Lebensraum im Osten
Der Begriff des Lebensraumes wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts geprägt von Friedrich Ratzel, der in seinen Werken darlegt, daß die Entwicklung eines Volkes abhängig ist von dem ihm zur Verfügung stehenden Raum und dessen Art und Beschaffenheit.
Inhaltsverzeichnis
Hitler und der Lebensraum
Im Jahr 1924 schrieb Adolf Hitler in seinem Werk „Mein Kampf“, daß das Deutsche Reich Lebensraum im Osten gewinnen und mit deutschen Bauern besiedeln solle. Die völkische Bewegung im Kaiserreich hatte bereits ähnliche Pläne vorgesehen.
Es sind keine seriösen Quellen bekannt, wonach mit der Idee der Schaffung von deutschem Lebensraum eine imperialistische, expansive Politik mit Gebietsannexionen und Unterjochung sonstiger, östlich von Deutschland siedelnder Völker gemeint war. Vielmehr bedeutete diese Idee die Rückgewinnung des alten deutschen Kulturbodens in dem durch Polen besetzten deutschen Gebiet.[1] In diesem Bereich spielte sich vom 11. bis 19. Jahrhundert die Deutsche Ostsiedlung ab. Letzterer war eine Besiedlung germanischer Stämme bereits vor der Völkerwanderung vorausgegangen.
In seiner Stellung als Führer und Reichskanzler verfolgte Adolf Hitler die Absicht des Lebensraumgewinns im Osten in den letzten Friedensjahren und selbst zu Kriegsbeginn 1939 nicht mehr. Dies belegen u. a. Forschungsergebnisse von Gerd Schultze-Rhonhof[2] als auch des Historikers Stefan Scheil: „Hitler hat zu keinem Zeitpunkt seiner Regierungszeit ausdrücklich davon gesprochen, Lebensraum in Rußland erobern zu wollen, weder öffentlich noch geheim.“[3] Spätestens nach dem Polenfeldzug, der die Rückgliederung der besetzten deutschen Gebiete brachte, war Hitler klar, daß das Deutsche Volk weiteren Siedlungsraum weder benötigte noch hätte besiedeln können.[4] In einem von Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Konstantin von Neurath selbst diktierten Bericht an das Auswärtige Amt über eine Besprechung mit Hitler im Dezember 1939 heißt es:
- „Es wird davon abgesehen, das Land (Protektorat) in größerem Umfang mit Deutschen zu besiedeln, denn die Verdeutschung des neu-deutschen Ostens (Westpreußen, Posen, Oberschlesien) ist vordringlich und schon hierfür reicht die Zahl der deutschen Siedler kaum aus.“[4]
Das im Jahr 1939 geschaffene Reichsgau Wartheland wurde mit Volksdeutschen aus ganz Osteuropa besiedelt. Die Rücksiedlung erfolgte unter dem Motto „Heim ins Reich“. Heinrich Himmler sah zudem in Heinrich I. seinen Vorläufer in Bezug auf die deutsche Ostpolitik und den Kampf gegen das Eindringen der Slawen.
Die Idee während des Nationalsozialismus
Die Absicht zur Schaffung von Lebensraum im Osten für Deutsche wurde von Adolf Hitler in den 30er Jahren vorerst verworfen. Auch vor Kriegsbeginn 1939 hatte er diesen Plan nicht verfolgt. Dies ist u.a. daran zu erkennen, daß die Wehrmacht nicht für einen baldigen Krieg gegen die Sowjetunion gerüstet wurde. So fehlte es an Winterbekleidung, Bombern, Frontlogistik usw. Nach der gegenwärtigen offiziellen Geschichtsschreibung sollten auch sowjetische Territorien besiedelt werden, das Uralgebirge sollte dabei als angebliche Grenze dienen, die Wolga zum deutschen Mississippi werden.
Hitler lehnte am 14. März 1939 den Vorschlag des Ministerpräsidenten der selbständig gewordenen Karpato-Ukraine, Awgustyn Woloschin, ab, der vorsah, daß sein Land unter Schutzherrschaft des Deutschen Reiches gestellt werden solle. Damit wäre ein kriegswichtiger Schritt im Vorgehen gegen Sowjet-Rußland geschaffen worden.
Hitler sagte im September 1938, als Polen die Stadt Oderberg annektierte: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten.“
Wegen Verhandlungen wurde der Polenfeldzug um mehrere Tage (insgesamt dreimal) verschoben. Der Führer begründete diese Entscheidung damit, daß er mit Polen um den Weichsel-Korridor verhandeln wolle und mehr Zeit bräuchte.
