allem der Bauer gewesen, den Stein an die Scholle binden wollte, während ihn das Kapital als Objekt der Güterspekulation betrachtete. Die Geldbedürfnisse während der Kriege, die wachsende Armut, die zum Verkauf fester Besitztümer führte, Rüstungsgewinne der verschiedensten Art hatten den jungen kapitalistischen Kräften weiteren Auftrieb gegeben. Vom ersten Augenblick dieser Konjunktur an waren die gerissensten und bedenkenlosesten Ausbeuter die Juden gewesen. Ganz deutlich hatten insbesondere die Männer um Stein die damalige Rolle der Juden erkannt.

:„Die Juden (wenn sie wirklich ihrem Glauben treu sind, die notwendigen Feinde eines jeden bestehenden Staates und wenn sie ihrem Glauben nicht treu sind, Heuchler) haben die Masse des Geldes in Händen. Sobald also das Grundeigentum so in seinem Werte gesunken sein wird, daß es für sie mit Vorteil zu akquirieren ist, wird es sogleich in ihre Hände übergehen. Sie werden als Grundbesitzer die Hauptrepräsentanten des Staates, und unser altehrwürdiges Brandenburg- Preußen ein neumodischer Judenstaat, das wahre Jerusalem werden." (Marwitz)

Von allen Seiten klang es ähnlich über das kapitalistische und ausbeuterische Judentum. Und schon erkannte man auch klar eine der verhängnisvollsten Begegnungen, die das 19. Jahrhundert erlebt hat: die Zusammenarbeit zwischen den Juden und liberalistisch beeinflussten Bürokraten im herrschenden System. Gegen die „Regierer" vom Schlage Hardenbergs und die „Wucherer" hauptsächlich jüdischen Blutes hatte sich beispielsweise als einer unter vielen, Marwitz (Preußischer General, 1777-1837), gewandt: „Heimatlos- die einen wie die anderen, hatten sie ein gemeinschaftliches Interesse, nämlich: alles bis dahin Feste beweglich und zum Gegenstand der Spekulation und des Erwerbs zu machen.“

Der auflösende und chaotisierend Charakter des Liberalismus ist mit dieser Beschreibung seiner Nutznießer genau charakterisiert. Die unmittelbare Folge dieser Eintracht zwischen den auflösenden liberalen Regierern und den ebenso auflösenden und zersetzenden Juden, ist einer der größten Siege der französischen Revolutionstendenzen, einer der folgenschwersten Ereignisse der neueren Geschichte war die Judenemanzipation. Als sie, hauptsächlich durch Hardenberg und Humboldt, durchgesetzt wurde (am 11. März 1812), vollzog sich die Mobilisierung einer bis dahin ungenutzten, gefährlich starken Kraft zum Kampf für die staatsersetzenden Gesinnungen des Liberalismus. Die Juden kamen aus dem Ghetto, dem bis dahin vorsorglich abgesonderten Wohnbezirk der Juden. Seit Jahrhunderten hatten sie dort den Hass, der ihnen im Blute sass, gespeichert. Nun öffnen sie ihm die Schleusen.

Und in Hunderten von Kanälen verteilte sich dieser Hass überallhin als ein wirksames „Ferment der Dekomposition". Wohin sie drangen — und überall drangen sie hin — wurden die Juden die stillen Meister der Zersetzung. Sie schalten ihre auflösenden Kräfte in die auflösende Macht des Liberalismus ein. Sie brachten es fertig, sich als unscheinbare Biedermänner in das Gefüge der alten, gesunden Gesellschaft zur nisten. Als alte Herren des Kapitals trieben sie das Geldwesen, die uns heimliche Macht der Aktie und der Börsenspekulation, zu phantastischen Verheerungen. Sie drangen selbst in führende Stellen der staatsbejahenden, konservativen Organisationen ein. Eine anonyme Macht sickerte mit ihnen in die innersten Zellen des deutschen Lebens. Vor allem aber wurden sie die Führer einer neuen Erscheinung von revolutionärer Bedeutung: des deutschen Arbeitertums.

