Reich-Ranicki, Marcel
Marcel Reich-Ranicki ( 2. Juni 1920 als Marceli Reich in Leslau an der Weichsel; 18. September 2013 in Frankfurt am Main) war ein Jude in Polen, später in der OMF-BRD. Der kommunistische Geheimagent in polnischen Diensten setzte sich 1958 in die BRD ab und lebte hier als Publizist. 1973 konnte er durch Beziehungen zu dem FAZ-Herausgeber Joachim Fest Leiter der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werden. Tonangebende Vertreter des weithin antideutschen und judäozentristischen Literaturbetriebs und der Systemmedien der BRD verehrten ihn als „Literaturpapst“ und verhalfen ihm zu öffentlicher Präsenz und Prominenz. Reich-Ranicki präsentierte die Fernsehrunde „Das literarische Quartett“, die eine so breite Zuschauergunst erwerben konnte, daß die bizarre Situation entstand, daß ein als Literaturkritiker auftretender Jude weitaus bekannter und weitaus gefragter mit seinen Meinungen wurde, als ausnahmslos jeder lebende deutsche Schriftsteller.
Inhaltsverzeichnis
Werdegang
Herkunft
Marceli Reich wurde am 2. Juni 1920 in Leslau an der Weichsel geboren.[1] Er war das dritte Kind des polnischen Juden David Reich und dessen Frau Helene. Die Mutter war eine in Deutschland geborene Jüdin.[2] Der Vater besaß eine kleine Fabrik für Baumaterialien. Reich besuchte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Leslau. Er hatte zwei ältere Geschwister, Gerda und Alexander Herbert.
Nach dem Konkurs der väterlichen Fabrik übersiedelte Reich – wie damals Abertausende Ostjuden – 1929 mit der Familie ins Deutsche Reich.[1]
Die Namenswandlung
Geboren wurde er 1920 als Marceli Reich. 1948 ging er als konsularischer Mitarbeiter Polens mit Geheimdienstauftrag nach London. Dafür übersetzte er den deutschen Namen Reich ins Polnische und trat dort als Marceli Ranicki auf. Im August 1958 nahm er das Pseudonym Marcel Reich-Ranicki an.
Ausbildung
Um ihm seine berufliche Zukunft nach dem geschäftlichen Ruin seines Vaters offenhalten zu können, schickten ihn die Eltern zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin. Ab 1929 lebte Reich-Ranicki zunächst in Berlin-Charlottenburg, dann im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg. Dort besuchte er zunächst das Werner-von-Siemens-Gymnasium und nach dessen Auflösung ab 1935 ohne besondere Beeinträchtigung das renommierte Fichte-Gymnasium. In seiner Freizeit konnte er sich in die Lektüre der deutschen Klassiker vertiefen und Theater, Konzerte und Opern besuchen. Besonders die Aufführungen Wilhelm Furtwänglers und Gustaf Gründgens’ waren ihm ans Herz gewachsen. Thomas Mann wurde in jener Zeit nicht nur in literarischer, sondern auch in moralischer Hinsicht sein Vorbild. 1938 machte Reich-Ranicki am Fichte-Gymnasium sein Abitur. Sein Antrag auf Immatrikulation an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin wurde am 23. April 1938 wegen seiner Herkunft abgelehnt. Er arbeitete zunächst als Lehrling in einer Exportfirma. Am 29. Oktober und am 7. November 1938 folgte die Rückführung von ca. 17.000 als staatenlos geltenden Polen und Juden, darunter auch Reich-Ranicki.[1]
Wirken
Reich-Ranicki lebte zunächst arbeitslos in Warschau. Im November 1940 wurde er in das dortige Ghetto umgesiedelt. Er arbeitete bei dem Ältestenrat („Judenrat”) als Übersetzer und schrieb unter dem Autoren-Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen in der zweimal wöchentlich erscheinenden Ghettozeitung „Gazeta Żydowska”. Gleichzeitig war er Mitarbeiter bei Emanuel Ringelblums Ghetto-Untergrundarchiv. Anfang 1943 nahm er zeitweise an Aktivitäten der jüdischen Partisanengruppe ZOB teil.[1] Im Februar 1943, kurz vor der Auflösung des Ghettos, gelang ihm mit seiner Frau Tosia, die er im Juli 1942 geheiratet hatte, die Flucht. Nach kurzen Zwischenverstecken fanden sie bis Kriegsende einen Unterschlupf bei einer polnischen Familie.