Im Laufe des „Zollinspektorenstreits“ zwischen dem Freistaat Danzig und Polen stand es im August 1939 dicht vor einem Krieg. Hitler intervenierte und drängte den Senatspräsidenten von Danzig, für Entspannung zu sorgen und „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften“. Wenn Hitler unbedingt Krieg gewollt hätte, hätte er diese Möglichkeit leicht dazu nutzen können und nicht noch vier Wochen mit dem Einmarsch in Polen und die durch Polen besetzten deutschen Gebiete gewartet.[2]
Nach dem siegreichen Polenfeldzug schlug das Deutsche Reich den Gegnern Frankreich und England, die Deutschland den Krieg erklärt hatten, Frieden vor: Bis auf Danzig und den Weichsel-Korridor sollten alle vorübergehend besetzten Gebiete geräumt werden, die deutsche Bevölkerung sollte als Minderheit in polnischen Gebieten jedoch weiter leben dürfen. Hätte Hitler das ganze polnische Land als Lebensraum nutzen wollen, hätte er diesen Vorschlag nicht gemacht.
Nach dem ebenfalls siegreichen Frankreichfeldzug 1940 hatte Hitler die Panzer- und Munitionsproduktion um ein Drittel zurückfahren lassen. Zudem wurden 35 Heeresdivisionen aufgelöst.
Infolge des Polenfeldzuges und der dadurch ermöglichten Wiedereingliederung der durch das Versailler Diktat abgetrennten deutschen Ostgebiete wurden tausende Volksdeutsche aus Osteuropa im Zuge der „großzügigsten Umsiedlungsaktion der Weltgeschichte“ in das Wartheland umgesiedelt. Der „Aufbau des neuen Ostens“ war die durch die Reichsregierung propagierte Losung und die Schaffung von Lebensraum im wiedergewonnen deutschen Osten. Angeblich soll beim Rußlandfeldzug eine Besiedlung der Halbinsel Krim mit Volksdeutschen geplant gewesen sein, da dort um das Jahr 395 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine bereits die Ostgoten Siedlungen besaßen. Die besetzten Gebiete Osteuropas wurden mit dem Reichskommissariat Ukraine und Reichskommissariat Ostland verwaltet. Bereits 1941/42 konnten die meisten Gottscheer ebenfalls Heim ins Reich kehren.
Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung
Die veröffentlichte Geschichtsschreibung weiß hingegen zu berichten, daß dieser Plan die Vertreibung „rassisch unerwünschter“ Bevölkerungsteile der besetzten Ostgebiete, ihre Germanisierung und wirtschaftliche Ausbeutung vorsah. Die Darstellungen in Fach- und Schulbüchern gehen sogar so weit, daß die sogenannten „Slawen“ als Arbeitsrasse den deutschen „Herrenmenschen“ dienen sollten. Des weiteren wird der angebliche Sinn des deutschen Rußlandfeldzuges von 1941, der ein Präventivkrieg war, dahingehend verfälscht, daß damit die gewaltsame Gewinnung benötigten Lebensraumes beabsichtigt gewesen sei. Ebenso wird die in „Mein Kampf“ bereits geschilderte Benennung Südtirols als Lebensraum für Deutsche so umgedeutet, daß Hitler darauf abgezielt habe, die Südtiroler nach dem Krieg im ebenso bergigen Kaukasus oder auf der Halbinsel Krim anzusiedeln. Für die aufgeführten Hypothesen gibt es keinerlei konkrete, wissenschaftlich verläßliche Belege.
Die Ursachen dieser verzerrten Darstellung liegen möglicherweise in Hitlers „Mein Kampf“ selbst, da sich dort Textpassagen finden, in denen der Osten als Ziel einer möglichen deutschen Außenpolitik gesehen wird:
- „Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Schlußstrich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen und weisen den Blick nach dem Land im Osten. [...] Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“[5]
In Anbetracht der Tatsache, daß in den späten 1930er Jahren die reichsdeutsche Politik einen stark defensiven und verhandlungsbereiten Charakter besaß, kann man davon ausgehen, daß Hitler seine damals in „Mein Kampf“ geäußerten Vorstellungen nur als eine von vielen möglichen Optionen beschrieben hatte. Diese scheinbare „Option“ äußerte sich letztlich in der alleinigen Abrundung der Reichsgrenzen gegen das Eindringen äußerer Feinde mit dem Reichsgau Wartheland. Von den Expansionsideen in „Mein Kampf“ nahm Hitler Abstand, so tauchen in der französischen Übersetzung auch keine territorialen Forderungen mehr an Frankreich auf. Die Idee, an der Hitler festhielt, war die Vorstellung einer wirtschaftlichen Selbstversorgung (Autarkie), um die Rohstoff- und Ernährungsbasis des Volkes sicherstellen zu können.
Ebenso dient Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ als angeblicher „Beleg“ für die Germanisierungspläne für Osteuropa, da dieser dort schrieb, daß „ein deutsch-skandinavischer Block mit dem Ziel, Boden für hundert Millionen Deutsche zu schaffen“ das Ziel sei, „zur Verhinderung der Bildung einer mongolischen Gefahr im Osten.“[6]
Bildergalerie
Die deutsche Ostgrenze um 1800 vor dem französischen Überfall unter Napoleon auf Deutschland und dem sogenannten Frieden von Tilsit
Schautafel zur Rückführung der in das Reichsgebiet nach dem Versailler Vertrag eingesickerten Polen und Juden in ihre ursprüngliche Heimat zur Wiederfreimachung dieses deutschen Gebietes für die Rücksiedlung deutscher Volksstämme aus dem Baltikum, dem Wolga- und dem Schwarzmeergebiet getreu dem Motto: Heim ins Reich.