Der Kampf um die soziale Wertewelt

Als Stein seine revolutionäre Reform vorbereitete und als sie, durch den sich wieder geltend machenden Obrigkeitsstaat erwürgt, durch die liberalistische Überfremdung verfälscht wurde, hatte es den Begriff Arbeitertum noch nicht gegeben. Der „unterste“ Stand in der damaligen gesellschaftlichen Schichtung waren die Handwerker gewesen, anerkannte Bürger mit kleinem Besitz, aller gesellschaftlichen Ehrbarkeit teilhaft, als organisches Glied dem Gemeinschaftskörper völlig zugehörig. Sie waren Selbstversorger, und in den Selbsversorgerverband der Handwerkerfamilie waren auch die Angestellten und Dienstboten eingebaut. Was man damals „Proletarier" nannte, war das Gesindel: Asoziale, arbeitsscheue Landstreicher, der gesellschaftliche Abhub, zahlenmäßig verschwindend gering. Deutschland ernährte sich selbst und war sozial ausgeglichen: in patriarchalischen Verhältnissen besteht keine offizielle „soziale Frage". Vor allem aber: in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Deutschland nur 25 Millionen Einwohner; keiner brauchte sich am andern zu reiben.

Die Industrie

Dann wurden die modernen Maschinen erfunden, und eine Umwälzung setzt ein, die in ihrer ganzen Tiefe erst viele Jahrzehnte später beurteilbar werden wird. Eine neue Erfindung reiht sich an die andere, und alle — Spinnmaschine und Webstuhl, Dampfmaschine und Lokomotive, die Entdeckungen in Elektrizität und Chemie — haben revolutionierende Kraft (siehe: Liste Deutscher Erfindungen).

Was aber dabei das Entscheidende ist: aus diesen Entdeckungen und Erfindungen, die anfänglich auf kleine Werkstätten und primitive Laboratorien beschränkt waren, entwickelt sich die Industrie. Industrie verlangt große Verhältnisse; riesige Menschenmassen, riesige Gütermengen, riesige Kapitalien. Sie kann sich erst dort entwickeln, wo ein Volk die Kraft und die Bereitschaft aufbringt, sich diesen Bedürfnissen zu fügen. Das deutsche Volk besaß diese Kraft und diese Bereitschaft.

Was in den paar Jahrzehnten, beiläufig zwischen 1830 und 1870, sich abspielt, ist ein ebenso großartiger wie unheimlicher Vorgang: der deutsche Volkskörper ändert seine Gestalt. In einem knappen halben Jahrhundert wird eine Form, in der das deutsche Volk seit beinahe einem Jahrtausend gelebt hatte, durch eine neue ersetzt. Seit der Zeit Heinrichs I., also seit dem 10. Jahrhundert, bestand das deutsche Volk aus einer breiten, tragenden Schicht von Bauern und Ackerbürgern und einer kleinen, führenden Schicht von gemischter Zusammensetzung. Nun verändert sich dieses alte Gefüge: in den das Volk tragenden Unterbau der Bauern und Handwerker schiebt sich als neue Macht der Arbeiter ein. Bald überflügelt er zahlenmäßig die beiden alten Stände bei weitem.

Woher kam dieser neue deutsche Menschentyp, der durch sein Erscheinen eine Jahrtausendalte Volkstruktur verwandelte? Es kann nicht oft genug getagt werden, daß er aus dem besten und dem gesündesten Erbe stammte. Die gleichen Schichten, die durch tausend Jahre hindurch die eigentlichen Kraftspeicher unseres Volkes gewesen sind, haben auch den Arbeiter geboren: seiner Herkunft nach kommt das Arbeitertum, das als geschichtliche Macht sich erst in den großen Industriestädten bilden konnte, aus den alten Bauern- und Handwerkersippen.

Man hat es oft getadelt, daß die Bauern, und Handwerkersöhne ihre alte Welt verließen, um, wie man sagte, „in der Stadt leichterem Verdienst und bequemerem Leben nachzugehen". Diese Kritik verrät ein tiefes Unverständnis gegenüber der wunderbaren dynamischen Kraft dieses Aufbruchs, namentlich während der ersten Jahrzehnte. Es waren sehr männliche und kühne Gedanken, die den jungen Bauern von dem zu eng werdenden Hof und den jungen Handwerker aus der zu eng werdenden Werkstatt trieben: ein hohes Selbstbewusstsein, das sich aus einem meist großen Geschwisterkreis hinauswagen musste und sich nun auch in neuen Verhältnissen durchzusetzen hoffte; ein froher Glaube an die eigene Tüchtigkeit, die sich ein breites Arbeitsfeld erringen wollte; ein unbekümmert mutiger Drang nach dem neuen Unbekannten, das zugleich lockte und drohte und das vor allem Kühnheit und Begabung zu verlangen schien. Nicht eine müde „Flucht" in die Stadt, sondern etwas Ähnliches wie die Jungmänneraufbrüche der alten Zeiten ging hier vor sich. Und nicht ein Sammelsurium Untauglicher zog damals in die Fabriken, sondern eine Auslese guter und tüchtiger Männer, die auf einem unbekannten Felde einen neuen Geltungskampf wagten.