Nachkriegszeit
Nach dem Einmarsch der Roten Armee im September 1944 trat Reich Ende 1944 freiwillig der polnischen kommunistischen Geheimpolizei UB (Urząd Bezpieczeństwa) bei, einer Organisation vergleichbar der sowjetischen GPU bzw. dem NKWD.
1946 trat Reich der Kommunistischen Partei Polens bei. Der März 1946 war die Zeit, als die Kommunisten in Osteuropa ihre Machtpositionen erweiterten und Churchill vom „Eisernen Vorhang“ sprach.
Reich gehörte 1946 der Polnischen Militärmission in Berlin an und arbeitete 1947 im Geheimdienst (Auslandsnachrichtendienst) und im polnischen Außenministerium. Reich-Ranicki war für den kommunistischen Geheimdienst in Schlesien tätig und danach als Einsatzleiter – im Range eines Hauptmanns – für den polnischen Auslandsgeheimdienst, der gegen Großbritannien gerichtete Spionage durchführte.[3][4] In dieser Eigenschaft wurde er 1948, unter der Tarnung (Deckname „Platon“) eines Vize-Konsuls namens „Marceli Ranicki” – der Name „Reich” klang zu deutsch – als Resident an die Polnische Botschaft in London entsandt, wo er zuständig für die Bespitzelung[5] und Rückführung polnischer Emigranten war.[1] Den Namen Ranicki behielt er später einfach bei. Er galt bei seinen Kollegen als Intellektueller, aber auch als arrogant und stieß auf entsprechend viele Vorbehalte. London war zu der Zeit Sitz der polnischen Exilregierung. Einige dieser Emigranten wurden später von den Kommunisten zum Tode verurteilt und hingerichtet.[6] In dieser Zeit verriet er viele kommunistische Gesinnungsgenossen. Schließlich stellte Reich-Ranicki in London eigenmächtig einem Verwandten ein Visum aus, ohne seine Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen.
Als das Agentennetz zusammenbrach, wurde Ranicki abberufen. Im Herbst 1949 bat er aus „politischen Gründen“ um seine Abberufung aus London und kehrte nach Warschau zurück. Anfang 1950 wurde er aus dem Geheimdienst sowie aus dem Dienst im Außenministerium entlassen. Wegen „ideologischer Entfremdung” schloß man ihn auch aus der Kommunistischen Partei aus und inhaftierte ihn zwei Wochen lang in einer Einzelzelle.[2] Seine späteren Anträge auf Wiedereintritt und Rehabilitation wurden abgelehnt.[7]
Mit der Haftzeit endete Reich-Ranickis politische Karriere. Aus dem Gefängnis entlassen, wendete er sich der Literatur zu. Er schrieb für Zeitung und Rundfunk und betreute in einem großen Warschauer Verlag das Lektorat für deutsche Literatur. Ende 1951 ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. Anfang 1953 belegten die polnischen Behörden ihn mit einem Publikationsverbot, das bis Ende 1954 in Kraft blieb.
In polnischer Sprache veröffentlichte er u. a. „Aus der Geschichte der deutschen Literatur“ (1955), „Die Epik der Anna Seghers“ (1957) sowie kritische Einleitungen zu Werken von Goethe, Theodor Fontane, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Hermann Hesse, Heinrich Mann und anderen. Er verfaßte ferner zahlreiche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften.
Unter schwierigen Umständen konnte der jüdische Judenkritiker John Sack Reich-Ranicki dazu bewegen, für sein Buch „Auge um Auge“, welches 1995 erschien, Aussagen über seine Zeit als Geheimdienstmitarbeiter für Polen zu tätigen. Das Buch behandelt Verbrechen von Juden an Deutschen ab 1945. Die Originalaussagen von Reich-Ranicki sind auf Tonband in der John Sack Collection der Universität Boston zu finden. Der Originaltitel des Buches heißt „An Eye for an Eye“.