Rücksiedlung der Volksdeutschen[7]
Ostpreußen, Ankunft von Umsiedlern aus Litauen. Heimkehr der Volksdeutschen aus Litauen ins Reich. An der Grenzübergangsstelle bei Eydtkau in Ostpreussen trafen die ersten Trecks der Volksdeutschen aus Litauen ein, die nunmehr ebenfalls ins Reich heimgeholt worden sind. UBz: die Wagen des ersten Trecks bei der Einfahrt in Eydtkau. Die Bevölkerung hatte zu ihrem Empfang ein mit Fahnen geschmücktes Tor errichtet und begrüsste die Volksdeutschen mit herzlicher Freude.
Stettin, Ankunft von Umsiedlern: Die „Ozeana“ brachte neue baltendeutsche Heimkehrer. Unser Bild berichtet von der Ankunft eines weiteren Rückwandererschiffes aus den Baltenländern in Stettin: Mit der „Ozeana“ folgten 827 Baltendeutsche aus der Gegend von Dorpat und Reval dem Ruf des Führers. Von Stettin aus führte sie der Weg in ihre neuen Heimatorte im Posenschen Gebiet.
Umsiedlung der Baltendeutschen in das Wartheland
Litzmannstadt: Millionster Umsiedler im Wartheland. Im Zuge der gegenwärtig durchgeführten Umsiedlung der Schwarzmeerdeutschen im Reichsgau Wartheland ist die Zahl der Deutschen in diesem Gau auf eine Million gestiegen. Reichsstatthalter Gauleiter Greiser (zweiter von rechts) empfing den millionsten Ansiedler im Warthegau, einen Schwarzmeerdeutschen, aus dem Dorf Hoffenthal bei Taganrog, und unterhielt sich längere Zeit mit ihm. Links vom Gauleiter Ritterkreuzträger SS-Brigadeführer Reinefarth, rechts Gaupropagandaleiter Maul. (Scherl Bilderdienst (16. März 1944)
Siehe auch
- Ostforschung
- Raum
- Blut und Boden
- Deutsche Annexionsbestrebungen
- Rede vom 6. Oktober 1939 (Adolf Hitler)
- Allgemeine Anordnung Nr. 20/VI/42 über die Gestaltung der Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten vom 21. Dezember 1942
- Hoßbach-Niederschrift
Literatur
- Gerd Schultze-Rhonhof: Gab es Hitlers Generalplan zur Eroberung von Lebensraum im Osten?, in: Rolf Kosiek / Olaf Rose (Hgg.): Der Große Wendig, Bd. 4, Edition Grabert im Hohenrain-Verlag, Tübingen, 3. Aufl. 2017, S. 316–321
- Heinrich Bosse: Der Führer ruft – Erlebnisberichte aus den Tagen der großen Umsiedlung im Osten, Zeitgeschichte-Verlag in Berlin, 1941
- SCHULUNGSKARTE: Die [frühere] führungslose Auswanderung deutscher Bauern und Bürger nach dem Osten und die planvolle Umsiedlung ins Großdeutsche Reich Adolf Hitlers
- Anton Friedrich Büsching: Neueste Geschichte der Evangelischen beider Konfessionen im Königreich Polen und Litauen, Halle 1784
- Arthur Rhode: Die evangelischen Deutschen in Russisch-Polen, ihr drohender Untergang und die Möglichkeit ihrer Rettung, Verlag Ebbecke, Lissa i. P. 1906
- St. Gorski: Die Deutschen im Königreich Polen, Warschau 1908
- Hans Praesent: Das Deutschtum in Kongreßpolen und seine Geschichte, Leipzig 1919
- Adolf Eichler: Das Deutschtum in Kongreßpolen, Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft, 1921
- Fritz Menn: Auf den Straßen des Todes. Leidensweg der Volksdeutschen in Polen, Leipzig 1940
- Erhard Wittek: Der Marsch nach Lowitsch, Berlin 1940
- Theodor Bierschenk: Die deutsche Volksgruppe in Polen, Kitzingen/Holzner 1954
- Alfred Thoss: Zur Umsiedlung deutscher Volksgruppen in den Jahren 1939/41 – Wie fast 500.000 Volksdeutsche dem Zugriff der Sowjets entzogen wurden, 1984
Verweise
- Günther Küchenhoff: Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, 1944
Verfilmungen
Fußnoten
Besonders lesenswerte Artikel sind außergewöhnlich gelungen und umfassend. Verbesserungen und Erweiterungen sind dennoch gern gesehen. Umfangreichere strukturelle und inhaltliche Änderungen sollten zuvor diskutiert werden. |