Aber sie kamen nicht auf ein Kampffeld, in dem die Tüchtigkeit entschied. Sie kamen in einen Raum entfesselter mechanischer Kräfte. Es ist das Kennzeichen dieser frühen industriellen Entwicklung, daß sie nicht organisch, sondern explosiv verlief: rasende Abfolge immer neuer Empfindungen, ebenso rasende Abfolge überstürzter Ausweitungen der Produktionsstätten, eine rasende Sucht nach immer größeren Gewinnen — der schutzlose und führerlose Einzelne, der in dieses Getriebe geriet, wurde zum Opfer der Raserei. Von der Seite der Industrie her hieß das dämonische Gesetz dieser Entwicklung Fortschritt und Gewinn. Von der Seite des Arbeiters her hieß es Ausbeutung. Die Formen dieser Ausbeutung sind bekant:

  • vierzehn- und sechzehnstündige Arbeitszeit
  • zehn- und zwölfstündige Arbeitszeit für Kinder
  • erschreckende Lohnsätze
  • drückend dumpfe Arbeitsbedingungen
  • furchtbare Wohnungsverhältnisse Absperrung von allen Bildungsmöglichkeiten.

Die Bauern- und Handwerkersöhne, die in der regen Lebendigkeit der neuen Entwicklung Möglichkeiten für ihren Aufstieg hatten finden wollen, fanden sich plötzlich in eine Fron hineingestoßen. Sie hatten von einem breiten Schaffensfeld für ihre Kräfte geträumt; nun waren sie Lohnsklaven geworden.

So hatte sich denn aus einer anfänglich viel versprechenden Entwicklung eine Lage herausgebildet, die von unerträglichen Spannungen beherrscht war. Der Aufstieg der Industrie war ein Vorgang von hoher revolutionärer Bedeutung gewesen, umstürzend, schöpferisch und bahnbrechend. Nun aber stellte sich heraus, daß diese revolutionäre Mobilisierung neuer schöpferischer Kräfte nur einseitig vor sich gegangen war: während die Industrie die revolutionären Energien dieses Umbruchs zu neuen Schöpfungen und zu einem großartigen neuen Aufbau umgesetzt hatte, blieb die Arbeiterschaft in einen Zustand hineingezwängt, der die revolutionäre Mobilisierung nicht erfuhr. Die Folge musste sein, daß sich revolutionäre Spannkräfte, die sich nirgendwo auslösen konnten, in ihr stauten. Nicht nur „rechtlos" war somit der Arbeiter geworden. Tiefergreifende Wirkung tat es, daß er der eigentlichen Dynamik jener Zeit, die eine revolutionäre Dynamik, die Dynamik einer großen Verwandlung war, ferngehalten wurde. Er war ein Ausgestoßener im weitesten Sinne des Wortes.

Die deutsche Arbeiterbewegung

Die Antwort, die der deutsche Arbeiter auf diese Lage erteilte, gehört zu den wunderbarsten Zeugnissen für den Lebensmut, die Glaubenskraft und die seelische Tapferkeit unseres Volkes. Es ist in Deutschland nur ganz selten vorgekommen, daß Verzweiflung zur Zerstörung von Maschinen führte; selbst die Weberunruhen blieben vorübergehende Ereignisse, denen keine typische Bedeutung zukommt. Die eigentliche Antwort des deutschen Arbeiters ist zunächst nicht Verzweiflung oder Hass, sondern eine Aktion schöpferischer Selbsthilfe. In der Erkenntnis, daß einer vernichtenden Lage niemals der Einzelne, sondern nur die Gemeinschaft begegnen könne, schließen sich die Arbeiter schon frühzeitig zu Verbänden zusammen. Etwa von den vierziger Jahren an, entwickelte sich in einer Fülle von Arbeitervereinen die erste deutsche Arbeiterbewegung.

Sie hat ein merkwürdiges Gesicht: ihr Ziel ist nicht die Abtrennung der Arbeiterschaft vom übrigen Volkskörper, sondern der Einbau der Arbeiterschaft in den Volkskörper. Jedermann war zunächst dem neuen, sehr plötzlich auftretenden Gebilde „Arbeiterschaft" ratlos gegenübergestanden. Man wusste nicht, wo diese bisher unbekannte Volksgruppe einzuordnen sei. In der Tat kreisten die Gedanken all der ersten Arbeiterführer nur um die Frage, wie dieser neue Stand seinen Lebensraum innerhalb des Volkes bekommen konnte. Es war die Sorge um Eingliederung, die diese Verbände beherrschte, und es war ein leidenschaftliches Gemeinschaftsethos, aus dem heraus sie ihre politischen und sozialen Wünsche vorbrachten.