Bundesrepublik Deutschland
Im Juli 1958 hielt sich Reich-Ranicki zu Studienzwecken in der Bundesrepublik Deutschland auf und kehrte von dieser Reise nicht mehr nach Polen zurück. Seine Frau war zuvor mit dem Sohn Andrzej in Urlaub nach London gefahren, um eine Ausreise der gesamten Familie in bürokratischer Hinsicht zu erleichtern.[8] Ab August 1958 arbeitete er als Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Der Feuilletonchef der FAZ, Hans Schwab-Felisch, schlug ihm vor, seinen heutigen Doppelnamen zu verwenden, was dieser ohne zu zögern übernahm.[9] Er fand Unterstützung durch seine Schriftstellerkollegen Heinrich Böll und Siegfried Lenz und verwendete von nun an den Doppelnamen „Reich-Ranicki“. Innerhalb kurzer Zeit gelang Reich-Ranicki, der über keinerlei Diplome oder Zertifikate verfügte, ein erstaunlicher Aufstieg. Nach der Übersiedlung von Frankfurt am Main nach Hamburg (1959) arbeitete er von 1960 bis 1973 ständig für die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ und erwarb sich als scharfzüngiger Literaturkritiker einen international geachteten Namen. Allerdings machte er sich durch sein „überaus leicht entzündliches Temperament“ (so sein Biograph Wittstock), seine Art und Weise im Umgang mit Schriftstellern sowie durch häufige Polemik in der Beurteilung auch viele Gegner, darunter Günter Grass, Martin Walser und Peter Handke. Seine Kritiken schrieb Reich-Ranicki in einem klaren Stil, verständlich, weitestgehend ohne Fremdwörter, ohne Verschnörkelungen und doch reich an Metaphern. 1973 ging er mit Joachim Fest zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er bis zu seinem Ruhestand 1988 die Redaktion für Literatur und literarisches Leben leitete. Daneben schrieb er für die FAZ, die er zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands machte, weiterhin Kritiken und redigierte die „Frankfurter Anthologie“.
Als Literaturkritiker verriß Reich-Ranicki den Walser-Roman „Jenseits der Liebe“ 1976 als „belanglosen Roman“.[10] Die beiden Männer waren seitdem zerstritten. Der Schriftsteller Martin Walser wiederum veröffentlichte 2002 den Roman „Tod eines Kritikers“, dessen Hauptfigur – ein zu Tode kommender jüdischer Literaturkenner – deutliche Parallelen zu Reich-Ranicki aufweist.
Reich-Ranickis Literaturkenntnisse wurden auch im Ausland geschätzt. 1968 war er Gastprofessor an der Washington University in St. Louis (USA) und 1969 am Middlebury College (USA). Von 1971 bis 1975 lehrte er als ständiger Gastprofessor für „Neue Deutsche Literatur“ an den Universitäten von Stockholm und Uppsala (Schweden). 1974 wurde er Honorarprofessor an der Universität Tübingen und hatte 1991/92 die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Universität Düsseldorf inne. Reich-Ranicki war ferner einer der Initiatoren des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis und von 1977 bis 1986 Sprecher der Jury dieses Wettbewerbs. Vortragsreisen führten ihn in die USA, nach Kanada, Israel, China, Australien und Neuseeland sowie in zahlreiche europäische Länder.
Seit den 1980er Jahren war er Dauergast im deutschen Fernsehen.[1] Seine Popularität konnte Reich-Ranicki durch die Leitung der ZDF-Büchersendung „Das Literarische Quartett“ (1988–2001), die sich durch eine lebhafte – mit unnachahmlicher charakteristisch-nuschelnder Stimme im „ex cathedra”-Stil – und kontroverse Diskussionskultur auszeichnete, noch steigern. In gewissen „Fachkreisen” war er auch vor dieser Sendung längst als „Literaturpapst” bekannt. Nach einem Eklat um persönliche Attacken gegen seine Kritikerkollegin Sigrid Löffler wurde die Reihe zunächst mit Iris Radisch fortgesetzt und dann zum Jahresende 2001, nach 77 Sendungen mit 400 diskutierten Büchern, abgesetzt. Allerdings gab es bis Sommer 2006 weiterhin einzelne Sondersendungen. Nach dem Ende der Erfolgssendung startete der „Literaturpapst“ im Februar 2002 im ZDF seine „polemischen Anmerkungen“ zu Büchern und anderen Ereignissen des Kulturlebens, die bis Dezember 2002 unter dem Titel „Reich-Ranicki solo“ ausgestrahlt wurden.
Jahrzehntelang schwang „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki seinen Krummstab über dem neudeutschen Bildungsbürgertum. Er tat sich auch als gestrenger Mahner zur ewigen deutschen Vergangenheitsbewältigung wegen Hitler hervor. Seinen Begriff von Pressefreiheit brachte er schon 1965 zum Ausdruck, als er durch Eingabe an den Präsidenten des Bundestages, den später über seinen Wiedergutmachungsskandal gestrauchelten Eugen Gerstenmaier, das Verbot der „Deutschen National-Zeitung“ verlangte. Als es aber 1994 um die Bewältigung in seiner eigenen Sache ging, reagierte Reich-Ranicki aggressiv: „Warum sollte ich als Jude der deutschen Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig sein?“[1] Im Sommer 1994 geriet Reich-Ranickis Tätigkeit und „dunkle Epoche“ im kommunistischen Polen auf den öffentlichen Prüfstand. Seine Zusammenarbeit mit dem polnischen Geheimdienst verneinte er zunächst, bevor er sie doch zugeben mußte; er bestritt jedoch, „Chefagent“ gewesen zu sein. Er habe in London zu 80 bis 90 % normale konsularische Aufgaben erfüllt, aber auch über die Aktivitäten der exilpolnischen politischen Organisationen berichtet, teilte er mit. Aus seiner bekanntgewordenen rotpolnischen Geheimdienstakte geht hervor, daß er drei Orden als Offizier von Warschaus Gestapo erhalten hatte und 1945 auch Führer einer „Operationsgruppe“ in Kattowitz/Oberschlesien gewesen war. Im kommunistischen Polen hatte Reich-Ranicki nicht nur über „Stalins geniale Worte“ geschrieben und, ganz im Sinne der Ostpropaganda, das meiste an der bundesdeutschen Literatur als hitleristisch verdammt, sondern er war auch Hauptmann im Geheimdienst gewesen und hatte als Vizechef eines Dezernats im Warschauer Sicherheitsministerium dem stalinistischen Regime gedient. Kritische Fragen über seine Verstrickung in den rotpolnischen Terror wurden abgeblockt. Nicht zuletzt solidarisierte sich das „Auschwitz-Komitee“ mit ihm, das seine Kritiker routiniert in Antisemitismus-Nähe rückte, die daraufhin eingeschüchtert schwiegen. Der „Literaturpapst“ konnte sein Pontifikat bald darauf ungestört fortsetzen.[1] Für seine dunkle politische Biographie fand er überwiegend Verständnis.[11]
Familie
Marcel Reich-Ranicki war seit Juli 1942 mit der Jüdin Tosia (eigtl. Teofila), geb. Langnas (1920–2011) verheiratet. Das Paar lebte seit 1973 in Frankfurt-Dornbusch. Andrew Ranicki ( 1948 in London) ist der Sohn von Marcel Reich-Ranicki.
Mitgliedschaft
Reich-Ranicki gehörte der Franz-Kafka-Literaturpreis-Jury an und war Gast bei Tagungen der Umerziehungs-„Gruppe 47“.
Kritik
Die hochschäumende öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki jahrzehntelang zuteil wurde, stand in eigenartigem Kontrast zur politischen Ermattung selbst berühmter deutscher Schriftsteller und zu ihrer sehr verspäteten, geradewegs kleinlauten und ohnmächtigen Abwehr der sogenannten „Rechtschreibreform“. Auch genuin ästhetische Debatten werden mittlerweile nur noch ungern und gelangweilt geführt, so als wenn die modernistische Verhäßlichung, der Primat der Zersetzung, alle längst übermannt hätte.