Sie formulierten ihre Forderungen auch nicht aus Hasskomplexen. Der Wille zum Aufstieg, der den ersten Aufbruch in die Fabriken angetrieben hatte, war über alle Enttäuschungen hinweg lebendig geblieben. Es ist ein zugleich rührendes und erschütterndes Erlebnis, zu sehen, wie die ersten Arbeitervereine, anstatt mit ihrer Macht zu drohen, sich bemühen, Bildung zu gewinnen, weil sie diese als den Schlüssel in die versperrte Volksgemeinschaft betrachten. Sie gründen sich Bibliotheken, sie richten sich Kurse ein, sie schaffen sich Zeitschriften, die beinahe eher pädagogische als politische Zwecke verfolgen. Mit dem Willen zur Eingliederung verbindet sich so ein Heißhunger nach Wissen.

Auch der Ton gegenüber den Besitzenden ist nicht auf einen anklägerischen Ton gestimmt, sondern erstrebt nur Verständnis. So ist das Kennzeichen dieses frühen deutschen Sozialismus also ein doppeltes: er treibt Politik mit kindhaft unzulänglichen Mitteln: aber aus einem klaren Gefühl, aus unverdorbenen und bodennahen Instinkten heraus treibt er eine Politik der Gemeinschaft und der Eingliederung.

Der Marxismus

Und nun geschieht etwas Folgenschweres: Zug um Zug wiederholt sich jetzt im sozialem Raum der gleiche Vorgang, der 1815 im politischen Raum das Werk Steins, der auch eine Politik der Gemeinschaft getrieben hatte, zerstörte. Reaktionäre Gesinnungen verschließen sich dem Eingliederungswillen der Arbeiterschaft; die hereinbrechende Enttäuschung gibt fremden Tendenzen die Möglichkeit, die ursprünglichen Absichten zu verfälschen. Nicht durch den eigenen Willen, sondern durch die Ignoranz und den Hochmut der herrschenden Schichten wird der frühe deutsche Sozialismus in die marxistische Verengung getrieben. Wieder wie 1815 brachte ein verderbliches Beharrungs- und Rückwärtsgefühl es fertig, den Versuch einer deutschen Revolution, die zur Bindung und zur Gemeinschaft strebt, hin= einzutreiben in die Wirklichkeit einer fremdartig begründeten Revolution, die für Auflösung und Zerspaltung agitiert.

Man kann es nicht genug betonen: Karl Marx kommt nicht von der Arbeiterbewegung her, sondern aus dem liberalen Raum. In eigentümlicher Weise mischt sich in ihm die Atmosphäre des Ghettos mit den auflösenden Tendenzen, denen das Ghetto die Emanzipation, Marx somit die Möglichkeit seines Wirkens verdankte. Er hatte seine öffentliche Tätigkeit als Redakteur liberaler Blätter begonnen. Die auflösenden Grundsätze und die spaltenden Lehren des Liberalismus überträgt er auf die junge, noch ganz ungefestigte Arbeiterbewegung. Wenn der Liberalismus als die verbürgerlichte Form der französischen Revolutionstendenzen angesprochen werden kann, dann ist der Marxismus eine radikalisierte, wieder stärker mit der Brutalität aus der französischen Revolution gewürzte, Spielart des Liberalismus. Sein Grundgedanke, die Lehre vom Klassenkampf, ist aus der intellektuellen Umsetzung der französischen Schreckensherrschaft in einen soziologischen Begriff entstanden. Zugleich ist diese Lehre dem liberalen Gedanken vom Recht des Stärkeren zuinnerst verwandt.

Marx brachte für sein destruktives Wirken zwei besondere Voraussetzungen mit: den jüdischen Hass und die jüdische Dialektik. Die bisherige Arbeiterbewegung war von den genau gegensätzlichen Antrieben geleitet gewesen: von einer oft schwärmerischen Sehnsucht zur Gemeinschaft und von einer schlichten Bindung an die Erfahrung, an den eigenen, not- und leiderfüllten Alltag.

Der wohlhabende Rabbinersohn Marx hatte solche Erfahrungen niemals selber erlebt. Aber was er von den rabbinischen Ahnen her im Blute trug, war die rabulistische Schalung: sie besteht darin, durch reine Gedankenarbeit aus einem einzigen Satz ein riesenhaftes theoretisches System zu konstruieren. Marx entlehnte den für sein eigenes System grundlegenden Satz der liberalen Ideenwelt. Hier liegt vielleicht das schwerste Verbrechen der Marxschen Lehre: das Klassenbewusstsein wurde von Marx nicht auf Wertgefühle begründet, sondern auf Unwertspsychosen Als Marx den freien Bauern- und Handwerkersöhnen das Schandwort „Proletarier" gab, das viele Jahrzehnte nur für asoziales Gesindel gegolten hatte, verdüsterte er einen ganzen Stand in der Seele. Damit sich die fremde marxistische Lehre durchsetzen konnte, versuchte sie zuerst, auf solche Weise den Charakter zu brechen. Was sich späterhin noch an Stolz, Selbstgefühl, Kraftbewusstsein, Standesehre im deutschen Arbeitertum regte, regte sich gegen die marxistische Theorie und war Zeugnis für eine heimische seelische Rebellion gegen die Unterdrückung der guten Art.

Und diesen Stolz aus die eigene Art und den eigenen Stil, Politik zu treiben, hat sich der deutsche Arbeiter auch niemals zerstören lassen, selbst nicht in den blühendsten Zeiten des marxistischen Verderbens. Als er Gewerkschaften gründete, als er seine Bildungsvereine organisierte, als sich innerhalb der Arbeiterbewegung selber Schichtungen nach dem Wert und aus leistungsmäßiger Bedeutung der einzelnen Berufsverbände herausbildeten, setzte sich aus innersten deutschen Wesensschichten ein Ethos durch, von dem in der jüdischen Doktrin nichts zu spüren war. Es war der deutsche Trieb, zu gliedern und zu bauen, Ordnungsgebilde zu errichten, Gemeinschaftsformen zu erfüllen. Es nur, in veränderter Form, der gleiche Trieb, der Freiherrn vom Stein beseelt hatte. Immer lag so in der deutschen Arbeiterbewegung die Möglichkeit verborgen, nicht einer Revolution der Auflösung, sondern einer Revolution zur Gemeinschaft hin zu dienen.

Weitschauende Köpfe, die nicht in Parteigesinnungen befangen waren, hatten das auch erkannt. Eine ganze Reihe prophetischer Einzelgänger hatten gesehen, daß dem Sozialismus niemals geschichtliche Leistungen glücken würden, solange er abseits der Nation blieb. Der bemerkenswerteste Versuch, Sozialismus und Staat näher zusammenzuführen, verknüpft sich mit dem Namen Bismarcks. In den sechziger Jahren hatte er die Möglichkeit überprüft, zwischen dem Staat und der Arbeiterschaft ein Einvernehmen herzustellen. Es sollte bezeichnenderweise dem Kampf gegen den Liberalismus dienen. Deutlich schimmert hier die Erkenntnis auf, daß es zwischen dem Staat und der Arbeiterbewegung irgendeine Beziehung geben könnte, die nur noch nicht recht sichtbar geworden war.
Der Versuch, einander zu finden, ist damals missglückt. Der Arbeiterführer, mit den Bismarck verhandeln musste, war bereits ein Jude: Lassalle. Er entstammte nicht einer Welt der Bindung und der Ordnung, zu der Bismarck auch die Arbeiterschaft rechnen zu wollen schien. Er entstammt, genau wie Marx, einer Welt der Chaotisierung.

Der Kampf um den Staat

Als Bismarck auf das politische Kampffeld trat, erschien in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal ein Mann, der einen großen Gedanken auch in einer großen Leistung verwirklichen konnte. Selbst Stein hatte sein Werk unvollendet aufgeben und dabei erleben müssen, wie es im Kerne verfälscht wurde. Bismarck hingegen führt sein Werk so wie er es angelegt hatte, auch zu einem Abschluß. Er ist erfolgreicher als Stein. Aber er beginnt seinen Weg auf den Stufen, die Stein und seine Gefährten gelegt hatten.

Otto von Bismarck (1815-1898)

Seit der preußischen Erneuerung besaß Deutschland einen Schatz von großen politischen Gedanken und ein hohes Erbe an staatlichem Willen. Nur war das alles ungenutzt, seitdem sich die überfremdenden liberalen Mächte, Träger staatsfremder Gesinnung, die innere Herschafft gesichert hatten. Bismarck nun stellt das erweckte Erbe an staatliches Denken in den Dienst seiner neuen politischen Schau. Stein, Clausewitz, Fichte und all die anderen hatten, jeder in seiner Weise, aber alle mit brennender Sehnsucht, einen kommenden Staat vorbereitet. Bismarck hat diesen Staat geschaffen. Sein Werk stellt die einzige vollendete und in den staatlichen Strukturen unangetastete politische Leistung des 19. Jahrhunderts dar.

Das Zweite Reich

Man muss sich mit allem Nachdruck klarmachen, was es für die Menschen des 19. Jahrhunderts zunächst bedeutete, mit einem Male ein mächtiges und geschlossenes Reich zu erleben. Seit Generationen hatten sie nur ihre kümmerlichen Kleinstaaten gekannt: Herrschaftsgebilde, die um bloße Dynastien herumgebaut waren und nur selten echte nationalpolitische Bedeutung besaßen. Die Ahnung, was ein Reich bedeuten könnte, war trotz allem seit den Befreiungskriegen, da Deutschland sich an einem Traum entzündet hatte, lebendig geblieben.

Wodurch wird Bismarcks Staat gekennzeichnet? Zunächst durch die Tatsache, daß er von den liberalen Tendenzen so wenig wie möglich beeinflusst war. Gewiß hatte die „Nationalliberale Partei" Bismarck Hilfestellung geleistet, als er das Reich baute. Dennoch hat Bismarck sein Werk aus einer tiefen Gegensätzlichkeit zum Liberalismus geschaffen. Die politisierenden Mächte, die dem liberalen Raume zugehören, waren Institutionen der Masse: Parteien, Parlamente, Mehrheitsprinzipien Abstimmung, Wahlen. Die politischen Grundsätze, auf denen Bismarck das Reich errichtete, beruhten auf der Überzeugung, daß nicht Massenmeinungen, sondern nur Führungsmächte einen Staat regieren können. Einzig aus der Erkenntnis dieser Gegensätzlichkeit ist die innenpolitische Geschichte des Zweiten Reichs zu verstehen. Jahrzehntelang war sie von einem stillen, zähen, unterirdischer Kampf um diese beiden Prinzipien beherrscht. Bismarck ist dabei mit seinem Willen nur Staatlichkeit und mit seiner Ablehnung privater und demokratischer Einflussnahmen im Grunde durchgedrungen, wenn er auch da und dort in die Organisation seines Staates Einrichtungen fügen mußte, die äußere Zugeständnisse an den Liberalismus darstellen. Aber sie waren, solange Bismarck selber und nicht unsichere Nachkömmlinge führten, in Unterordnung gehalten worden. Die eigentlichen Stützen des Reiches waren so geartet, daß sie dem Wesen der liberalen Welt zuwider waren, weil sie sich der Kontrolle durch die liberalen Institutionen weitgehend entzogen: das Königtum, ein konservativer Wert, war dem Zugriff der liberalen Masseneinrichtungen von vornherein entrückt; das Heer war grundsätzlich nach antiliberalen Gesetzen ausgebaut und wurde auch entsprechend erzogen: nicht nach den Regeln einer parlamentarischen, sondern nach denen einer Führerordnung; der erste Träger des Reichs, der Kanzler selber, war eine Führernatur, die sich von staatsfremden, liberalen Gesinnungen nicht gängeln ließ: in dieser Notwendigkeit, das Reich vor liberalen Einflussnahmen zu schützen, ist die Ursache für den oft getadelten Umstand zu suchen, daß Bismarck „selbstherrlich regierte" und seine Mitarbeiter „unterdrückte". Es ist keine Frage: innerhalb des Gefüges des Staates war für zerspaltende liberale Tendenzen kein Raum.

Reich ohne Weltanschauung

Aber die liberalen Gesinnungen saßen, trotz des großen, aber vergänglichen Wohlgefallens am neuen Reich, schon zu tief in den Herzen der Massen, als daß sie ganz hätten ausgemerzt werden können. Und hier, in den Gesinnungen, trieben denn auch die Kräfte der Auflösung ihr verderbliches Werk weiter. Ihren schleichenden Angriffen ist nach Jahrzehnten selbst dieser stark gefügte und gegen die liberale Chaotisierung errichtete Bau zum Opfer gefallen. Es ist die tiefe Tragik des Bismarckschen Zeitalters, daß es eine für die damaligen Verhältnisse großartige Staatsschöpfung, aber ein Volk mit einer unzulänglichen Staatsgesinnung besaß.

Was sich in den letzen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ereignet, ist beklemmend wie ein Alptraum. Mehr und mehr verfallen die Generationen, für die dieser Staat in drei Kriegen erkämpft worden war, den alten privaten und individualistischen Neigungen. Die Geld, und Prositgesinnungen sind immer krasser geworden. Steigende Genußsucht hat den mahnenden Gedanken, daß der Staat und die Gemeinschaft Dienste verlangen dürften, immer tiefer eingeschläfert. Die Aufspaltung des Volks in Einzelne, die Zersetzung des Gemeingeistes durch egoistische Interessen hat erschreckende Fortschritte gemacht. In einer Fülle von Parteigebilden berufsständischer, klassenkämpferischer und selbst konfessioneller Prägung tobt sich eine giftige Zanklust aus. Während der hartgefügte Körper des Staates vor diesem Treiben in immer größere Einsamkeit hineinrückt, schreitet im Volk die lärmende Chaotisierung voran. Bismarck aber liegt des Nachts unter Träumen, in denen er sein Werk auseinander fallen sieht „wie Zunder". Es ist das eigentliche Verhängnis des Bismarckschen Zeitalters gewesen, daß es keine Weltanschauung, keinen tragenden Glauben besaß. Auch Bismarck selber hat seinem Mich diesen geistigen Unterbau nicht zu geben vermocht. Das kann man ihm nicht zum Vorwurf machen; denn es ist ein tragisches, nicht ein schuldhaftes Verhängnis gewesen. Was Bismarck im Politischen leistete, gehört zu den außergewöhnlichen Taten der deutschen Geschichte. Er hat sein Reich in eine Welt hineingebaut, die es im Tiefsten nicht verstand. Und er hat es in einsamer Treue durch eine Zeit gesteuert, deren Gesetz die Unrast und aus Wirbel war. Es ist eine ungeheure, erst heute wieder ganz verständlich gewordene Leistung gewesen, in einer zuinnerst unpolitischen Zeit das unverstandene und dennoch hohe Beispiel großen politischen Denkens und Handelns zu geben. Und noch höher ist die andere Leistung einzuschätzen, deren ganzen Umfang wir wohl erst später werden ermessen können: von einer so schwankenden, zerrissenen Grundlage wie dem damaligen deutschen Volke her eine Außenpolitik zu führen, die Deutschland zur unbestrittenen Vormacht Europas erhob. Ein englischer Botschafter hatte damals über Bismarck geschrieben: „In St. Petersburg ist sein Wort Evangelium ebenso wie in Paris und Rom, wo seine Äußerungen Achtung einflössen, sein Schweigen Furcht."

Ein höherer Gipfelpunkt staatlicher Wirksamkeit konnte im 19. Jahrhundert nicht erreicht werden. Aber zur gleichen Zeit, in der der deutsche Staat das Höchstmaß seiner Macht besaß, hatten die auflösenden und überfremdenden liberalen Lehren die tiefste Chaotisierung des Volkes erreicht. Was nachher kam, bis an die Schwelle zur neuen Epoche, die sich im Ersten Weltkrieg ankündigte, war nur noch Ausklang. Das Bismarcksche Werk, von unzulänglichen Epigonen unfähig geführt, glitt in einen Zusammenbruch hinein, was in der Tatsache begründet war, daß ein Reich, in dem Staat und Volk andere Wege laufen, nicht auf die Dauer bestehen kann.

Völkische Dichterkräfte

Wenn wir uns von unserem heutigen Standpunkt aus bemühen, z. B die literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts einigermaßen zuverlässig zu ordnen, so wird uns sofort klar werden, daß das nie möglich ist, wenn wir uns nicht ganz entschieden und rücksichtslos freimachen von den überlieferten Begriffen und der Epochebezeichnung, die uns bei jedem Versuch einer zuverlässigen Meinungsbildung über das Wesen des 19. Jahrhunderts hinderlich sein müssen.

Friedrich Schiller (1759-1805)

In das 19. Jahrhundert herein ragt z.B. die deutsche Klassik, unter der man, wenn man sich nicht darauf beschränkt, diesen Begriff ausschließlich für das Werk Goethes (1749 — 1832) und Schillers (1759 — 1805) anzuwenden, alles mögliche zusammenfasst, was sich mit dem besten Willen nicht als geistige und künstlerische Einheit sehen lässt. Neben Goethe und Schiller geht dann mit Jean Paul (1763 — 1825) etwa eine Persönlichkeit, die sich in keiner Weise mit irgendwelchen feststehenden Begriffen beschreiben lässt. Ebenfalls „19. Jahrhundert" sind, äußerlich betrachtet, Friedrich Hölderlin (1770 —1843) und Heinrich von Kleist (1777-1811), zwei herauragende Gestalten der deutschen Dichtung, die wir durchaus neben die beiden Weimarer stellen dürfen, und die, was Gehalt und Form ihres Schaffens anbetrifft, jeder für sich, in einmaliger Art gleichsam zwischen den Strömungen gehen. 19. Jahrhundert ist auch die Romantik, die mit ihren beiden Hauptgruppen der so genannten älteren und jüngeren Romantik, viel weniger eine Einheit darstellt, als der bequeme Begriffsgebrauch uns das glauben machen möchte. Wenn wir Novalis (Schriftstellername des Freiherrn Friedrich von Hardenberg, (1772 — 1801) als den dichterischen Hauptvertreter der so genannten älteren Romantik neben Clemens Brentano (1778 —1842) und Achim von Armin (1781 — 1831) oder neben Dichter wie Ludwig Uhland (1787-1862), Justinus Kerner (1786 — 1862) usw. stellen, dann geht uns sofort die Unzugänglichkeit des überkommenen Begriffsgebrauches auf. Auch, wenn wir zur Romantik den so genannten Realismus hinzunehmen, werden wir bei unseren Bemühungen um die Erkenntnis des wirklichen Wesens des 19. Jahrhunderts, wenn wir uns auf die übliche Betrachtungsweise verlassen, kaum klüger. Man nimmt eines der großen dichterischen Dreigestirne des 19. Jahrhunderts, wie Joseph von Eichendorff (1788-1897), Jeremias Gotthelf (1797 — 1854) und Adalbert Stifter (1805 bis 1868), und man versuche, ihrem Werk in der bisher geübten Forschungsweise auf den Grund zu kommen. Man wird sofort erfahren, wie hilflos wir mit diesen erstarrten Formeln vor dem heute wie je lebendigen Werk der genannten Dichter stehen. Was ist schon gewonnen für uns, wenn wir uns mit der Feststellung beruhigen: Eichendorff ist eben „Romantiker“, und Jeremias Gotthelf ist eben „Realist“. Was ist dann Adalbert Stifter?

„19. Jahrhundert“ sind auch die Landsleute Jeremias Gotthelfs, C. F. Meer (1825— 1898) und Gottfried Keller (1813 — 1890). Auch sie werden nach dem bisher geübten Gebrauch als Realisten bezeichnet. Ihre dichterische Welt steht, genau besehen, aber durchaus einmalig für sich da, und mit Jeremias Gotthelf verglichen, hebt sich die Eigenart dieser drei großen Schweizer jeweils noch viel deutlicher voneinander ab. „19. Jahrhundert“ sind die drei Dramatiker Friedrich Hebbel (1813 — 1863), Franz Grillparzer (1791 — 1872) und Christian Grabbe (1801 — 1836), in denen wir eines der weiteren großen dichterischen Dreigestirne des 19. Jahrhunderts besitzen, und die ebenfalls durchaus auf für sich stehende große Leistungen blicken. „19. Jahrhundert“ sind Annette von Droste-Hülshoff (1797 — 1848) und Marie von Ebner-Eschenbach (1830 — 1916) als die ersten großen Frauengestalten unserer Dichtung. „19. Jahrhundert“ sind Erzähler wie Otto Ludwig (1813 bis 1865) und Karl Leberecht Immermann (1796— 1840), von denen besonders der letztere das Schicksal des Nachgeborenen schwer und bitter empfunden hat. „19. Jahrhundert“ sind z. B. Dichter wie Fritz Reuter (1810 — 1874) und Theodor Storm (1817 — 1888), Peter Rosegger (1843 — 1918) und Ludwig Anzengruber (1839 — 1889) und all die vielen andern, die den großen Durchbruch der deutschen Landschaften und Stämme bezeichnen. Schließlich stehen, abgesehen davon, daß auch noch die Literaturrevolution des so genannten Naturalismus ins 19. Jahrhundert fällt, Gestalten wie Arthur Schopenhauer (1788-1860), Richard Wagner (1813-1883), Friedrich Nietzsche (1844 —1900) und Wilhelm Raabe (1831 bis 1910) ebenfalls mächtig und überragend in diesem vielgliedrigen, so viel geschmähten und so wenig richtig erkannten 19. Jahrhundert.

Wir sehen: es ist völlig unmöglich, dem 19. Jahrhundert mit den Methoden der bisherigen wissenschaftlichen Forschung gerecht zu werden. Eine aufrichtige, zur Zeit aber bedauerlicherweise unmögliche Forschung wird vor allem die Erkenntnis erbringen müssen, daß alle wesentlichen dichterischen Kräfte des 19. Jahrhundert ohne Rücksicht darauf, ob das Volk ihrer Zeit sie verstand oder nicht, ganz aus dem Zwang ihrer blutsmäßigen Bindungen heraus, Werke hingestellt haben, die schon in ganz überraschender Weise auf das Heute zugeordnet sind. Die richtige Erkenntnis des Wesens des 19. Jahrhunderts ist aber nicht nur ein Fachproblem der Wissenschaft, sondern eine Angelegenheit des ganzen Volkes.

Literatur

Fußnoten

  1. George Stockhausen (Hrsg.): „Das deutsche Jahrhundert in Einzelschriften“, 1902 (PDF-Dateien: Band 1, Band 2) Beide Dateien haben den selben Namen und Für Nicht-USA-Bewohner nur mit US-Proxy abrufbar!