Als Martin Walser seinen Roman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte, las dieselbe vermeintlich „kritische“ Öffentlichkeit darin eine private Abrechnung mit diesem einen Kritiker Reich-Ranicki ohne jede weitergehende Bedeutung. Tatsächlich aber hat der dem Romanstoff zugrundeliegende Mentalitätskonflikt (Künstler/Nicht-Künstler; Deutscher/Jude) sogar große geschichtliche Folgen. Es war Martin Walser, der 1961 auf einer Tagung der Gruppe 47 Literaturkritiker als „Lumpenhunde“ bezeichnet hatte (und es gibt Hinweise, daß er dabei wohl nicht gerade an Joachim Kaiser gedacht hat).[12] Marcel Reich-Ranicki nahm diesen Vorfall zum Anlaß für eine generelle Klarstellung. Er sagte: „Die Autoren, die auf den Tagungen [der Gruppe 47] ihre Arbeiten lesen, wissen, daß sie nur improvisierte Soforturteile hören werden, die oft schonungslos und unbarmherzig sind. [...] Warum kommen sie trotzdem? Warum setzen sich angesehene und preisgekrönte Schriftsteller, deren Bücher hohe Auflagen erzielen und in viele Sprachen übersetzt werden, einer scheinbar so unernsten Kritik aus? Sind sie etwa Masochisten?“ Eine solche Herablassung jedoch, geradewegs die Karikatur des höhnischen Pressejuden, bestimmte seither das Verhältnis zwischen Künstlern und ihrem stets aufs äußerste beleidigten Kritiker. Diese Mißgunst aus Prinzip – das obligatorische Beleidigtsein, das explizit oder auch implizit zu fragen scheint: „Wer wagt es, mir so etwas minderwertiges vorzusetzen?“ – blieb durch Jahrzehnte hindurch die unveränderte Einstellung Reich-Ranickis zu ausnahmslos allen deutschen Schriftstellern. (Die einzige bemerkbare Ausnahme, Siegfried Lenz, zählt nicht, weil er diesem gegenüber nicht etwa anders auftrat, sondern zu dessen Werken überhaupt keine Kritiken veröffentlichte.)
Reich-Ranicki verstand nie, warum Künstler mit Künstlern im Rahmen einer festen Vereinbarung (nämlich mittels Lesungen ohne Autoren-Widerwort) sprechen möchten. Reich-Ranicki verstand nie, daß er dort lediglich Gast war und seine beleidigten Mienen so unpassend wie nur irgend etwas sind gegenüber der verletzlichen künstlerischen Arbeit. Reich-Ranicki verstand ebenfalls nie, daß seine dickfingerige Aburteilung weder erwünscht noch jemals sinnvoll war. So wird einer „Literaturpapst“, und keine Einrede kann seinen Mißmut aufhalten.
Keine Einrede? – Doch, es gab sie. Vielfach und kontinuierlich. Aber bloß Fachleute kennen diese Einrede. Um ein Beispiel zu geben: Der langjährig tätige Literaturkritiker Reinhard Baumgart schrieb 1964 einen kalten Verriß des Buches „Deutsche Literatur in Ost und West“ von Marcel Reich-Ranicki. Er nennt ihn dort einen Kritiker „von Beckmessers Gnaden, versessen auf Einzelfehler, kurzsichtig für Zusammenhänge“.[13] Er nennt ihn einen Don Quijote der Literaturkritik, sammelt Argumente gegen die Aburteilungsmaschine: „Gegen die Versuchungen der Brillanz ist dieser Kritiker unendlich gefeit. Seine Sprache läßt es einfach so weit nicht kommen. Sie reizt, im Gegenteil, einen ganz anderen Verdacht: ob nämlich so grobes Instrument andere als grobe Urteile liefern kann?“
Ehrungen und Auszeichnungen
Auf Antrag der „Freunde der Universität Tel Aviv” in der BRD aus dem Jahre 2006 entstand an der Universität Tel Aviv der Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur.[14]
Im Jahr 2006 entschied die Humboldt-Universität zu Berlin, Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Die Verleihung fand am 16. Februar 2007 statt.[15]
Für sein Lebenswerk und seine Sendung „Das Literarische Quartett“ sollte Reich-Ranicki am 11. Oktober 2008 der Deutsche Fernsehpreis verliehen werden. Der Literaturkritiker lehnte es aber ab, die Auszeichnung entgegenzunehmen, und kritisierte im Rahmen der geplanten Verleihung den „Blödsinn, was ich die letzten Stunden hier gesehen habe, war großer Mist. Ich gehöre hier nicht hin. Ich werfe euch den Preis vor die Füße. Es ist schlimm, daß ich das erleben mußte”,[16] nahm den Preis letztendlich aber doch mit. „Thomas Gottschalk hat ihn schließlich dazu überredet”, sagte ein Sprecher in Mainz.[17]
Erhaltene Auszeichnungen (Auswahl)
- Verdienstkreuz der Republik Polen – Silbernes Verdienstkreuz „für herausragende Verdienste, Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden und musterhaften Dienst“ beim polnischen Geheimdienst
- 2002: Goethepreis der Stadt Frankfurt
- 2003: Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland
Zitate
- Marcel Reich-Ranicki ist angetan von der Verfilmung seiner Autobiographie „Mein Leben“. „Dieser Film beschönigt alles. Und das ist gut und richtig so.“ Wenn das Leben im Warschauer Ghetto so gezeigt worden wäre, wie es wirklich gewesen sei, würden die Menschen es nicht aushalten.[18]
- „Wir haben uns regelrecht nach dem Krieg gesehnt! [...] Denn wir haben geglaubt, daß die Deutschen den Krieg schnell verlieren würden.“[19]
- „Wenn ich in der Goethepreis-Jury gewesen wäre, hätte ich, glaube ich, verhindert, daß Jünger diesen Preis erhält.“[20]
Buchveröffentlichungen (Auswahl)
- Wer schreibt provoziert. Pamphlete und Kommentare, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1966
- Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. Piper 1967
- Thomas Mann und die Seinen. DVA 1987. ISBN 3421058644
Als Herausgeber
- Frankfurter Anthologie, Band 1–29. Insel Verlag, Frankfurt 1978–2004 (Einzelbände)
- 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Insel, Frankfurt a. M. 1995. 10 Bände (Anthologie mit Interpretationstexten)
- 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Chronologisch von Walther von der Vogelweide bis Durs Grünbein. Insel, Frankfurt 2002. 12 Bände (Anthologie mit Interpretationstexten)
Filmographie
- Mein Leben (2009). Fernsehspiel. Regie: Dror Zahavi, Autor: Michael Gutmann; Produktion: Katharina Trebitsch (Darsteller M. Reich-Ranicki: Matthias Schweighöfer
- Ich, Reich-Ranicki. Dokumentation, 105 Min., Buch und Regie: Lutz Hachmeister und Gert Scobel, Erstsendung: ZDF, 13. Oktober 2006 (Inhaltsangabe des ZDF), (Besprechung in Spiegel Online, FAZ und Berliner Zeitung)
- Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben. Dokumentation, 43 Min., ein Film von Diana von Wrede, Produktion: arte, Erstsendung: 21. August 2004, Inhaltsangabe von Phoenix
Literatur
- Frank Schirrmacher: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern. Eine Bildbiographie, München, DVA 2001
- Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004
- Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens, Blessing, München 2005
Siehe auch
- Mordechaj Anielewicz
- Gruppe 47
- Marc Rich (Marcel Reich, jüdischer Namensvetter)
Verweise
- TransMIT-Zentrum für Literaturvermittlung in den Medien – Weltnetzportal Marcel Reich-Ranicki
- Götz Kubitschek: Tod eines Kritikers: Der Reichs-Ranicker macht Platz, Nachruf in der Sezession im Netz, 19. September 2013
Fußnoten
- Geboren 1920
- Gestorben 2013
- Deutschfeindliche Person
- Jüdischer Partisan
- Jüdischer Journalist
- Jüdischer Autor
- Die Zeit
- Frankfurter Allgemeine Zeitung
- Jüdischer Literaturkritiker
- Träger des Hessischen Verdienstordens
- Träger des Henri-Nannen-Preises
- Jüdischer Hochschullehrer
- Hochschullehrer (Eberhard Karls Universität Tübingen)
- Jüdischer Publizist
- Nachrichtendienstliche Person (Polen)
- Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern
- Träger der Wilhelm-Leuschner-Medaille
- Ehrendoktor der Ludwig-Maximilians-Universität München
- Ehrendoktor der Freien Universität Berlin
- Ehrendoktor der Universität Augsburg
- Ehrendoktor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
- Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin
- Ehrendoktor der Universität Tel Aviv
- Ehrendoktor der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
- Träger des Hessischen Kulturpreises
- Träger des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen