Stummfilm
Als Stummfilm wird seit der Verbreitung des Tonfilms in den 1920er Jahren ein Film ohne technisch-mechanisch vorbereitete Tonbegleitung bezeichnet. Die Aufführung solcher Filme wurde zeitgenössisch fast ausnahmslos wenigstens musikalisch untermalt.
Inhaltsverzeichnis
Erläuterung
Während der Frühzeit des Kinos gab es noch keine zufriedenstellende Möglichkeit, Bild und Ton synchron aufzunehmen und abzuspielen. Die Filme wurden vor Publikum je nach Art der Vorführstätte von Orchester, Klavier bzw. Pianola, Grammophon u. a. begleitet. Stummfilme wurden auch mit einmontierten Texten, den Zwischentiteln, erzählt. Trotzdem mußte der Großteil der Handlung und Gefühle über die Filmbilder transportiert werden. Das Schauspiel der Akteure früher Filme war aus diesem Grund meistens sehr körperbetont.
Von der Geburt und den Kinderjahren des Films
Zauberei und Spielerei
Über technischen Spezialfragen und belanglosen Prioritätsstreiten hat man überall auf der Erde vergessen, daß das, was wir heute landläufig unter dem Begriff „Film“ verstehen, letzten Endes weder Ausdruck menschlichen Spieldranges noch Entwicklung der Technik, Kunstwerk oder Industriezweig allein ist, sondern vielmehr das Produkt dieser und vieler sonstiger das Gesellschaftsleben bestimmender Kräfte und die Erfüllung eines der ältesten Menschenträume! Der Film ist nämlich so alt wie die Menschheit.
Nach den Forschungen des englischen Gelehrten Will Day ist es geschichtlich nachgewiesen, daß die Chinesen schon vor etwa 7.000 Jahren die Kunst verstanden haben, Schattenbilder aus Büffelhaut geschnittener Figuren auf weißem Pergament erscheinen zu lassen, die allerlei Bewegungen ausführten.
Andere wissenschaftlich tiefgründige Filmhistoriker suchen die Urelemente der Kinematographie in den Höhlenbildern des Quartärzeitalters (älteste Steinzeit), etwa in den Tierfresken von Altamira, die oft mit einem prähistorischen Impressionismus verglichen worden sind, oder in den schwedischen Felsbildern der Bronzezeit, etwa zwei Jahrtausende vor unserer Zeit, die auf geradezu expressionistisch, oft sogar futuristisch anmutenden Grundlagen den Eindruck der Bewegtheit hervorrufen. Wenn diese Künstler vor vielleicht zwei Jahrtausenden ein Tier oder einen Menschen bildlich darstellen wollten, so haben sie ihre Kunstobjekte nicht nur einmal gezeichnet, sondern mehrere Male, beispielsweise ein Tier jedes Mal anders, in einem anderen Bewegungsstadium, in einer anderen Phase, dargestellt, etwa so, wie wir sie später bei den photographischen Reihenaufnahmen eines Demeny oder Marey wiederfinden.
In den Steinplatten des Kivikmonuments in Schonen ist eine Prozession dargestellt, bei der Menschen, Wagen und Tiere einander linear geordnet folgen, und durch dieses primitive Kompositionselement (deren lineare Wiederholung) entsteht denn auch nicht nur der Eindruck der Zusammengehörigkeit, sondern tatsächlich auch der der Bewegung. Ähnliche Eindrücke gewinnt man bei vielen Reliefs Alt-Ägyptens (drei Jahrtausende vor unsere Zeit), der altindischen und der griechischen Kunst (wie etwa bei dem Parthenonfries mit seiner linearen Zeit-Raum-Komposition und ihrer hochentwickelten Rhythmik).
Ohne den vieltausendjährigen Wunschtraum der Menschheit, die Zeitkordinate in der Fläche darstellen und Bewegungen auf rechteckiger Fläche wiedergeben zu können, wäre das, was dann viel später als Spielzeug, Zaubertrick oder Kuriosum in die Geschichte der Technik eintrat, in diesem Anfangszustand verblieben und hätte niemals als echte Großmacht der Erde erobert. Später finden sich Aufzeichnungen Titus Luccritius Carus', die in ihrer Art einzig sind und die geradezu als die Vorläufer der Entdeckung des stroboskopischen Prinzips bezeichnet werden können, das noch heute vielfach Anwendungen findet, wenn es sich darum handelt, Bewegungsvorgänge zu studieren. Die fragliche Stelle lautet:
- „Übrigens wundere dich nicht, daß Bilder sich scheinen zu regen, Regelmäßig auch die Arme und die anderen Glieder zu werken. Eines (der Bilder) verschwindet, ein andres in anderer Stellungen Tritt an der Platz, und das erstere scheint die Gebärde zu wechseln, denn, wie man wohl einsieht, vollzieht dies äußerst geschwind sich.“
Daraus folgert Sachers:
- „Es scheint mir zweifellos, daß Titus Lucretius Carus, der von 99 bis 65 vor unsere Zeitrechnung lebte, zum mindesten die Grundsätze der Wiedervereinigung von Reihenbildern kannte, wenn er nicht sogar einen Apparat besaß, um diesen Versuch durchzuführen.“
An diesen Apparat glaube ich nicht, weil einmal die Verse des Lucretus Carus sich nicht auf kinematische Dinge, sondern nur auf die Prüfung der Theorien über Träume und ihre Gestaltung durch die Aufeinanderfolge verschiedener ruhender Phantasiebilder beziehen, das andere Mal weil es unbegreiflich wäre, daß ein so unterhaltender Apparat nicht von der Renaissance wieder ausgegraben worden ist. Es wurde überhaupt erst nach dem Aufschwung der wissenschaftlichen Physik ganz allmählich die klare Erkenntnis des stroboskopischen Effekts gewonnen.
Es liegt nahe, daß wir modernen Menschen von heute natürlich nur von der physikalischen Erkenntnis her an die Probleme des Urfilms herantreten: Man stelle sich einmal vor, man habe Zwei Zauberlaternen (Laterna magica) und arbeitete mit diesen beiden Bildwerfern mit zwei Diapositiven. Das eine Diapositiv zeigt einen auf der Spitze stehenden Winkel, das andere eine senkrechte stehende Linie. Unsere beiden Laternen seien nun so aufgestellt, daß sie beide auf der Projektionsleinwand das gleiche Feld beleuchten, die projizierten Bilder sich also decken.
Wenn man diese beiden Figuren, den Winkel und die gerade Linie, abwechselnd in angemessenen Zwischenräumen auf die gleiche Stelle projiziert, so wird man zum größten Erstaunen nicht mehr zwei Figuren, sondern nur noch eine einzige Figur, die sich in deutliche Bewegung befindet, beobachten können: Einen Winkel nämlich, der zu einer Linie zusammenklappt und wieder zum Winkel auseinander fällt.
Der Mensch bringt bei diesem einfachen Experiment ein Bild mit dem anderen, folgenden, durch seine räumlichen Eigenschaften genügend ähnlichen Bild in logischen Zusammenhang. Das angeführte ganz einfache Experiment zeigt also, daß bereits zwei an ein und der selben Stelle nacheinander auftauchende Bilder ausreichen, um in unserer Wahrnehmung als einziges, und zwar sich bewegendes Bild identifiziert zu werden. Man nennt diese Identifizierung in der physikalischen Wissenschaft den „stroboskopischen Effekt“, und nur wo solche Identitätstäuschungen der Wahrnehmung vorliegen, kann von kinematographischen Erscheinungen die Rede sein.
Der stroboskopische Effekt wird durch einen psychologischen Vorgang ausgelöst, ein physiologischer spielt für die Kinematographie aber auch eine wichtige Rolle. Die Kinomathographie basiert nämlich ferner auf dem optischen Gesetz von der Nachwirkung des auf die Netzhaut des Auges treffenden Lichteindrucks. Das heißt: Wird ein Bildeindruck, den unser Auge empfängt, plötzlich unterbrochen (etwa durch Schließen der Augen) so erlischt nicht auch gleichzeitig die Empfindung, sondern bleibt noch eine bestimmte Zeit bestehen, wenn auch dunkel und verschwommen.
Man bezeichnet die Nachdauer der Empfindungen als Nachbildwirkung, hier ein paar ganz einfache Beispiele: Wir alle haben gewiß schon einmal in ein Schaufenster gesehen, wie eine weiße runde Pappscheibe mit einen schmalen farbigen Sektor rotiert, und dabei den Eindruck gewonnen, als ob die drehende Scheibe vollkommen farbig ist. Dieses physikalisches Phänomen hat schon Ptolemäus in seinem Werk „Optik“ um 150 unserer Zeitrechnung beschrieben. Es muß gerade unbegreiflich erscheinen, daß die Beobachtung des ägyptischen Gelehrten gänzlich begraben und in den folgenden anderthalbtausend Jahren auch nach keiner einzigen Richtung hin weiter ausgebaut worden ist, denn wirklich erst nach 1.500 Jahren gewann der Physiker d`Arcy im Jahr 1654 dieselben Ergebnisse, als er im dunklen Raum ein Stückchen glühende Kohle an einem Draht im Kreise schwang.
Er sah bei diesen Experiment nicht mehr das einzelnen Stückchen Kohle als glühenden Punkt, sondern zuerst eine glühende gebogene Linie und mit immer schnelleren Drehungen schließlich einen glühenden, in sich geschlossenen Kreis.
Der einfache Versuch lehrt also, daß das Nachbild des Objekts an einer bestimmten Stelle genauso lange bleibt, wie die glühende Kohle zu einer vollen Umdrehung braucht.
Die Dauer kann man berechnen: Die Netzhaut im Auge empfängt einen Lichteindruck, den das Auge nicht sofort verabschiedet, sondern eine zwanzigstel bis eine halbe Sekunde festhält. Infolge dessen vermengen sich die rasch hintereinander folgenden Eindrücke mit den Nachwirkungen und erwecken ein geschlossenes Bild der gesamten Eindrücke. Professor Tindall hatte experimentell festgestellt, daß die „Persistenz der Geschichtswahrnehmung“ für den Durchschnittsmenschen etwa 1/16 Sekunde währt. Darauf fußt das ganze Wesen der Kinematographie, die an 16 Bildern pro Sekunde als Norm festhält.
Es kommt also auf weiter nichts an, als von einer Bewegung, die sich in einer Sekunde abspielt, 16 Bilder – entweder Zeichnungen oder Photographie – herzustellen und diese 16 Bilder in einer Sekunde dem Auge in irgendeiner Form wieder wahrnehmbar zu machen. So kann man lebende Bilder herstellen und zeigen. An lebenden Bildern hatte naturgemäß zuerst die Spielzeugindustrie Interesse. Nachdem der englische Astronom Herschel mit einer rotierenden Geldmünze gespielt und dabei beobachtet hatte, daß er von der als Kreisel sich drehenden Münze stets beide Seiten zur gleicher Zeit sah, konstruierten in der bekannten Duplizität der Ereignisse im Jahre 1825 Dr. Paris und Dr. Fitton das Thaumatrop oder die Wunderscheibe.
Die Wunderscheibe besteht aus einer Pappscheibe, die auf jeder Seite ein Bild aufweist, z. B. einen Vogel auf der einen Seite und einen leeren Käfig auf der anderen oder einen Soldaten auf der Vorderseite und ein leeres Schilderhaus auf der Rückseite.
Wird eine solche Scheibe an zwei Fäden rasch gedreht, so verschmelzen die Bilder zu einem einzigen Eindruck: Der Vogel sitzt im Käfig, der Soldat steht im Schilderhaus. Die Wunderscheibe zeigte allerdings nur ein stehendes Bild und noch nicht das Merkmal der Bewegung. Einige Jahre später tauchten Apparate auf, die den Eindruck der Bewegung hervorriefen und die alle unter dem Namen „Lebensrad“ zusammengefaßt werden können. Der belgische Physiker Plateau nannte seine Erfindung Phänakistoskop (1829), der Österreicher Stampfer konstruierte 1829 das Stroboskop, und Horner brachte 1833 oder 1834 das Zoetrop oder Dädaleum heraus.
Die am meisten verbreitete Form des Lebensrades ist die 1833 von Horner erfundene Wundertrommel. Die Bilder sitzen hier in einem mit Schlitzen versehenen Hohlzylinder, der um eine senkrechte Achse gedreht wird. Ein Blick durch den mit Schlitzen versehenen Hohlzylinder, der um eine senkrechte Achse gedreht wird, zeigt auch hier das bewegte Bild. Diese Wundertrommeln verschiedenster Konstruktionen haben eine weitere Verbreitung gefunden und sind wohl auch jetzt noch ein beliebtes Spielzeug.
Der deutsche Erfinder Ahnschütz vervollkommnte schließlich die Wundertrommel zu einem Schnellseher oder Tachyskop, bei dem die Bildstreifen selbst mit Schlitzen versehen waren und den Mantel der Trommel bildeten. Im Jahre 1872 tauchte das von Reynaud erfundene Praxisinoskop auf, eine Verbindung der Wundertrommel mit dem Lebensrad. Bei diesem Apparat fällt der Blick durch eine Spalte fort, denn die Bilder werden im Spiegel betrachtet, wobei jedes Phasenbild seinen eigenen Spiegel hat.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch, daß im Jahre 1866 der Taschenkinematograph (Daumenkino)aufkam, ein Büchelchen aus gedruckten Bildern, die durch Abknipsen mit dem Daumen oder einem Metallplätchen zum gleichmäßigen Abblättern gebracht wurden. Ein wesentlich vervollkommneter Taschenkinematograph ist das Motoskop, das lange noch in Passagen, Bahnhöfen usw. als Schauapparat stand und für 10 Pfennig „pikante Szenen“ zeigte.
Wenn ich im Rahmen einer Geschichte der Kinematographie bereits von dem Mutoskop berichtet habe, so bin ich unwillkürlich in die wichtigste Etappe der gesamten Entwicklung der Kinematographie hineingeraten. Alle die kleinen Spielzeuge, wie Thaumatrop, Lebensrad, Wundertrommel und wie sie alle heißen, verwendeten als Bildmaterial ausschließlich gezeichnete oder gemalte Bilder oder, wie in einer französischen Wundertrommel, plastische Modelle, z. B. von einer fliegenden Taube.
Mit diesen gezeichneten, gemalten oder plastischen Phasenbildern konnten naturgemäß nur ziemlich primitive, also wenig lebendwahre Wirkungen erzielt werden. Ausbaufähig und wertvoll konnten alle diese kinematographischen Primitivitäten erst durch hinzuziehen des photographischen Prinzips werden.
Tatsächlich versuchte man schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Phasenbilder auf dem Wege der Zeitaufnahme zu photographieren. Wirklich interessant wird die Entwicklung aber erst seit der Erfindung der Momentphotographie, und man kann hierbei ganz deutlich drei Meilensteine erkennen, bei denen man in einer geschichtlichen Betrachtung der Kinematographie haltmachen muß.
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts verwendete der in Kalifornien lebende englische Tierzüchter und Amateurphotograph Maybridge 24 bis 30 photographische Kameras, um die Bewegung eines Pferdes in Silhouetten hintereinander festzuhalten. Muybridge baute in einem zu diesem Zweck errichteten Gebäude bis zu 30 Kameras in einer Reihe nebeneinander auf und spannte quer über die Laufbahn des Pferdes 30 dünne Schnüre, die bei Berührung oder beim Zerreißen die Verschlußkappe der Kameras nacheinander auslösen und dadurch Momentaufnahmen von einem galoppierenden Pferd veranlassen sollten. Muybridge ließ ein Pferd über die Bahn galoppieren, wodurch ein Photoapparat nach dem anderen in Tätigkeit gesetzt wurde. Das Pferd selbst löste also die Verschlüsse nacheinander aus, so daß eine Serie von 24 photographischen Momentaufnahmen in Zwischenräumen von 1/25 Sekunden hergestellt wurde.
Besonderes Aufsehen erregte damals Muybridges Bewegungsstudie des seinerzeit berühmten Rennpferdes „Salli Gardner“ im Galopp, mit der klar und deutlich bewiesen werden konnte, daß ein galoppierendes Pferd wirklich in bestimmten Augenblicken in der Luft schwebt. Wohlverstanden, es handelt sich hier nur um photographische Ausnahmen auf Platten, deren Bilder nicht etwa vorgeführt, sondern zunächst nur in der Hand studiert werden konnten.
Man faßt solche Aufnahmen unter dem Begriff Serien oder Reihenaufnahmen zusammen. Die Vereinigung und Projektion dieser Bilderreihen fand erst einige Jahre später statt, wie später auch die Muybridgeschen Aufnahmen mit großer Reklame durch ganz Europa wanderten und in allen Großstädten vorgeführt werden. In der „Urania“ zu Berlin sahen im Jahre 1891 voller Begeisterung die Muybridgeschen Aufnahmen: Moltke, Menzel, Knaus, Begas, Helmholtz, Siemens. Die auf Muybridges Experiment folgenden 20 Jahre kamen über die Reihenaufnahmen nicht hinaus, wenn auch mannigfaltige andere Methoden ausgebaut wurden. Besonders weit brachte es auf diesen Gebiete der Vater der wissenschaftlichen Kinematographie, der französische Gelehrte Marey.
Zwischen 1876 und 1882 lagen die wichtigsten Arbeiten der französischen Physiologie, die schließlich mit der Konstruktion der photographischen Flinte einen gewissen Höhepunkt erreichten. Marey widmete seine Studien vornehmlich der Bewegungsanalyse von Menschen und Tieren im Gehen, Laufen, Springen, Fallen usw., er machte zu diesem Zweck die Einzeleinheiten des Vogelfluges. Da er einen fliegenden Vogel mit der schweren photographischen Kamera nicht verfolgen und auch die Methode von Muybridge aus leicht erklärlichen Gründen hierbei nicht anwenden konnte, baute Marey eine sogenannte photographische Flinte mit einer kleinen photographischen Platte, auf der er 12 Bilder von etwa einen Zentimeter Höhe unterbrachte.
In der Laufmündung der photographischen Flinte vorne steckte er ein Objektiv mit ziemlich langer Brennweite. Das Abfeuern der Flinte (Uhrwerk) verursachte die ruckweise Umdrehung dieser photographischen Platte innerhalb einer Sekunde, wobei 12 Bilder in der Sekunde entstanden.
Das Arbeiten mit dieser Flinte stellte aber trotz das erheblichen Fortschritts ein umständliches und wenig befriedigendes Verfahren dar, besonders deswegen, weil die Bilderzahl auch hier noch recht beschränkt blieb. Aber Marey gelang es, auch diese Mängel zu beseitigen. Er verwendete zur Aufnahme schließlich lange, biegsame Bänder aus Papier mit lichtempfindlicher Schicht anstelle der photographischen Glasplatte. So entstand im Jahre 1888 ein brauchbarer Kinematographischer Filmapparat. Damit stehen wir an der Schwelle der modernen Kinematographie.
Aus den bisherigen Ausführungen könnte man leicht den Eindruck gewinnen, als ob nur im Ausland an der Entwicklung des lebenden Bildes bis zum heutigen Film gearbeitet wurde.
Auch in Deutschland war man nicht untätig. Der erste Deutsche, der geradezu vollendete Reihenbilder schuf, war Ottomar Anschütz. Er baute 1885 in ähnlicher Weise wie Muybridge eine Batterie von Kameras nebeneinander auf und benutzte vor allen Dingen schon damals Objektive von langer Brennweite, um aus großer Entfernung photographieren zu können. Außerdem wandte er als erster „Schlitzverschlüsse“ mit elektrischer Auslösung an, die eine gute Ausnutzung des Lichtes und kurze Expositionszeiten gestatteten. Diese photographisch wertvollen Reihenaufnahmen führte Anschütz in dem von ihm erdachten „Elektrischen Schnellseher“ vor, der aus einem etwa 1½ Meter breiten Rad bestand, auf dessen Rand die einzelnen auf Glas oder Zelluloid kopierten Reihenbilder aufmontiert waren. Durch Drehung des Rades wurden die Reihenbilder in rascher Aufeinanderfolge hinter einem Fensterchen durch Geißlerische Röhren hell erleuchtet und dem Publikum gezeigt. Bis zum Jahre 1888 mußten bei den Reihenaufnahmen eines Muybridge, Marey und Anschütz nasse Kollodiumplatten, später die neu erfundenen Trockenplatten Verwendung finden. Diese Platten sind bekanntlich aus Glas gefertigt. Der Laie wird sich ohne weiteres vorstellen können, daß es nicht so leicht ist, in einer Sekunde 26 Glasplatten vor das Objektiv der Kamera zu bringen und dann wieder verschwinden zu lassen.
Aus diesem Grunde mußte das Bestreben dahin gehen, die Verwendung der Photoplatte aus Glas aufzugeben und besseres an ihre Stelle zu setzen. Da der Papierstreifen von Marey allzu oft riß, benutzten Friese-Green 1889 als Erste das Zelluloid-Filmband zur Aufnahme und Wiedergabe. Der richtige Fortschritt liegt darin, daß das Zelluloid transparent und weit haltbarer ist als der lichtempfindliche Papierstreifen. Edison stanzte an den Rändern des Zelluloidbandes Löcher ein, um das Bildband notfalls durch Zahntrommeln fortbewegen zu können. So nähern wir uns dem eigentlichen Geburtsjahr des Kinematographen: 1895. Am 13. Februar 1895 wurde den Brüdern Lois und Auguste Lumière für ihre Erfindung „Photographische Reihenaufnahmen auf Zelluloidstreifen“ das Patent erteilt. Die Gebrüder Lumière kombinierten darauf in Lyon unter Ausnutzung aller bisherigen Erfindungen einen Apparat, der endlich eine wirkliche Benutzung in der Praxis ermöglichte und auch schnell volkstümlich wurde.
Am 22. März 1895 führten die Lumières ihren „Bioscope“ der Sociète de L’Encouragement à l’industrie, am 28. Dezember 1895 in dem Kellergeschoß des damaligen Grand-Café (jetzt Hotel Scribe, Stand: 1934) auf dem Boulevard des Capucines erstmalig gegen Entgelt regelmäßig öffentlich vor. Die verwendeten Bildstreifen weisen im Vergleich zu denen Edisons Unterschiede und teilweise eine unabhängige Gestaltung auf. Der Siegeszug des Films und des Kinos begann.
Oskar Meßter
Im Jahre 1896 trat Oskar Meßter, der Vater der deutschen Kinotechnik, auf den Plan. Anfang 1896 las Meßter in den Zeitungen, daß die Gebrüder Lumière in Paris große Erfolge mit ihren lebenden Photographien hatten, doch konnte Meßter über die Pariser Apparate nichts in Erfahrung bringen, weil die Erfinder alles in strengstes Geheimnis hüllten und erst recht nicht ihre Apparate aus der Hand gaben. Im Mai 1896 gab es in Berlin außer dem Lumiéreschen Apparat noch zwei andere (einen aus London, einen anderen aus Paris), die aber nicht recht funktionierten, und von Amerika, England und Frankreich her kamen nur spärliche Mitteilungen über das Wesen der „ruckweisen Fortbewegung“ des Filmbandes.
Meßter mußte also selbst erfinden und hat dann auch wirklich dem Kinematographenapparat die Seele eingehaucht. Bei den meisten Apparaten wird das Filmband durch den Apparat gezogen, von einer Trommel abgerollt, auf eine zweite aufgerollt. Das Band muß aber ruckweise transportiert werden, weil es doch im Bildfenster, und zwar 1/16 Sekunde, für die Projektion erhellt werden muß. Während dieser Beleuchtung oder besser für diese Durchleuchtung muß das Filmband 1/16 Sekunde stillstehen. Für diesen ruckweisen Filmbandtransport erfand Oskar Meßter die Malteserkreuzschaltung, die übrigens – allerdings in anderer Form – seit A. B. Browns Patent aus Amerika 2869, später von D.R.D. von 1894 zur Fortschaltung von lebenden Bildern bekannt war und deren Hauptbestandteil die Form des Ordensabzeichens der Malteser aufweist.
Nach der Erfindung des Malteserkreuzes baute Meßter im Jahre 1896 mehrere Projektionsapparate seines Systems und konnte sie auch nach dem Ausland verkaufen. Mit seinen Modell war ihm die erste Konstruktion gelungen, auf der sich eine fortlaufende Apparatefabrikation aufbauen konnte. Man darf daher wohl mit Recht den 3. Juni 1896 als den Geburtstag der deutschen Kinoindustrie bezeichnen, da an diesem Tage Meßter den Verkauf seines ersten Projektors in sein Geschäftsbuch eintrug und mit diesen Datum die regelmäßige, gewerbsmäßige Herstellung und der handelsmäßige Vertrieb dieses neuen Artikels einsetzten. Seit dem Sommer 1896 trug sich Oskar Meßter nach der gelungenen Konstruktionen des Projektionsapparates mit dem Gedanken der Herstellung eines Aufnahmegerätes. Ihm wurde klar, daß man auch für die Aufnahme perforierte Filmbänder verwenden müsse und daß die Benutzung eines Schaltmechanismus, wie er in seinem Projektionsapparat vorhanden war, auch für die Aufnahme zum Ziele führen müßte.
Da aber perforierte Filmbänder in einer Breite von 35 Millimetern in Berlin nicht zu erhalten waren, entschloß sich Meßter, seine Vorversuche, die lediglich des Ausprobierens des Prinzips dienen sollten, kurzerhand mit unperforierten Filmbändern auszuführen.
Da Meßter sich aus dem Auslande keine Filmkamera beschaffen konnte, mußte ihm sein künstlich verdunkeltes Zimmer als Kamera dienen. Er befestigte auf einem schweren Bock das Getriebe seines Vorführungsapparates und rückte das Ganze dicht an das durch Bretter verkleidete Fernster heran.
In diesen Brettern befand sich eine Öffnung, die Aussicht auf die Gleise der Stadtbahn bot, eine zweite Öffnung mit einer roten Glasscheibe diente als Beobachtungsloch. So hat Meßter sein ganzes Zimmer als erste Aufnahmekamera benutzt. Beim Herannahen des Zuges begann er, das eingesetzte Filmband durchzudrehen, eine ziemlich schwierige Arbeit, da ja sein Negativfilm noch keine Perforation aufwies.
Das so belichtete Filmband wurde dann von Oskar Meßter in einer Waschschüssel entwickelt, und das Resultat seiner Arbeit war eine für damalige Ansprüche sehr gut gelungene Filmaufnahme. Oskar Meßter war an diesem Tage Filmproduzent geworden.
Der gewerblich wirklich brauchbare Kinematographische Aufnahmeapparat wurde also ohne ernsthafte Hilfestellung des Auslandes in Berlin erfunden. Er ist im Prinzip nichts weiter als die Verbindung eines gewöhnlichen photographischen Apparates mit einer der oben erwähnten Konstruktionen zur ruckweisen Fortbewegung des Filmbandes. Damit ist der ganze technische Vorgang einer Filmaufnahme klargestellt. Im November 1896 ging Meßter dann auch mit seinem selbstkonstruierten Aufnahmeapparat mutig an die gewerbsmäßige Herstellung von Kinofilmen heran und drehte als erste Filmaufnahmen die Berliner Reichsbahn und eine Berliner Straßenszene. Dann folgten 1897 teils aktuelle, teils Sportbilder, ganz großen Erfolg erzielte Oskar Meßter mit einer Aufnahme Wilhelms II. in Stettin (1897). Ebenso begeistert war das Publikum von dem Film „In Friedrichruh“. In diesem Filmchen sieht man den Reichskanzler Bismarck mit seiner berühmten deutschen Dogge durch den Park von Friedrichtsruh wandeln. Schon hier beginnt aber die Illusion, denn der Wandelnde war gar nicht Bismarck, sondern wurde von einen Ungenannten mit Bismarckmaske gemimt.
1897 erweiterte Oskar Meßter seinen Betrieb zu einer richtigen Filmfabrik mit einem kleinen Aufnahmeatelier, in dem die ersten Kunstlichtaufnahmen für die Filme „Vom Ernst zum Lachen“, „Schnellmaler Clown Jigg“ und „Im Atelier“ gedreht wurden. Bald folgten Kostümfilme, z. B. „Friedrich der Große beim Flötenspiel“ und „Napoleon übergibt Bismarck nach der Schlacht bei Sedan seinen Degen“. Als Darsteller verpflichtete Meßter, soweit nicht die Familienmitglieder selbst auftreten mußten, die damals sehr populären Komiker Steidl, Otto Reutter und Henry Bender. Die Gage wurde gezahlt in einen guten Frühstück und gelegentlichen kleinen Geschenken, später gab es 20 Mark pro Aufnahmetag. Die deutsche Filmindustrie verließ die Wiege zu den ersten Kinderschritten.
Aus den Kinderjahren des Films
Oskar Meßter hat in allen seinen Erklärungen den Beginn seiner eigentlichen Erfindertätigkeit in das Jahr 1896 verlegt. Am 1. November 1895 aber haben schon die Brüder Max und Emil Skadanowsky im Berliner Wintergarten zum ersten mal ihren „Bioscop“ gezeigt: Hier wurden Varietészenen, die mit einer bereits 1892 selbstgebauten Kamera aufgenommen worden waren, mit eigenen Projektionsapparaten als lebende Bilder auf die Leinwand geworfen. Dabei waren Max Skladanowsky der Techniker, sein Bruder Emil Skladanowsky der Schausteller, ein dritter Bruder Eugen Skladanowsky der Mime. Diese erste öffentliche Filmvorführung in Berlin fand also zwei Monate vor der Vorführung der Gebrüder Lumiére im Pariser Grand-Café statt. Ferner ist für die Erfindergeschichte der Kinematographie wichtig, und es kann nicht deutlich und oft betont werden, daß die Skladanowskys als ganz einfache Leute aus dem deutschen Volk auf eigene Faust eine Erfindung gemacht haben, die uneingeschränkte Achtung und Anerkennung verdient.
Wie Carl Nießen einmal mit Recht schrieb, gehört an den Berliner Wintergarten sehr bald eine Tafel, die für alle Zeiten verkünden sollte:
- „Hier fanden am 1. November 1895 die ersten öffentlichen Filmvorführungen in Europa durch den selbständigen deutschen Erfinder Max Skadanowsky statt.“
Der Wintergartenprojektor von 1895 bestand aus zwei wechselweise arbeitenden Projektoren, auf deren Filmbänder die einzelnen Bewegungsphasen irgendeines Vorgangs verteilt waren. Während ein Filmbild projiziert wurde, rückte in dem abgedunkelten zweiten Projektor das nächste Filmbild nach. Die Skladanowskys entwickelten diesen nicht gerade sehr gut funktionierenden Doppelprojektor nicht weiter und fanden somit auch keinen Eingang in die Geschichte der Kinotechnik. Im August 1896 beendeten sie ihre Vorführungen mit ihrem 95er Apparat, da die primitiven Bilder allzuoft rissen und der Apparat so sehr zitterte, daß die vorgeführten Bilder den Eindruck von Schattenspielen machten.
Im Februar 1897 tauchten die Gebrüder Skladanowsky in Stettin auf und zeigten Filme, die sie im Herbst 1896 gedreht hatten. Diese Bilder wurden mit einem Projektor vorgeführt, der das bekannte Malteserkreuzgetriebe aufwies, womit also die Gebrüder Skladanowsky wieder bei der Erfindung von Oskar Meßter angelangt waren, von dem allein aus die technische Entwicklung kräftig und praktisch gefördert wurde, während die Skadanowskys sich dem Vertrieb von sogenannten Taschenkinematographen zuwendeten.
In Deutschland sind also die ersten Wiegenfilme als neue Unterhaltungskunst im Varietè am Schluß des Programms, sozusagen als Rausschmeißer, zu sehen gewesen. Dann erst kam das Kino. In Berlin wurde das erste Kino im April 1896 Unter den Linden 21 eröffnet. Jeder einzelne Film des Programms war 15 bis 20 Meter lang und lief ¾ Minuten. Nach drei Monaten war das Kino bereits bankrott und mußte verkauft werden. Im Dezember 1896 eröffnete man auf der Friedrichsstraße das „Edisontheater“, das aber auch sehr bald seine Tore schließen mußte. Die ersten Schritte des deutschen Kinos führten über Dornenwege. Etwa acht Jahre nach der ersten Bioscopvorführung Skladanowskys im Wintergarten begann die eigentliche Blütezeit der Wanderkinos.
Bevor man überhaupt daran denken konnte, bodenständige Lichtspieltheater in allen größeren Städten zu errichten, war das Kino lediglich ein Geschäft für reisende Schausteller, die mit ihren Wohnwagen von Markt zu Markt und von Stadt zu Stadt fuhren. Diese Schausteller sind die eigentlichen Pioniere der Kinematographie. In den ersten Anfängen waren es armselige stickige Bretterbuden und Leinwandzelte, in denen man bei elendem Kalklicht die kurzen Filme abrollte. Der „Hamburger Dom“, der „Bremer Freimarkt“, die „Dresdner Vogelwiese“, das „Münchener Oktoberfest“, die „Leipziger Messe“ und das „Nürnberger Volksfest“ waren die großen Auswertungsstätten der damaligen Filmchen, und daneben liefen sie auf den Märkten und Schützenfesten der kleinen Ortschaften. In den Wanderkinos waren die Filme schon 20 bis 60 Meter lang, bald wagte man sich an 120 Meter lange „Monumentalfilme“ heran! Aber noch immer wurden bis zu 15 Filme in einem Programm heruntergerasselt:
- Ankunft und Abfahrt eines Expreßzuges
- Panorama vom Atlantik-City (Seebad)
- Der unglückliche Forellenfang am Wildbach
- Eine Wasserrutschpartie in Chikago
- Die Schlittschuhläufer
- Déflé de la Garde Republika á Paris
- Der horible Grimassen- oder Fratzenschneider
- Der Kampf ums Dasein oder Es ist besetzt
- Der wunderbare Fischfang
- Die Folgen eines Streites
- Der flinke Rettungspolizist am Hafen
- Eise durch die Schweiz im Sommer
- Die geföbbte Pförtnerin und der übergossene Briefträger
Da war wenigstens Abwechslung im Programm (1907). Auch die Weltgeschichte sorgte immer für etwas neues: der Burenkrieg, die Ermordung der Königin Draga, Paul Singers Tod, Zeppelins Unglück u. a. m. Amerikanische, englische, französische, italienische, dänische Filmfabriken schickten in jeder Woche Zehntausende von neuen Filmen nach Deutschland.
Etwa um 1904 war ein ernster Wettbewerber des Wanderkinos mächtig geworden: das Ladenkino. Die ersten bodenständigen Filmschaustätten waren mehr als dürftig: ein leerstehender Laden, ein paar aufgestellte Stuhlreihen, eine schwankende Leinwand, marktschreierisch bunte Plakate, und fertig war der „Kientopp“. Mutter saß an der Kasse, Vater riß Billette ab und sorgte für Ordnung, der Sohn spielte drinnen Klavier oder zog das Grammophon auf, Familienunternehmen.
Ein paar Jahre später wurden die Ladenkinos in theaterartige Räume verpflanzt und dabei selbst in Stockwerke verlegt: das Lichtspieltheater. Nun entbrannte der Kampf zwischen Wanderkino und stehendem Kino auf der ganzen Linie, und kurz vor dem Ersten Weltkriege hatte das letztere fast ganz gesiegt. Es war eine tolle Zeit, die sich die Jugend von heute gewiß nicht mehr vorstellen kann. Bis 1907 gab es noch keine erklärenden Zwischentitel im Film, so daß der Inhalt eines Films von einem besonderen „Erklärer“ erläutert werden mußte. Er goß geschwollene oder drastische Erläuterungen über das harmlose Publikum, undeutlich in der Aussprache, unverständlich in der Darlegung, oft mit falschen Betonungen, und was das Schlimmste war, der Rezitator kam mit seinen Ausführungen meist entweder zu früh vor dem Bild, und wenn schließlich die Luft im kleinen Ladenkino zum Ersticken trocken war, tastete sich der Erklärer im Dunkeln zu seiner Kaffeekanne durch und ließ seine Bilder schnöde im Stich.
Es gab sehr witzige Erklärer, und so kam es oft vor, daß die Worte des Erklärers dem Publikum mehr Spaß machten als der Film selbst. Leute mit Mutterwitz hatten hier ein dankbares Bestätigungsfeld, und es ist verständlich, daß gerade unter den Berlinern, die ja im allgemeinen den Mund auf dem rechten Fleck haben, sich manches „Original“ von Erklärer fand. So gab es einmal einen Film aus dem Leben der Königin Luise. Auf der Leinwand erschien die Königin nach der Schlacht bei Jena, und sie weinte bitterlich.
„Und nach der Schlacht bei Jena“, ließ sich der Erklärer vernehmen, „da weinte nun die Königin Luise furchtbar.“ Und S. M. der König, umfaßte liebevoll seine Gemahlin, J. M. die Königin, und tröstete sie und sagte: „Na laß man, Luise, es kommt ja noch die Schlacht bei Leipzig, da werden wir's dem Napoleon schon geben!“ Das Programm war zu Ende. Im Saal wurde es allmählich hell. Die Liebespaare rückten auseinander, „Billett D abgelaufen“, schmetterte der Erklärer in den Saal. Das war neben seiner „literarisch-künstlerischen“ die materiell-geschäftliche Funktion, die die Wichtigkeit der Stellung ganz besonders unterstrich.
Von 1907 an haben der Filmzwischentitel und die Begleitmusik den „Erklärer“ hier und dort entbehrlich gemacht. Man hat sofort übertrieben: um 1910 wurden Filme hergestellt, die gut zur Hälfte aus Titeln bestanden. So war es klar, daß der Erklärer aus den größeren Kinos verschwinden mußte. Und dann hat ihn schließlich auch die Kinomusik ersetzt. Die Entstehung der Kinomusik bildet ein Kapital für sich. Ganz zu Anfang sollte mit der Musik nur Radau gemacht werden, um die Kinobesucher vom Surren des Vorführungsapparates und Knistern des Stullenpapiers abzulenken, oder die Musik war Beruhigungsmittel und Pausenfüllung, wenn der Film riß, was alle paar Minuten passierte. Musik: zuerst das Grammophon, dann die Drehorgel, dann das Orchestrion, bald der Spieler auf dem verstimmten Klavier, der heiseren Geige oder dem wimmenden Harmonium, schließlich das verdeckt eingebaute Salonorchester.
So wurde der Film musikalisch illustriert – und oft höchst individuell. Der eine kündigte einen Kuß mit einem Tusch an, ein anderer bereitete durch weiche Melodien auf diesen Höhepunkt vor, und wenn die rasende Fahrt des amerikanischen Expreßzuges mit betäubendem Trommelwirbel begleitet wurde, dann erfaßte alle Zuschauer ein Gruseln, und Frauen und Kinder hielten sich angstvoll die Augen zu, weil sie tatsächlich glaubten, daß die Lokomotive aus der Leinwand heraus in die Zuschauermenge des Saales donnern würde. Und wenn Henny Porten sich im letzten Akt ins Wasser stürzten wollte und der Geiger dabei zu jämmerlich spielte, rief eine Stimme aus dem Publikum: „Henny, nimm den Geiger mit!“
Es gab 1920 schon eine deutsche Filmfabrikation. Unbeholfen, bescheiden, ärmlich. Der Regisseur und der Kameramann waren die buchstäblichen Allesmacher im Film. Es gab noch keine Filmarchitekten, keinen Hilfsregisseur, keinen Aufnahmeleiter. In der Ecke des Ateliers stießen zwei Wandkulissen zu einem rechten Winkel zusammen: das Interieur des Films. Alles wurde in vollstem Scheinwerferlicht gebadet, ohne Effekte und Nuancen in der Beleuchtung. Dazu ein fragmentarisches Manuskript, das nur der Regisseur, aber kein Schauspieler kannte. So drehte Otto Ripert, der älteste Regiepionier des Films, sein Filmdrama „Gelbstern“ in drei Tagen für sechshundert Mark, wobei die Hauptdarsteller drei und fünf Mark für den Tag bekamen. Gewaltiges Aufsehen erregte es, als eines Tages der Detektivdarsteller Ernst Reicher verkündete: „Ich bin sehr teuer, ich verlange fünfundzwanzig Mark pro Tag!“ So früh fing es mit Stargagen an.
Die Kinoreform
So weit war es also gegen 1911 gekommen. Der Film galt als ein Ausbund aller Schlechtigkeiten und Gemeinheiten. Kaum einer, der ihn in jenen Tagen nicht geschmäht hat. Alles war gegen den „Kintopp“: die Zensur und an ihrer Spitze der Fanatiker Dr. Brunner, die Polizei, die Feuerwehr, die Presse, die Sprechbühne, der Klerus, die Lehrer, die Eltern. Der Künstler sagte, der Film sei ein Attentat auf Nerven und Seele. Der Pädagoge nannte ihn einen Jugendvergifter. Die Moralisten hielten das Kino für den Treffpunkt zweifelhafter Existenzen, weil es noch viel zu sehr im Jahrmarktsrummel und in der Schaubudenmanier steckte.
Die schlimmsten Gegner von Kino und Film waren aber die Direktoren der Sprechbühnen. Schon seit 1908 mußten die Theaterdirektoren zusehen, wie von Jahr zu Jahr ihre Häuser mehr verödeten und die Abtrünnigen in die Kinos strömten.
So mußten die Kinos von den Sprechbühnen als lästige Konkurrenz angesehen werden, die man mit den verschiedensten Mitteln zu bekämpfen suchte. Zu Eisenach tagte der Bühnenverein: Graf Hülsen aus Berlin, Baron von Putlitz vom Stuttgarter Stadttheater, Graf Seebach vom Dresdener Stadttheater und viele andere Koryphäen der damaligen Theaterwelt, sie alle beschossen das Kino, hielten Gericht und brachen den Stab über den Film. Man bombardierte die Reichsregierung und die Regierung der Bundesstaaten mit Denkschriften und das Publikum mit Flugschriften, in denen der Rückgang des Sprechbühnenbesuchs dem Aufstieg des Kinobesuchs in Zahlen gegenübergestellt wurde.
Da geschah das große Wunder: Sprechbühnenschauspieler von Ruf und Format setzten sich für das Kino ein und mit ihnen sogar einige mutige Theaterdirektoren wie Richard Schulz vom Berliner Metropol-Theater, Dr. Carl Hagemann vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, der Meininger Hoftheaterintendant Max Grube u. a. m. Ihnen schlossen sich Schriftsteller an wie Hermann Bahr, Johannes Schlaf, Hans Heinz Ewers und andere. Björn Björnson nannte das Kino sogar das Theater der Zukunft. „Die Bühne von heute wird es überschatten.“ sagte er, „und die Kunst des Kinos wird noch weit höher sein als die der Bretter“, so prophezeite er. Die Fahnenflucht war von den Bühnendirektoren und Berufsverbänden nicht mehr aufzuhalten. Namhafte Künstler und Künstlerinnen wie Adele Sandrock, Ferdinand Bonn, Tilla Duriur, Albert Bassermann, Paul Wegener, Rudolf Schildkraut, Joseph Giampietro, Alfred Abel, Carl Clewing, Johanna Terwin, Max Pallenberg, Theodor Loos und viele andere waren endgültig für den Film gewonnen. Sie alle widmeten das Höchstmaß ihrer Kunst dem Kino: Das Schaubild wurde zur Seelenspiegelung. Das Gesicht des Films wurde ein grundsätzlich anderes, der letzte Rest Pantomime, der dem Film noch anhaftete, wurde ausgestoßen. Die Menschendarstellung im Film wollte jetzt endlich Kunst werden und sein ...
Das war die künstlerische Seite des neuen Problems. Hinzu kam die soziale: Wenn man früher von großen Schauspielern und ihren Rollen sprach, dann erzählte man sich von ihren Leistungen als Franz Moor oder Mephisto oder Richard dem Dritten oder König Lear usw. Diese Kunstleistungen wurden aber nur von den gebildeten und begüterten Ständen – meist in den Hoftheatern – erlebt.
Das war unsozial und ungerecht. Erst durch den Film entstand allmählich eine Umbildung des ganzen Volksgeschmacks, und erst durch den Film wurde die große schauspielerische Leistung auch dem kleinsten Mann aus dem Volke vermittelt. An dieser Tatsache kamen die Bühnendirektoren einfach nicht vorbei. Sie gaben ihren Widerstand auf, denn sie waren schließlich auch tüchtige Geschäftsleute: Durch das „demokratische“ Kinotheater wurden die Bühnenlieblinge populär und zogen ganz neue Besucher in das Sprechtheater, nicht zuletzt erwuchs dem Bühnenleiter eine große Ersparnis daraus, daß er seinem am Film tätigen Darsteller die Gage kürzte. Also schloß man Frieden. Am schwersten aber waren die Dichter und Schriftsteller für den Film zu gewinnen. Der Filmschriftsteller wollte und konnte zuerst nicht begreifen, daß er in der „neuen Kunst“ nicht mehr nur Künstler sein darf, der freischaffend produziert, wenn die Ideen aus Herz und Verstand zur Form streben, und daß er weiter nichts sei als ein winziges Teilchen eines riesenhaften industriellen Apparates, dem er als ein Rad von vielen eingegliedert wird. Die Haupträder beim Film sind nun einmal die photographischen Apparate, die Scheinwerfer, die Filmbauten, der Regisseur und die Schauspieler. Sie alle erst schaffen das Ganze. Das war für unsere literarischen Geistesheroen doch etwas ganz neues. Friedrich Freksa sagte damals:
- „Die Phantasie des Dichters fährt noch in der Postkutsche, während die Phantasie des Technikers schon im Aeroplan daher brauste. Darum soll die wundervolle Erfindung des Kinos nicht verdammt werden, sondern die Zeit soll danach streben, sie zu verdauen.“
Es spricht für die Gründlichkeit der deutschen Kultur, daß wir uns nicht mit demselben Tempo wie die Franzosen, Amerikaner und Italiener blindlings und gewissenlos auf das Drehen von Filmdramen stürzten.
Ernsthaftere Versuche mit dem Filmdrama in seiner primitivsten Form reichen in Deutschland kaum weiter als bis zum Jahre 1910/11 zurück. Wir haben bis dahin nur beobachtet, studiert, analysiert, Richtlinien aufgestellt, dann sind wir aber ins Zeug gegangen, um aus den Erfahrungen des Auslandes die Filmdramatik nach dem Besseren, Größeren und Künstlerischen hin zu entwickeln.
Im Jahre 1913 wurde der Ruf nach dem „Autorenfilm“ so laut, daß zunächst Paul Lindaus Bühnendrama „Der Andere“ durch Max Mack verfilmte wurde. Die Hauptrolle spielte kein anderer als Albert Bassermann.
Um dieses Ergebnis in seiner ganzen Tragweite zu würdigen, muß man wissen, daß sich Albert Bassermann bis in den Winter 1912 jeder Photographie abhold zeigte. Ja, er hatte damals einen Photographen, der ihn heimtückisch auf die Platte gebannt und diese einer illustrierten Zeitung verkauft hatte, gerichtlich belangt und die Vernichtung seines Konterfeis aufgrund des „Rechts am eigenen Bild“ verlangt.
Deshalb war es etwas beinahe Unfaßbares, daß ein Albert Bassermann, dem seine Kollegen neidlos die Nachfolge Ifflands, Devrients und Seydelmanns zuerkannten, in die Niederungen des „Kintopps“ hinabstieg. „Der Andere“ vermochte zum erstenmal Menschen aus geistigen Kreisen in das Kino zu ziehen. Die Premiere dieses Filmes am Nollendorfplatz in Berlin besitzt historischen Wert, schon weil sie die Geburtsstunde der Berliner Filmkritik ist, da sich kein Berliner Theaterkritiker die Gelegenheiten entgehen ließ, den großen Schauspieler Bassermann auf der Leinwand zu betrachten und kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die Kritiken waren zumeist nicht freundlich und enthielten alle den Vorwurf, daß es einen Künstler wie Bassermann degradiere, wenn er sich dem Kino verschriebe. Aber es zeugt für die bessere Einsicht Bassermanns in künstlerischen Problemen, wenn er sich durch diesen Tadel nicht bewegen ließ, dem Film den Rücken zu kehren, sondern bald darauf in dem Filmspiel „Der König“ abermals auf der Leinwand erschien. Max Marck gelang es im gleichen Jahr, den Schwankautor Franz von Schönthan für das Manuskript des schon recht groß angelegten Filmlustspiels „Wo ist Coletti“ zu gewinnen und den erfolgreichen Schwank „Die blaue Maus“ zu verfilmen. Auch der Film „Der Eid des Stephan Huller“ (erste Fassung) nach Felix Hollaenders bekanntem Roman entstand um jene Zeit. So waren wir in der Entwicklung deutscher Filmkunst ein tüchtiges Stück vorwärts gekommen.
Asta Nielsen
Am Anfang aller großen Filmerlebnisse – noch ein paar Jahre vor Albert Bassermann – steht die Dänin Asta Nielsen. Es gibt Biographien von Asta Nielsen, die gern mit der Erzählung beginnen, daß ihr Vater früh starb, die Mutter mit den Kindern allein in Sorge, Not und Entbehrungen zurückblieb und mit zusammengebissenen Zähnen für fremde Menschen Leibwäsche wusch, Tag und Nacht, still, ohne Klage. Das ist tragisch, aber für eine Lebensbeschreibung nicht wichtig. Als die Mutter starb, war Asta Nielsen 14 Jahre alt. Doch schon vor diesem größten Schicksalsschlag ihres Lebens war es ihr gelungen, auf die Bretter zu kommen. Asta Nielsen begann ihre Bühnenlaufbahn als Choristin und Elevin der Schauspielschule des Königlichen Theaters in Kopenhagen, weil im Chor die Plastik ihrer Bewegungen aufgefallen war. Bald konnte sie sogar in Schweden, Norwegen und Finnland große schauspielerische Triumphe feiern. Thomas Krag, ein bekannter norwegischer Schriftsteller, sah eines Tages Asta Nielsen auf der Kopenhagener Bühne und schrieb in seiner Bewunderung für sie ein Filmmanuskript. Asta Nielsen lehnte ironisch ab. Ihr Leben gehöre der Bühne – der Film sei doch wohl nur eine Spielerei.
Thomas Krag erzählte der jungen Künstlerin noch viel von der großen Zukunft des Films, von seinen Möglichkeiten – und daß sie eigentlich für den Film geboren sei. Auch von anderer Seite bestürmte man Asta Nielsen immer wieder mit dem Film. Da sagte sie eines Tages zu. Urban Gad, ihr erster Mann, drehte in Kopenhagen ein Filmdrama mit ihr. Die Bühnenlaufbahn wurde jäh abgebrochen.
Und die Propheten behielten recht. Astas Gebärdensprache siegte auf der ganzen Linie. „Der Abgrund“ war ein kaum geahnter Erfolg. Dänemark stand mit diesem Film in der ersten Front der internationalen Filmarbeit. Aber auch in Deutschland, in Frankreich, in England war man hingerissen. Die ganze Welt erlebte es als ein neues Wunder, daß von der weißen Leinwand plötzlich neues Leben herabstrahlte. Statt der kleinen Filmscherze, der kindischen und lächerlichen Einakter, plötzlich ein großer Dreiakter – der erste dieses Formates, den man dem Publikum vorzusetzen wagte. Die dänische Filmindustrie wußte nicht recht, was sie mit Asta Nielsen anfangen sollte. Diese Frau hatte zu kühne Pläne. Sie sprach zu viel vom Spiel vor der ganzen Welt. Eines Tages kam in Kopenhagen eine Telegramm aus Berlin an, von der deutschen Filmfabrik „Union“ (später UFA), ob Asta Nielsen in Deutschland arbeiten wolle. Nielsen entschloß sich sehr schnell. Sie ging nach Berlin, und kaum hatte die rührige deutsche Filmgesellschaft den ersten Asta-Nielsen-Film herausgebracht, wurde die Welt von einem förmlichen Asta-Fieber ergriffen. Es gibt wohl keinen Erdenwinkel, in den noch kein Nielsen-Film hingekommen ist. Ihr Name war einst im Munde von Leuten, die außer der Bibel gewiß kein Buch in der Hand gehabt haben. Ihr Bild hing im Unterstand der Weltkrieger, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite, und war für alle irgendwie Brücke zur Heimat ...
Es lag schon ein Geheimnis um diese ungewöhnlich schlanke, großäugige, verträumte Farau in Schwarz-Weiß-Wirkung, um jene Frau, deren Augen und Hände ebenso beredsam sind wie der Mund. Es kommt wirklich gar nicht darauf an zu wissen, in welchen Filmen sie gespielt hat. Das erzählen uns nur Biographie oder Lexika, wohl aber muß man wissen, daß ein Journalist einmalig im Auftrag seiner Zeitung ein Zuchthaus besuchte, und daß im Verlauf eines Gespräches ihm einer der Gefangenen erzählte, daß er von allen lebenden Köpfen unserer Zeit nur einen einzigen klar in Erinnerung habe: Asta Nielsen. Wenn alles still und er allein sei, sehe er ihr Gesicht an der Decke. Zu jener Zeit lief ein Asta-Nielsen-Film in einem kleinen spanischen Städtchen. Da saß alle sechs Abende ein Handwerker oder Gelegenheitsarbeiter, jedenfalls ein ganz einfacher Mann, im Kino und sah sich den Nielsen-Film an. Am siebenten und letzten Tage schoß er in die Großaufnahme Asta Nielsens, in das Filmgesicht auf der Kleinwand, und brach bewußtlos zusammen. Der Film war hier suggestiv miterlebtes Leben. Dieser Schuß auf die Leinwand muß daher als ein dokumentarisches Kompliment für den Film, den Film an sich, gewertet werden. Dieser Mann hat bestimmt den „Vamp“ in Asta Nielsen erschießen wollen.
Die Idee, der Filmkunst eine allegorische Statue zu widmen, tauchte nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder auf. Kein Geringerer als Altmeister Eberlein übernahm 1920 die Aufgabe:
- „Asta Nielsen soll in meinem Monument aus schwedischem Granit die Filmkunst verkörpern, und die unerforschlichen, schönen und tiefen Augen der Asta-Nielsen-Statue werden die Lichter des Frühlings, die heißen Strahlen des Sommers und die grauen Schatten der Wolken des Herbstes und Winters auffangen. Diese großen, allem schönen und Edlen weit geöffneten Augen, die sich die ganze Welt erobern haben, werden dann ewig im Denkmal sein.“
Der erste Vorstoß zur Filmkunst
„Alles ist gut, wie es der schaffende Geist des Menschen ersinnt, alles kann entarten unter der Zwecksetzung durch, das geschäftliche Ziel.“ Wenn diese sinngemäße Variante aus den Maximen des großen französischen Menschenerziehers Rousseau je eine Berechtigung hatte, dann im Hinblick auf den Film und seine Entwicklung. Es mußten endlich einmal Menschen voller Ideale und ohne Geldhunger, aber dafür voll von künstlerischen Ideen und Ambitionen an die Filmarbeit gehen. Dieses große Wunder geschah. 1913 fanden sich in den Neubabelsberger Ateliers vier Künstler zusammen: der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, der Schauspieler Paul Wegener, der Kopenhagener Regisseur Strellan Rye und der Filmoperateur Guido Seeber, die sich aus eigenem Antrieb zur Kollektivarbeit vereinten, um einmal ein wenig Geist und Kunst in den deutschen Film zu bringen. Besonders beschäftigte die Sinne Paul Wegeners die Idee, mit sich selbst als Partner spielen zu können und alle optischen Möglichkeiten des Films in den Dienst dieser Idee zu stellen. Die vier Künstler drehten in Prag und Neubabelsberg für 20.000 Mark den mystischen Film „Der Student von Prag“, der mit einen Schlage den Weltmarkt eroberte und die Aufmerksamkeit der Filmindustrie aller Länder auf Deutschland richtete.
Das Eis war endlich gebrochen. Die Kritik von damals hat das Wort:
- „Dieses Stück bildet den Anfang einer Schwenkung zur Veredelung des Kinos und zum hinaufziehen der langsam verblödeten Menge auf eine wieder höhere Stufe. Wir sehen dem Kommenden jetzt doch schon etwas entspannter entgegen. Wenn wir nur nicht wieder ebenso rasch eine Abkühlung erfahren müssen! Die Aufnahmen waren von überraschender Wirkung, allerdings stark auf den Effekt zugeschnitten, aber das gehört nun einmal zum Film. Bei einzelnen hatte man geradezu den Eindruck eines Ribera.“
Im Dezember 1934 feierte Paul Wegener seinen 60. Geburtstag. Es war recht interessant festzustellen, daß jeder Gratulant, auch dann noch, sofort auf den „Student von Prag“ zu sprechen kam. Paul Wegener sprach damals ein paar einleitende Worte und befürchtete, daß man in den Tagen des Tonfilms über sein Erstlingswerk lachen würde.
Felix Henseleit hatte das Geburtstagskind beruhigt:
- „Paul Wegener hob den Film und die Arbeit des Filmgestalters auf eine Ebene, auf der sich der Freund guter Kunst mit diesen Dingen beschäftigen konnte. Wegener schuf mit diesem Film kein Debattierstück für verspielte Astheten – er traf das Herz des Kinogängers, und er machte den Kinobesucher darauf aufmerksam, was er, der Mann in Parkett, vom Film erwarten und fordern konnte. Paul Wegeners Schaffen trug dazu bei, den Kinogänger hellhörig zu machen – ehe es noch eine regelrechte Filmkritik gab. Paul Wegener gehört zu denen, die dem Film und den Filmschaffenden das Publikum retteten, als es zum ersten mal Kinomüder zu werden begann - er trug dazu bei, aus der bloßen Attraktion, die der Film damals noch war, eine geistige Kunst zu machen.“
Der Erste Weltkrieg und der Film
Der patriotische Film 1914 / 1915
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges entstand über die aktuellen Filmaufnahmen von den Kriegsschauplätzen hinaus der patriotische Film der Jahre 1914/15: In dem Zweiakter „Kriegsgetraut“ versagt der harte Vater der Liebe seines Sohnes zu einem armen Mädchen, das bereits ein Kind zur Welt gebracht hat, die Anerkennung, weil der Sohn als Reserveoffizier Standesrücksichten zu nehmen hat. Erst die Mobilmachung macht das Herz des Vaters weich und nachgiebig.
In „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ folgt ein junger Gymnasiast mit seinem alten Lehrer dem Ruf der Fahne (mit Leo Peukert). Das war ein Film für Kriegsfreiwillige. Henny Porten, im Film Tochter eines französischen Edelmannes, pflegt in „Ein Überfall in Feindesland“ einen sterbenden deutschen Offizier und muß als fremde Braut der ahnungslosen Mutter die Trauerbotschaft bringen. Viggo Larsen und Wanda Treumann waren in dem Film „Die Wacht am Rhein“ zu sehen. Hanni Weiße spielte eine schmucke Elsässerin und tapferes deutsches Mädchen. Man sah damals Ludwig Trautmann in dem Film „Kriegsdämon“, Dorrit Weixler in dem Kriegsdrama „Todessrauschen“, Hedda Vernon in „Das rote Kreuz“ und ferner Lotte Neumann und Hanni Reinwald in so manchen Kriegsfilmen. Auch der Offizier, welcher wegen Spielschulden im Frieden den Rock ausziehen mußte und bei Ausbruch des Weltkrieges als einfacher Soldat zur Fahne eilte, wurde auf der Leinwand thematisiert („Auf dem Felde der Ehre“). In dem Film „Das Vaterland ruft“ liebt ein Leutnant im Frieden eine Schauspielerin, die dann an der Front als Pflegerin wirkt und sich dort wieder sein Herz gewinnt. Auf den ostpreußischen Kriegsschauplatz führt uns der Dreiakter „Deutsche Frauen / Deutsche Treue“. Das schlichte Heldentum einer Mutter konnte man in dem Film „Fürs Vaterland" erleben, und in dem Film „Das ganze Deutschland soll es sein“ versöhnt der Krieg den Unternehmer mit seiner verhetzten und verbitterten Arbeiterschaft. Im zweiten Halbjahr 1915 verschwand diese Form des patriotischen Films, und die Kriegswochenschauen rückten in den Vordergrund.
Henny Porten
Am 7. Januar 1891 wurde dem Schauspieler und Sänger Franz Porten vom Stadttheater in Magdeburg ein Mädchen geboren: Henny! Alte und junge Schauspieler und Schauspielerinnen mit runzeligen und verschminkten Gesichtern standen an der Wiege dieses Kindes und prophezeiten dem stolzen Vater, daß Henny einst ein leuchtender Stern am Bühnenhimmel werden würde. Als Henny sechs Jahre alt war, wurde Vater Porten an das Theater des Westens in Berlin engagiert. Von dieser Zeit an ist Henny Berlinerin und auch stets mit Leib und Seele Berlinerin geblieben.
In diesen Jahren setzte sich der Vater oft abends ans Klavier, ließ seine Kinder tanzen, korrigierte ihre Bewegungen, sang mit ihnen und las die Klassiker mit verteilten Rollen. Er wollte seine Kinder doch so oder so mit dem Schauspielerberuf in Berührung bringen, denn die Zeiten waren ernst, und er wußte nicht, ob seine Kinder nicht später einmal aus diesen häuslichen Übungsstunden profitieren müßten. Wenn der Vater auch auf die Tanzkunst seiner jüngsten Tochter Henny ganz besonders stolz war, so gab er einem Mailänder Ballettmeister, der Henny nach Italien mitnehmen und ausbilden wollte, in väterlicher Besorgnis einen Korb, vielleicht instinktiv, vielleicht bewußt, auf jeden Fall wäre Henny Porten damals beinahe Tänzerin geworden und in diesem Fall wohl dem Film verlorengegangen. Von Hennys Backfischzeit in Steglitz gibt es nicht viel zu berichten: Mozartzopf mit großer Schleife, kurzes Röckchen und harmloser Flirt mit den Pennälern.
Gerade diese Jahre ersten Verliebtseins waren aber für Henny nicht die rostigsten, denn die Eltern waren durch allerlei Unglücksfälle erneut in Not geraten, und die beiden Töchter Rosa und Henny mußten im Haushalt tüchtig zugreifen. Das war also die Zeit des Kochlöffels und des Scheuerlappens. Mit vierzehn Jahren konnte Henny allein kochen und den gesamten Haushalt führen. Die Porten spielte bekanntlich später oft und gern die Rolle einer Magd oder eines Dienstmädchens im Film, man wunderte sich zu jener Zeit, weshalb sie dies so perfekt spielte, aber mit dieser Erkenntnis ist es einem schon klar. Ihr echtes Spiel kam durch die Reminiszenzen dieser Hausfrauen- und Köchinzeit im Elternhaus.
Dieses Haustöchterchen sang und schauspielerte als Meissner Porzellanfigürchen bald auf Berliner Wohltätigkeitsvorstellung so talentiert, daß es eines Tages im königlichen Schauspielhaus dem Regisseur Patry vorsprechen mußte.
Man war dem Gedanken, Henny zur Sprechbühne zu bringen, nun doch ernsthaft nähergetreten. Henny sprach damals den Monolog aus der „Jungfrau von Orleans“. Der routinierte Theatermann prophezeite Gutes für die Zukunft und wollte Henny dem Intendanten von Hülsen vorstellen. Sie wollte aber plötzlich nicht. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß dies zunächst nicht ihr Weg sei.
Oskar Meßter, der filmgewaltige Berlins, der um 1910 für die Kinematographie der Jahrmärkte und Rummelplätze kurze Filmszenen von 60–100 Metern herstellte und sie mit einem Grammophon musikalisch illustrierte, hat die Schwestern Rosa und Henny Porten für den Film entdeckt und ließ besonders die fünfzehnjährige Henny unter der Regie ihres Vaters in zahllosen Phonophonfilmen die Heldinnen der verschiedensten Opern und sonstiger Stücke spielen, beispielsweise das Gretchen im „Faust“, die Agathe im „Freischütz“, die Elisabeth im „Tannhäuser“, die Heldin im „Trompeter von Säkkingen“, „Troubadour“ und „Rastelbinder“. Diese Filme waren schlimmster Jahrmarktskitsch und paßten in ihre Umgebung, die Tassen, Blumenvasen und Nippes, die man in Meßbuden erwürfelt, diese Filme waren Kunst am laufenden Band, für die Porten aber immerhin ein wichtiger Filmanfang.
Da kam ein äußerer Anlaß, der mit einem Schlage eine gründliche Wandlung brachte. Die elterliche Wohnung befand sich in der Nähe einer Blindenanstalt. Täglich konnten die beiden Schwestern die unglücklichen Menschen beobachten. Rosa, die sich schon einige Male als Filmschriftstellerin versucht hatte, nahm sich die Leiden der des Augenlichts Beraubten zum dramatischen Vorwurf und stellte sie in den Mittelpunkt einer Filmarbeit. Mit dieser ging sie zur „Meßter-Film-Gesellschaft“, um ihr das Manuskript zur Erwerbung anzubieten. Man las die Arbeit, fand sie sehr geeignet, doch man konnte sich nicht entschließen, sie zu verfilmen, weil man keine Darstellerin für die blinde Hauptfigur kannte. Da lenkte Rosa Porten die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf ihre Schwester. Das Wagnis wurde unternommen und damit der Grundstein gelegt für die künstlerische Entwicklung Henny Portens und für ihren späteren Ruhm. „Das Liebesglück der Blinden“, dieser erste ihrer „Großfilme“, ist somit ein Markstein in der Geschichte der deutschen Filmkunst geworden.
Damit begann aber auch gleichzeitig für die Kinokunst die Epoche des Personenkults. Die Firma Meßter wurde mit Briefen überschüttet, in denen sie aufgefordert wurde, recht bald wieder einen Film herauszubringen, in dem die schöne, blonde Blinde – Henny Portens Name war in dem Film natürlich nicht erwähnt worden – die Hauptrolle spielt. Nun gab man ihr Rollen auf Rollen. Je mehr sie spielte, desto mehr wuchsen ihre Leistungen. Auf den Erfolg dieses ersten größeren Films hin kam bald das erste feste Engagement der Porten, des ersten wirklichen deutschen Filmstars, bei einem monatlichen Gehalt von 225 Mark zustande. 225 Mark waren für die damaligen Verhältnisse eine große Angelegenheit, und Oskar Meßter hatte genau kalkuliert, daß er eigentlich nur 200 Mark bewilligen könnte. So ging der Kampf zwischen Meßter und der Porten wegen der Differenz von 25 Mark hin und her, und die Porten bewies schon damals ihre Geschäftstüchtigkeit und verließ mit stolz erhobenem Haupte das Büro. Sie war schon draußen auf dem untersten Treppenabsatz angelangt, als ihr jemand zurief: „Fräulein Porten, kommen Sie zurück, es ist ja alles in Ordnung!“ Es war Kurt Stark, der bei Meßter als Schauspieler und Regisseur engagiert war, es war der Mann, der nach anderthalb Jahren Henny Portens Gatte wurde und der im Ersten Weltkrieg als Offizier fiel.
Mit dem ersten Anstellungsvertrag in Händen ging nun der Weg der Porten bergauf. In den Autorenfilmen der Jahre 1914–1918 war Henny Porten gar in ihrem Element. Sie war für den Geschmack des breiten Publikums die typische Romanheldin, denn damals waren die Marlitt und Courths-Mahler in Mode. Filme des ersten Kriegsjahres – „Alexandra“, „Nordlandsrose“ und „Abseits vom Glück“ – sind noch recht grobe filmdramaturgische Arbeiten. Die Porten strebte aber bald danach, ihre Filme auf ein höheres künstlerisches Niveau zu bringen, womit überhaupt die wahrhaft künstlerische Entwicklung der Porten erst in den letzten Jahren des Weltkrieges einsetzte.
Man darf nicht vergessen, daß die Porten nicht von der Sprechbühne kam und daher neben den großen Bühnenkünstlern ihrer Zeit im Grunde einen schweren Stand hatte. Selbst eine Schauspielschule hat sie nie besucht. Dennoch hielt sie sich tapfer. Sogar im Jahre 1916 hatte sie in einem der ersten Jannings-Filme, „Die Ehe der Luise Rohrbach“, von der unerhört mimischen Kraft und Kunst von Jannings nicht erdrücken lassen, sondern sie war eine große, tragische Gegenspielerin. Das Jahr 1917 brachte dann als größte Kriegsleistung der Porten den nach einem Roman von Rudolf Stratz gedrehten zweiteiligen Film „Die Faust des Riesen“. Die Leistungen der Porten im Ersten Weltkrieg müssen von ganz besonderer Warte aus überblickt und beurteilt werden. Der Gatte der Porten lag draußen im Schützengraben, an der Front, also in ständiger Todesgefahr, und die Künstlerin wurde durch Feldpostbriefe heute erfreut, morgen beunruhigt, seelisch immer hin und her geworfen. So ging es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.
Die Porten aber filmte im Atelier mit größtem Fleiß und heißester Hingabe an die neue Kunst, filmte die lustigsten und traurigsten Rollen. Gewiß keine leichte Sache für eine jungverheiratete Frau, deren Mann vor dem Feinde stand. Da kam eines Tages doch das gefürchtete Telegramm: Der Gatte gefallen! Tot! Künstler dürfen aber nicht lange trauern. Der Beruf fordert den ganzen Menschen. Nach kurzer Zeit der Trauer stand die Porten schon wieder im grellen Licht der Jupiterlampen und spielte besser denn je, reifer, inniger, im Herzen so traurig wie nie zuvor, daher in tragischen Rollen so lebenswahr und lebensecht, daß im Kino das Volk schluchzte, wenn die Porten im Film Unrecht oder Schiffbruch litt oder etwa gar ein tragisches Ende fand. Das Volk spürte in allen ihren Filmen unbewußt, daß diese Frau auch sonst zwischen Pflicht und persönlichem Seelenleid kämpfen mußte.
Die nordische Invasion
Wir Deutschen lieben nicht die großen Gebärden. Seit Generationen sind wir aber gewöhnt gewesen, in der Oper und im Drama der Bühne ein Gebärdenspiel zu ertragen, das eine uns an sich fremde Sprache spricht. Diese Stellungen, diese Bewegungen der Arme und Hände, mit denen auf der Bühne Held und Heldin die Worte begleiten, sind keine Stilisierung der Gebärden und Gesten, die uns als Deutschen angeboren sind. Diese Steigerung der Gebärden ist wohl mit der Oper aus Italien zu uns gekommen: Es ist die Gebärdensprache der Südeuropäer.
Ibsen brachte mit seinen Schauspielen den neuen Stil. Man kann nordische Menschen nicht mit italienischen Gebärden und Gesten spielen, sondern immer nur mit nordeuropäischen. Diese Gegensätze zwischen Nord und Süd konnten nirgends besser als im Kino beobachtet und beurteilt werden. Wenn man kurz hintereinander einen französischen oder italienischen Film und einen dänischen auf der Leinwand sah und auf Haltung und Gebärdenspiel vergleichend achtete, stand man plötzlich vor interessanten völkerpsychologischen Problemen: Die dänischen Filmschauspieler gaben sich beherrscht, gehalten, ohne Phrase und Pose, und dennoch so gebärenstark, mit es die Stummheit des Films verlangt. Sie waren nicht bloß Germanen, sie spielten auch germanisch. Sie waren die geborenen Filmschauspieler.
In Kopenhagen gründete der Kaufmann und Kunstsammler Ole Olsen die Filmfabrik „Nordisk“ und engagierte für seine Produktion die bedeutendsten nordischen Schauspieler. Einer war Valdemar Psilander, ein Künstler, der damals in der ganzen Welt eine unbeschreibliche Berühmtheit erlangte. Valdemar Psilanders interessantes, ausdrucksvolles Gesicht, seine männlich-schöne und schlanke Gestalt waren seinerzeit der Typ aller Kinobesucherinnen. Mit einer geradezu unvergleichlichen Virtuosität beherrschte er alle Fächer der Darstellungskunst. Sein früher Tod (1917) wurde in der ganzen Welt betrauert. Er ging gerade ins sechsunddreißigste Lebensjahr. Seine bedeutendsten Filme waren „Das zweite Ich“, „Der Apostel der Armen“, „Das Bildnis des Königs“ und „Revolutionshochzeit“. Sein letzter Film war „Der tanzende Tor“ – die Wiedergabe seines eigenen Geschicks.
Ebenfalls in Kopenhagen filmte ein anderer großer Schauspieler, der von der Bühne kam und schon in seiner Heimat einen Namen hatte, bevor er zum Film ging: Olaf Fønss. Ein germanischer Recke mit dem Lächeln einer grundgütigen Seele. Das war auch ein echter Frauentyp. Sein Name wird uns ebenso unvergeßlich bleiben mit der Psilanders. Fønss hatte sich durch einige große Filme, wie „Der Pfarrer am Meere“, „Lache Bajazzo“ u. a. m. schauspielerisch hervorgetan, als man ihn nach Deutschland holte, wo er die größte Rolle seines Lebens im Film spielen konnte. Die Deutsche Bioscop-Gesellschaft engagierte ihn für ihren phantastisch- expressionistischen Film „Homunculus“, der ein unglaublicher Erfolg wurde (Regie: Otto Rippert). Kurz nach dem Ersten Weltkrieg flüchtete er wieder heim in das Land seiner Wiege, weil er sich in deutschen Landen vor Zelluloid und Popularität nicht mehr sicher fühlte.
Der dritte große nordische Schauspieler war der aus Christiania stammende Gunnar Tolnaes, der 1913 zum Film ging. Nachdem er zuerst in Stockholm bei der „Swenska“ in drei kleineren Filmen gespielt hatte, wurde Ole Olsen von der „Nordisk“ auf ihn aufmerksam und holte ihn nach Kopenhagen. Sein erster Film bei der „Nordisk“ hieß „Der Seelendieb“ und wurde in Deutschland verboten. Aber die nächsten Filme „Dämons Triumphe“ und „Sterbende Gluten“ brachten ihm über die Grenzen seiner Heimat hinaus ganz große Erfolge.
Dann kam der Film, mit dem er sich in der ganzen Welt einen Namen machte, den der Regisseur A. W. Sandberg inszenierte: „Die Lieblingsfrau des Maharadscha“ (1916). Gunnar Tolnaes in der Rolle des Maharadscha war eine Offenbarung für alle Freunde wirklicher Schauspielkunst, und diese Filmrolle blieb wohl auch die größte Leistung im Leben des Künstlers. Auch in anderen Filmen, die später kamen, so besonders in „Das Himmelsschiff“, kam seine schauspielerische Qualität noch oft zur Geltung.
Viggo Larsen wurde im Jahre 1910 nach einem großen Filmerfolg in Kopenhagen nach Deutschland gerufen und verließ die Reichsgrenzen seitdem nicht wieder. Er half fünfzehn Jahre lang in Deutschland am Gelingen der deutschen Filmkunst mit – eine Pionierarbeit, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sein erster großer Erfolg war „Der Eid des Stephan Huller“. In diesem Film spielte auch eine Frau mit, die später noch lange Zeit seine Partnerin war: Wanda Treumann. Ein weiterer großer Erfolg (auch mit Wanda Treumann) war eine entzückende Groteske: „§ 80 Absatz 2“. In der Kriegszeit kamen einige große Filme mit Viggo Larsen heraus: „Nachträtsel“, „Der graue Herr“, „Rotterdam–Amsterdam“, „Abenteuer einer Ballnacht“, „Lehrer Ratthiessen“ und viele andere.
Filmdrama, Star und Serienfilm
Seit Beginn des Ersten Weltkrieges erwuchsen der deutschen Filmindustrie ganz neue Pflichten und damit zugleich auch ganz neue lohnende Aufgaben. Die durch Ausschaltung französischer, englischer, italienischer und amerikanischer Filmfabrikate entstandene Lücke mußte von der deutschen Filmindustrie ausgefüllt werden. Besonders die gefährlichste und erdrückendste Konkurrenz war nun mit einem Schlage beseitigt. Statistiker hatten festgestellt, daß Frankreich an Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg Filme für einen Betrag verkauft hatte, der weit höher als die ganze Kriegsentschädigung 1870/71 war. Außerdem verlangte das Publikum, in seinen nationalen Empfindungen gründlich aufgerüttelt, stürmisch nach deutschen Spielfilmen. Die neue Aufgabe war an sich ganz klar: Auch der Kinogeschmack ist Schwankungen unterworfen, also von nun an Experimente, Proben, Einfallsgestaltungen, neues dichterisches und filmisches Können. Ist der Krieg vorbei und der Friede geschlossen, müssen die Leistungen des deutschen Kinos so sein, daß das Publikum sich gar nicht mehr erinnert, jemals fremdländische Filme gesehen und bewundert zu haben.
Das Kinobild war einst nur Sensationsware. Da konnte die Wandlung zur Filmkunst nur langsam vor sich gehen. Das Publikum war während der Kriegszeit mit Neuerungen gar nicht zu sättigen. Die Programme wechselten alle acht Tage, in den großen Kinos noch häufiger. Es mußte immer etwas neues, immer etwas anderes kommen. Sonst ging keiner ins Kino. Im Genuß war man gierig, seelenlos. Die Filmateliers arbeiteten wie im Fieber. Nur wer diesen furchtbaren Filmhunger der Masse des Volkes erkannt hat, kann begreifen, was nunmehr geschah: Die Berufsschauspieler hatten den Brettern nicht etwa für immer Lebewohl gesagt, und mancher ging überhaupt nicht zum Film. Mit Berufsschauspielern war also das Arbeitspensum gar nicht zu bewältigen. Da aber allein in einem Jahr Hunderte von Filmen gedreht werden mußten, waren die Filmfabriken gezwungen, ohne große Auswahlmöglichkeiten nach Kinodarstellern und Filmkünstlerinnen auf die Suche zu gehen. Von überall her wurden sie herangeholt: aus den Cafes, von der Varietébühne, aus dem Zirkus, aus der Schar der Chormädchen, aus den Konfektionshäusern, aus der Abendgesellschaft, aus dem eigenen Familienkreise. Viel Geist brauchte ja für die neue Filmkunst nicht mitgebracht zu werden, denn auf das dichterische Wort der Sprechbühne war zu verzichten.
Die „Auserwählten“ mußten nur äußerliche Vorzüge mitbringen und hatten Dramatik nur durch Mienen und Gesten zu verkörpern. Untaugliche, Halbfertige, Talentlose und Günstlinge standen plötzlich im Scheinwerfer des Ateliers und lächelten ein paar Tage später von der Leinwand herab dem Publikum zu. Sie alle waren selbstverständlich nur „aus Liebe zur Kunst“ gekommen. Wir können heute die Tiefe und Reinheit ihrer Kunstliebe nicht mehr nachprüfen. Wir wollen es auch nicht. Wir wissen nur, daß in die Zeit des Ersten Weltkrieges die furchtbare Periode der Star- und Serienfilme fällt. Zu dem einen „Star“, den man „unbedingt gesehen haben mußte“, gesellten sich andere ohne Zahl: acht Filme mit Hedda Vernon, zehn Filme mit Leontine Kühnberg, eine Erna-Morena-Serie, eine Mia-May-Produktion, der neunte Egede-Nissen-Film in Vorbereitung! So las man in den Fachzeitschriften. Von Kunst konnte vorläufig nun keine Rede mehr sein. Jeder Filmfabrikant stützte sich auf die Hauptmitwirkung eines einzigen Darstellers oder einer einzigen Filmdiva und ließ Manuskript und Handlung seiner „Kanone“ auf den Leib schreiben. Das hatte zur Folge, daß die Filmhandlung über die Individualität dieses Hauptdarstellers selten hinausreichte, d. h., die meisten Filme wurden nicht zur Unterhaltung des Publikums gemacht, sondern um den Kinoliebling wieder einmal in einer neuen „Bombenrolle“ zu zeigen.
Sie füllten sich aus dem Bedürfnis der Menge heraus, in den sorgen- und kummervollen Tagen des Krieges überhaupt eine Ablenkung zu haben. Jedes Angebot stieß auf befriedigende Nachfrage: Filmrummel! Ein Kritiker mit arithmetischem Gewissen hatte zu jener Zeit den Stars eine Ruhmesdauer von sechs Jahren zugewiesen. Diese Rechnung ging an der Wirklichkeit nicht leer vorbei, vor allem galt dies für die „gemachten“ Talente, an denen im Film kein Mangel war, und die eine Zeitlang, von der Gunst der Reklame getragen, im Vordergrund der Flimmerbühne standen. Nun, nichts ist schmieriger, als das Wohlwollen der Zuschauer durch Jahre hindurch zu erhalten, und nichts ist kürzer als das Gedächtnis des Publikums, das sehr gern immer wieder neuen Erscheinungen und Stars zujubelt. Wo ist jener große Star geblieben, der einst der Porten und der Nielsen den Rang, die beliebteste Deutsche Filmdiva zu sein, streitig machen konnte: Mia May? Wem klingt heute noch der Name Wanda Treumann so vertraut, daß er sich ihrer erinnerte?
Man konnte sie sich in ihren besten Jahren kaum ohne ihren Partner Viggo Larsen denken, mit dem sie durch jene sensationellen Katastrophen ging, die den Film in seinen Kindertagen auszeichneten. Titel wie „Die Sumpfblume“, „Das Geheimnis der X-Strahlen“ genügten zusammen mit dem Namen Wanda Treumann, um jedes Kino zu füllen. Von der Fern Andra, die übrigens in ihren ersten deutschen Filmen Fern Andre hieß, ist der Begriff „Kientopp“ einfach nicht zu trennen. Ihr war kein Mittel zu bedenklich, um sich in Szene zu setzen oder die Reklametrommel für sich rühren zu lassen. In einer Reklamebroschüre mutete sie den Lesern zu, ihrer Behauptung Glauben zu schenken, daß sie in jedem Jahr ein paar Monate in einem italienischen Kloster verbringe. Sie ließ sich auch in Schwesterntracht photographieren, aber gerade diese Reklamewut machte sie schließlich unmöglich. Fern Andra vertrat den damals im deutschen Film noch nicht heimischen „Vamp“-Typus, den wir seither aus Amerika kennen.
Auf der geschickten Ausnutzung dieses Umstandes beruhen ihre Erstlingserfolge, die sie später mit keinem Mittel mehr erreichen konnte. Dabei war sie eine waghalsige Artistin, die sich auch in gefährlichen Situationen nicht durch ein namenloses „Double“ vertreten ließ, sondern eine Darstellerin, die ihre Sensationen selbst ausführte. Trotzdem ging ihr Ruhm schnell bergab. Die männlichen Sterne am Filmhimmel kamen fast alle – wie Jannings so trefflich sagte – aus „Dalles“ zum Film. Er selbst war ewig in „momentaner Geldverlegenheit“, und so klapperte er schon als bekannter Reinhardt-Schauspieler sämtliche Filmbüros der Friedrichstraße ab, um Beschäftigung zu bekommen. Er fand aber überall verschlossene Türen. Endlich empfing ihn ein bekannter Sensationsdarsteller und Regisseur und zeigte sich gewillt, ihn zu engagieren, Tageshonorar 25 Mark. Jannings strahlte. Und als er eifrig nach dem Manuskript verlangte, sagte man ihm, das sei nicht so wichtig. Er müsse nur nach einer aufregenden Verfolgung von der Weidendammer Brücke auf einen darunter fahrenden Dampfer springen, fertig. Das genügte, Jannings schlich sich heimlich aus dem Büro und dachte mit Wehmut an die schöne Gage. Doch er entging seinem Schicksal nicht, denn bald wurde er von Robert Wiene für eine Rolle in dem Film „fromont jun. Risler sen.“, der nach dem bekannten Roman von Daudet verfilmt wurde, mit 40 Mark Tageshonorar engagiert. Die erste Rolle war da, der Weg zum Ruhm offen.
Auch Harry Liedtke war damals bei Reinhardt. Hier animierte ihn irgendein Kollege zum ersten Filmversuch.
- „Und so stand ich eines Tages im Meßter-Atelier und drehte meinen ersten Film mit dem schönen Titel ‚Die Rache ist mein‘. Ich weiß nur noch, daß ich im letzten Akt von meinem eigenen Sohn im Duell erschossen wurde, und erinnere mich auch noch ganz deutlich an eine Szene, in der der Chauffeur des Wagens, der mich zum entscheidenden Rendezvous bringen mußte, sich in den Tod verwandelte.“
Bald wirkte Liedtke in den ersten Detektivfilmen, in jenen spannenden Geschichten, die die Namen Stuart Webbs und Joe Deebs populär machten. So gehört Harry Liedtke zu den Schauspielern, die die Anfänge des deutschen Spielfilms mitgemacht und neben Emil Jannings, Werner Krauß und anderen Größen zu einer Zeit wirkten, als das Kino noch eine Angelegenheit dritten und vierten Ranges war. Robert Ramin erzählte von Conrad Veidt aus der Zeit des ersten Weltkrieges u. a. folgendes:
- „Im Dezember 1914 wurde Conrad Veidt nach Spandau zum Train eingezogen und kam nach der Ausbildung an die Ostfront wo er schließlich nach kämpfen vor Warschau erkrankte und in ein Lazarett nach Tilsit übersiedelte. Inzwischen hatte sich die Deutsche Front bis an die Doüna vorgeschoben, und die Städte Libau und Mitau waren besetzt worden.
- Aus der zuerst genannten Stadt kam eines Tages ein Brief nach Tilsit, worin dem nunmehrigen Trainunteroffizier der Rat gegeben wurde, sich beim Fronttheater in Libau zu bewerben, das noch einen guten Schauspieler brauchen könne. Der Brief stammte von Lucie Mannheim, die, mit Veidt, Schülerin bei Reinhardt gewesen war und sich jetzt in Libau seiner erinnerte. Das Gesuch des jungen Unteroffiziers wurde genehmigt und Veidt von Tilsit nach Libau in Marsch gesetzt. Das Fronttheater erfüllte die kühnsten Hoffnungen Conrad Veidts. Denn alle die Rollen, die er sich brennend wünschte und die ihm das reguläre Theater damals vorenthalten hat, durfte er dort spielen. Durch den Erfolg angestachelt, der ihm in Libau zuteil wurde, wandte sich Conrad Veidt an Max Reinhardts Bruder Edmund und fragte an, ob für ihn nicht Platz als Darsteller am Deutschen Theater sei. So kam Veidt während des Krieges wieder nach Berlin zurück, aber jetzt nicht mehr als Figur im Hintergrund, sondern als Darsteller. Als Veidt zu filmen begann, lag die Hauptrolle stets in den Händen des Liebhabers. Dieser aber mußte nach allgemeiner Ansicht von einem schönen Menschen mit gefälligem Gesicht gegeben werden. Conrad Veidt aber hatte ein sprechendes Gesicht und wurde dadurch von Anfang an zum Charakterdarsteller abgestempelt. Sein etwas fremdartiger Typ schien den Regisseuren besonders zur Verkörperung exotischer oder sonst irgendwie ungewöhnlicher Menschen geeignet.
- Sein erster Film ‚Das Rätsel von Bangalore‘ war ein typisches Kinostück jener Jahre. Er spielte darin einen Inder, der geheimnisvoll und überaus dämonisch durch das Bild ging. Da der Film großen Erfolg hatte, verhalf er ihm bald zu anderen Rollen. Conrad Veidt war nach den ersten paar Rollen als dämonischer Filmtyp abgestempelt, als Darsteller nervöser, überfeinerte Menschen – und er ist es auch ein Jahrzehnt lang geblieben.“
Aus einem alten Pastorengeschlecht aus dem Westerwald kam Werner Krauß. Er fing wirklich von unten an, wenn er mit einer Wanderschmiere auf einem Leiterwagen durch das sächsische Erzgebirge zog, und sein schauspielerischer Aufstieg ließ recht lange auf sich warten, da er erst in den Wedekindschen Festspielen 1915 den Bühnenmeistern und dem Publikum auffiel. Richard Oswald entdeckte ihn damals für den Film. Er gab Krauß die Rolle des Dapertutto in „Hoffmanns Erzählungen“. „Es ist wahr, daß Oswalt mich nach dem zweiten Aufnahmetag in die Atelierecke zog und mir flüsternd mitteilte: ‚Sie machen Ihre Sache ganz gut! Höhe Ihre Tagesgage auf 50 Mark (abgeschlossen hat mit nur 40 Mark.‘“
Ein Mann, den wir noch zur Stummfilmzeit zu Grabe trugen, spielte im Krieg auf der Leinwand eine ganz große Rolle: Erich Kaiser-Titz. Wie kein zweiter deutscher Schauspieler war er, der in mehr als 300 Filmen mitgewirkt hatte, mit der Filmindustrie verwachsen – denn er kam in Berlin in jenen Räumen zur Welt, in denen der entschlafene Filmklub seine Stätte gefunden hatte. Kaiser-Titz, dessen Vater zu den bekanntesten Architekten der Reichshauptstadt gehörte, bildete sich zum Kunstschlosser aus und lernte praktisch auf Neubauten, wovon er später mit viel Humor erzählte. Verhältnismäßig spät kam er zur Bühne, auf der er besonders als Charakterstar geschätzt wurde. Im Film, dem er sich bereits 1911 mit einem Engagement bei der Mutoskop verschrieben hatte, begann seine große Zeit, als der Kriminalfilm auf der Höhe stand. Er dürfte der Partner von allen Schauspielern und Schauspielerinnen gewesen sein, die jemals im deutschen Film zu jener Zeit Ansehen genossen. Später übertrug man ihm charaktervolle Nebenrollen, die zwar im Gesamtbild von Wichtigkeit sind, leider aber nur wenige Spieltage bedeuteten. Einen seiner letzten Erfolge erzielte er in der „Ungarischen Rhapsodie“. Der Tag seines Todes machte den Plan unmöglich, mit ihm die Kostümprobe für „St. Helena“ durchzuführen. Bald folgte ihm am Ende des stummen Films noch ein ganz großer in den Tod: Albert Steinrück. Mit der erschütternden Vaterrolle in „Asphalt“ nahm der große Mann viel zu früh für immer Abschied von der Leinwand.
Pola Negri
Man glaube nicht die phantastischen Dinge, die über Pola Negris Kindheit erzählt werden. Die Barone und Schlösser sind in der Welt nicht so dicht gesät wie in den Gehirnen phantasievoller Biographen. Ich halte mich an einen ernstzunehmenden Schilderer ihres Lebens: Am 31. Dezember 1897 wurde Pola Negri in Lipno bei Warschau geboren. Ihre Mutter war mit einem Polen ungarischer Abstammung, Georg Chalupe, verheiratet. Die Ehe ging bald in die Brüche. Mit ihrem Töchterchen allein geblieben, sah sich nun Frau Chalupez, die über keinerlei Vermögen verfügte, vor die Notwendigkeit gestellt, für ihrer beider Unterhalt und für die Zukunft ihrer Tochter zu sorgen. Die kleine Pola wurde im Alter von acht Jahren in die Ballettschule des Warschauer Nationaltheaters aufgenommen. Ihr angeborenes choreographisches Talent und ihr seltener Fleiß erregten bald die Aufmerksamkeit und die Anerkennung der Ballettmeister, die ihr eine glänzende Zukunft voraussagten. Am 2. September 1912 debütierte sie im kleinen Theater, unter der Direktion Zaleskis, in einer besonders schwierigen Rolle des Stückes vom Grafen Fredro „Was Mädchen träumen“.
Publikum und Presse waren von dem Talent der jüngsten polnischen Schauspielerin begeistert. Sie hatte eben ihr fünfzehntes Lebensjahr vollendet. Laut kaiserlicher Verordnung am 4. Juli 1913 wurde Pola Negri zur Hofschauspielerin des Nationaltheaters in Warschau ernannt. Sie kreierte dort mehrere bedeutende Rollen. Ihre Beliebtheit steigerte sich von Tag zu Tag, die Rolle aber, durch die sie sich die ungeteilte Bewunderung der Presse erwarb, war die der Tänzerin in der Pantomime „Sumurun“. Zu der Zeit, als Pola auf der Bühne Erfolge erzielte, nahm sie das Angebot des Direktors Hertz von der polnischen Filmfabrik „Sphinx“ an, der ihr vorschlug, die Hauptrolle in dem Film „Sklave der Sinne“, dessen Autor übrigens Pola selbst war, zu spielen. Die kehrte den Brettern den Rücken.
Bis hierher fast alles wie bei Asta Nielsen. Pola hatte diesen Film bereits ganz vergessen, als er eines Tages in Berlin herauskam. Sie war um ihren künstlerischen Ruf besorgt und fürchtete, daß die Berliner sich über diese jämmerlichen Aufnahmen belustigen würden. Zu ihrem größten Erstaunen gefiel „Der Sklave der Sinne“ sehr gut, und die Leiter der UFA, die einer Vorstellung beigewohnt hatten, boten Pola sofort einen Vertrag an, durch den sie als zukünftiger Star der UFA-Gesellschaft verpflichtet wurde. Auf der deutschen Leinwand war mit ihr ein ganz neues Gesicht erschienen. Ganz anders als das der Asta Nielsen, erst recht anders als das der Porten. Wenn man von einem Filmgesicht sprechen kann, so hat es Pola Negri. Sie war nicht schön im landläufigen Sinne, aber sie hatte das von innen bewegte Gesicht der großen Tragöden, den „erleuchteten Spiegel“ einer leidenschaftliche Seele und eines starken Temperaments. Die Echtheit ihrer Gefühle, die Rührung, die sie in dramatischen Szenen zeigte, und die tiefe Trauer, die sie in vielen Fällen aufbrachte, drangen dem Kinobesucher bis tief ins Herz hinein. So hat Pola Negri die Internationalität erworben, die den Filmstar nicht nur in einem Lande, sondern in der ganzen Welt populär macht. Ernst Lubitsch hat Pola Negri zu seiner großen Filmtragödin gemacht. Doch davon später mehr.
Der Klamauk im Film
Am Anfang des Lichtspiels – also weit vor dem Ersten Weltkrieg – war der Klamauk, d. h. der 10–20 Meter lange Witzfilm. Man plünderte ganz einfach die Werke der Karikaturisten. Alle Witzblätter und auch die Humoristen des Buches und der Bühne mußten ihre besten Leistungen ungefragt dem werdenden Lustspielfilm ausliefern. Ganz weit zurück: Die erste Deutsche Filmkomikerin war Johanna Erwald, die unverwüstliche komische Alte, mit der Oskar Meßter 1897 den Kurzfilm „Gestörtes Rendezvous“ drehte. Hunderte von humoristischen Stoffen folgten. Hier muß der Leinwandchronist neben vielen anderen die Flamen Ida Perry, Fanny von Roy, Fritz Beckmann, Arnold Rieck, Robert Steidl an den Sternenhimmel schreiben. Dann kam der Krieg. Das Leben und die Leinwand wurden ernst. Der Patriotismus verstand am Anfang keinen Spaß. Die ersten Filme patriotischen Charakters waren daher auf den ernsten Grundton der ersten Kriegsmonate abgestimmt. Bald aber wußte man den Ereignissen auf dem Welttheater auch die humoristischen Seiten abzugewinnen. Es wäre auch durchaus verfehlt gewesen, nur Filmstücke ernsten Inhalts herzustellen und vorzuführen. Die gute Laune der in der Heimat zurückgebliebenen Menschen kann durch leichte Humoresken und groteske Situationskomik am besten erhalten und gesteigert werden: Stimmungspropaganda.
Der freudige Beifall, den Filme dieser Art in den Kinos fanden, bewies deutlich, daß sie einem wirklichen Bedürfnis der Menschen entgegenkamen („Was die Feldpost brachte“, „Ulanenstreiche“ usw). Das Parkett schrie, wenn Albert Paulig in „Fräulein Feldgrau“ ein treuer und pfiffiger Diener seiner Herrin war und den feindlichen Soldaten ein Schnippchen schlug. Man trampelte vor Freude, wenn in dem Film „Die Liebesgabe“ ein junges Mädchen ein Paar selbstgestrickte Strümpfe ins Feld schickte, die allerlei seltsame Schicksale erlebten und schließlich doch an den „richtigen“ Mann kamen. Anna Müller-Lincke trieb als stramme Küchenfee in „Fräulein Feldwebel“ (1915) ihr Allotria auf der Leinwand und spielte in unzähligen Filmen die komische Mutter, die xanthippige Gattin, die liebe girrende Witwe oder die resolute Schwiegermutter.
Gegen Mitte des Jahres 1915 flauten die „patriotischen“ Lustspiele stark ab. Man hatte genug von diesem feldgrauen Pfeffer an Witz und Humor und ersann neue „Friedenskomik“.
Fast alle Komiker der Berliner Sprechbühnen und Varietés haben 1914 bis 1918 in Filmlustspielen Unfug über Unfug, Unsinn und Kaumauk gemacht: Oskar Sabo, der populäre Komiker des Berliner Theaters, beherrschte mit virtuoser Meisterschaft alle Nuancen des Filmhumors („Der Barbier von Filmersdorf“, 1915). Guido Herzfeld hat stets heitere Filmkunst geboten (z. B. als Prokurist Warschauer in der „Konservenbraut“, 1915). Außerordentliche Feinheiten von Humor und komischen Situationen brachte Herbert Paulmüller auf die Leinwand mit, eine Spezialtype für bedeppte Ehemänner.
Schon durch seine Länge immer belustigend wirkte Paul Westermeier. Paul Beckers, der Stern des Varietees, der große Humorist, an dem sich Kranke gesund lachen können, spielte die Hauptrolle im „Fliegentüten-Heinrich“ (1918). Die urkomischen Martin Bendix und Guido Thieischer („Florians Tante“, 1916) machten ihren tollen Filmulk. Paul Heidemann spielte in zahlreichen Lustspielen den unvergleichlichen und unverwüstlichen Teddy stets mit natürlicher und nie aufdringlicher Komik. Das Derb-bäuerische und Gradlinige brachte Konrad Dreher in den Film.
In Berlin kannte damals jedes Kind den Komiker Arnold Rieck vom Thalia- Theater, der so manches Couplet populär machte. Wenn Arnold Rieck als Gymnasialprofessor mit Bratenrock, Zylinder, Regenschirm und dem bestickten Reisesack aus Großvaters Zeiten sich auf einer Filmreise nach Hellas in eine schöne Griechin verliebte („Lehmanns Brautfahrt“, 1916), kam das Publikum nicht aus dem Lachen heraus. In „Liebe und Bitterwasser“ verabreicht ein alter Apotheker dem kranken Vater anstatt Sauerbrunnen eine Flasche Bitterwasser. Die Folgen bei dem Alten sind fürchterlich. Man sieht ihn unentwegt die Treppen zu dem bewußten „Örtchen“ stürmen. Mit dieser Apothekerrolle verbreitete Leo Peukert einst Lust und Heiterkeit, wie er überhaupt lange Zeit der beliebteste Lustspieldarsteller während des Ersten Weltkrieges war.
Dieser Klamauk war so etwas für die Masse. Ganz unverständlich dagegen muß uns heute erscheinen, daß das Kinopublikum in der schweren Zeit des Ersten Weltkrieges einem Schauspieler zujubelte, der sich in jeder Situation mit uns wesensfremder Schnoddrigkeit benahm: Ernst Lubitsch. In dem Film „Die Firma heiratet“ (1914) steigt er, ein kleiner Provinzler, zu den schwindelnden Höhen der Konsektionsallmacht auf, und in „Stolz der Firma“ (1914) verfolgen wir mit ihm die Laufbahn eines Lehrlings, der wiederum aus der Provinz in die Hauptstadt kommt und als vigilanter Kommis schließlich der Schwiegersohn des Herrn Chefs wird. Im „Blusenkönig“ (1917) steigt Lubitsch der blonden Käthe Dorsch nach und versucht immer wieder, mit allen seinen Lustspielfilmen das Konfektionsmilieu, wie es in Berlin rund um den Hausvogteiplatz zu Hause ist, für das Kino zu „erobern“.
Auf dem Wege zum Lustspiel
Die Posse ist die älteste Gattung des Filmhumors. Mit den dramatischen Filmszenen auf Jahrmärkten und Volksfesten fing es an: derb-naive Purzel- und Prügelragouts. Für die Dauer wurden das Einstürzen der Zimmerwände, das Zerschlagen der Tischservice, der unvermeidliche Hydrantenschlauch und ähnliche Gemeinplätze der Kinokomik doch zu langweilig. Der Filmhumor begann neue Wege zu suchen. Eine lustige, vielleicht sogar ausgelassene, aber immer graziöse Fabel, Milieuschilderungen aus der Welt der Flotten Leutnants, bärbeißiger Majore und verliebter Backfischherzen, nicht zuletzt der übermütige Sexualschwank der Berliner Residenz- und Trianontheater seligen Angedenkens, das alles müßte reizvolle Lustspielfilme ergeben!
So sagte man sich. Die überlebte Situationskomik wurde von geistreichen Einfällen belebt, und zum alten Humor gesellten sich für die neue Form Witz und Satire. Bei diesem „verfeinerten“ Humor im Film müssen die Namen Asta Nielsen, Dorrit Weixtler, Hedda Vernon, Resel Orla, Wanda Treumann, Lisa Weise, Henny Porten, Hanna Brinkmann, Ossi Oswalda uva. genannt werden.
Asta Nielsen konnte heute Tragödin, morgen Kobold sein. Deswegen verdanken wir ihr auch manchen lustigen Film. Wer könnte jemals „Engelein“ vergessen, jenen Ausbund von Tollheit und Übermut, wenn man diesen gesehen hatte. Richard Hülsenbeck, der bekannte Reiseberichterstatter, erinnert sich des „Engelein“ wie folgt:
- „Asta Nielsen ist mir zum ersten Mal erschienen, als ich noch ein ziemlich junger Mensch war und über die Differenzierungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen des menschlichen Gesichtes noch wenig nachgedacht hatte. Sie spielte damals die Rolle eines halbwüchsigen Mädchens mit einem sehr kurzen Rock und Beinchen mit Wadenstrümpfen. In meiner Erinnerung wirbeln noch diese Beine. Asta Nielsen war damals sehr unartig, so wollte es die Rolle. Ich war erstaunt, in welch genialer Weise sie die Unartigkeit nachahmen und darstellen konnte. Sie war ganz und gar Ausdruck der Unartigkeit, das Gesicht verzerrt und wieder geglättet, je nachdem Wille und Wunsch oder Abwehr und Ekel darüber hinweggingen. Sie war in ihrer Darstellung viel unartiger, als ein unartiges Mädchen je unartig hätte sein können. Sie war außerordentlich.“
Menschen, die Asta Nielsen sehr nahe standen, wußten, daß das Komische und Lustige an ihr nicht etwa für die Leinwanddarstellung gekünstelt, sondern harmonischer Bestandteil ihres wahren Wesens war. Diese Frau verfügte über einen köstliche Humor, nicht als gequälte Lustigkeit, sondern als natürlich. Das erwies sich 1916 noch einmal so recht deutlich in dem Film „Das Liebes-ABC“, in dem sie den Auserwählten ihres Herzens in den Fächern Leben und Liebe in die Schule nimmt und in Männerkleidung den Schüchternen durch die tollsten Amüsierstätten der Hauptstadt schleppt.
Mit dem Film „Die Erzkokette (1917), einem Kinderlustspiel für große Leute, wurde den Backfischfilmen endlich einmal eine neue Seite abgewonnen: herzerfrischender Humor mit moralisch tieferem Hintergrund. Die Titelrolle gab die schelmische Rosa Porten, Hennys Schwester. Die „Herren“ Tertianer wurden von Reinhold Schünzel und Eduard von Winterstein in kurzen Hosen mit einzigartiger Komik gegeben. Auch Hanna Brinkmann muß hier genannt werden, die ausgelassene, waschechte Berlinerin, die von der Operettenbühne zum Film kam. Die personifizierte Natürlichkeit! Das ist der Stempel ihrer Eigenart. Tollen, übermütig sein, am liebsten nur Freilichtaufnahmen, „da kann man doch wenigstens keine Kulissen umreißen“. Asta Nielsen und Henny Porten haben hauptsächlich in Filmdramen gespielt und in das Lustspiel nur gelegentlich Ausflüge. Diese Schusterstochter, deren Flame niemals auf dem Programm erschien, war die kleine Ossi Oswalda. Von „Ossis Tagebuch“ ab galt sie als die Verkörperin des deutschen Lustspielbackfisches.
Ossi Oswalda begann ihre Filmlaufbahn als kleine Komparsin und war froh, wenn sie damals außer fünf Mark Tageshonorar noch die Fahrtspesen ersetzt bekam. Sie war sehr ehrgeizig und trachtete danach, ihrem Regisseur aufzufallen. Aber das taten andere auch. Da plötzlich kam ihr die Erleuchtung. Eines Tages, als sie während einer Gesellschaftsszene vor dem Kurbelkasten stand und der Regisseur schon „Aufnahme“ kommandieren wollte, begann plötzlich die kleine Komparsin in Balltoilette vor dem Kurbelkasten einige Purzelbäumen zu schlagen. Das war natürlich nicht nur ein schwerer Verstoß gegen die Atelierordnung, sondern auch gegen die Disziplin. Aber damit bewies Ossi, daß sie auf Starlaunen Anspruch erheben konnte, und die Filmgewaltigen hatten merkwürdigerweise sofort das richtige Verständnis für diese Extravaganzen einer kleinen Ansängerin. Ihre Purzelbäume wirkten außerdem derart komisch, daß alle lachen mußten. Man brachte die Novizin vor Ernst Lubitsch, der ihr dann die erste größere Rolle in „G. m. b. h. Tenor“ anvertraute.
Detektive auf der Leinwand
Die Berliner 12-Uhr-Mittag-Zeitung ging damals den ersten Spuren des deutschen Detektivfilms nach: Im Jahre 1913 drehte der Regisseur Joe May einen Film, in dem eine Reihe aufstrebender Schauspieler beschäftigt war. Einer von ihnen hieß Ernst Reicher. Reicher, der in England das Verbrecherviertel Whitechapel studiert und dort einen Kriminalisten kennengelernt hatte, dessen Scharfsinn er immer wieder bewundern mußte, schlug eines Tages vor, ein Abenteuer jenes Privatdetektivs zu verfilmen. Er taufte den Held des Films Stuart Webbs, und so entstand der erste Detektivfilm „Die geheimnisvolle Villa“. Was niemand erwartete, traf ein. Dieser Film machte das bis dahin größte Geschäft, das man sich denken konnte. Überall, wo er erschien, im Inland und im Ausland, stand das Publikum an den Kassen der Lichtspieltheater Schlange. Das gab Mut. Es dauerte nicht lange, da wurde der zweite Stuart-Webbs-Film gedreht, dann der dritte, der vierte, der zwanzigste. Ernst Reicher hat wohl etwa 40 bis 50 Filme gedreht, in denen er „Stuart Webbs“ war, jener liebenswürdige, chevalereske, hochintellektuelle, sportlich durchtrainierte Detektiv, der als seine vornehmste Aufgabe den unermüdlichen Dienst an der Gerechtigkeit sah.
Sein größter Erfolg war der Film „Das Panzergewölbe“, der im Jahre 1914 erschien und alle Kassenrekorde schlug. Andere Stuart-Webbs-Filme, wie „Die Pagode“ (mit Werner Krauß und Lupu Pick), „Die Brüder von St. Parasitus“, „Die graue Elster“, „Das treibende Floß“ und später „George Bully“, „Der große Chef“, „Die malaiische Dschonke“, „Das Parfüm der Mrs. Worrington" uva., wurden vom Publikum immer mit größter Spannung erwartet. Die beiden Urheber der erfolgreichen Stuart-Webbs-Serien, Ernst Reicher und Joe May, trennten sich 1915, und Joe May trat mit einem neuen Unternehmen der Joe-Deebs-Serie an die Öffentlichkeit. Der erste Film nach der Trennung war „Das Gesetz der Mine“ (1915), ein Erfolg auf der ganzen Linie. Max Landa war in allen diesen Filmen Joe Deebs. Ein Filmdetektiv darf nicht vergessen werden: Harry Higgs, der in Wirklichkeit Hans Mierendorff hieß. Mierendorff spielte den Filmdetektiv als einen guten alten Onkel, der aber immer im entscheidenden Augenblick durchzugreifen verstand („Die Fußspur“, „Hallo, Harry Higgs, wer dort?“, „Der Mann im Nebel“).
Außer den drei genannten Schauspielern, die in Detektivfilmen auftraten, versuchten sich noch viele andere Schauspieler in der Filmdetektivrolle. Alwin Neuß spielte den Sherlock Holmes in dem Film „Der Hund von Baskerviele“ und den Tom Shark in „Die Spinne“, 1915 spielte Eugen Burg mit Routine einen Detektiv und Friedrich Zelnik den Verbrecher. Harry Liedtke spielte in den Filmen „Die leere Wasserflasche“ und „Die Hochzeit im Exzentrik-Club“ den Joe Deebs, als er zum Film kam; auch Ferdinand von Alten spielte später eine Joe-Deebs-Serie bei der UFA, und der rührige Führer der Reichsfachschaft Film, Carl Auen, errang als Joe Deebs in den Filmen „Der heulende Wolf“ und „Tambouren und kastagnetten“ größte Erfolge. Die Hälfte aller Spielfilme, die in der Kriegszeit das Kino beherrschten, waren Detektivfilme.
Die Masse versuchte, die nervöse Hochspannung, in die der Erste Weltkrieg den Alltag versetze, durch eine andere, eine künstlich und willkürlich hervorgerufene, auszulösen. Bismarck las nach großen Aufregungen ebenfalls gern Kriminalromane, wie auch Fürst Bülow und der berühmte Physiker Bunsen. Erregte Nerven kommen oft zur Ruhe, wenn neue Reize sie treffen, oder, medizinisch ausgedrückt: Gift wird mit Gift bekämpft. Außerdem trieb die Freude am Romantischen, Spannenden, Außergewöhnlichen, Abenteuerlichen – vielleicht auch das Interesse am Verbrecherischen überhaupt – dem Detektivfilm seine unzähligen Anhänger zu. Sein Reiz liegt in der steten Erregung des Publikums, die oft so weit geht, daß der Zuschauer förmlich mitspielt und sich dabei in die Rolle des Detektivs versetzt.
Die Sphäre des Verbrechens lockt. Der Gentleman-Einbrecher kämpft atemberaubend mit der Polizei. Er ist weltsicher und Lebensgenießer. Was ist das gewöhnliche bürgerliche Dasein gegen die Romantik seiner Schicksale? Er ist der Held des Abends, der in Gefahr und Genuß auf den Höhen durch seine Gesellschaft wandert, während unten im Tal die Philister auf den Straßen des Alltags einhertrotten. Da braucht man sich wirklich nicht zu wundern, daß begabte und unternehmungslustige Naturen gelegentlich von der Sehnsucht gepackt werden, von dieser Einbrecherherrlichkeit auch für sich selber ein Stück zu erobern. Hierin lagen die sozialen Gefahren des Detektivfilms.
Viele Menschen empfanden aber selbst den mittelmäßigen Detektivfilm – gemessene an den gebräuchlichen Kitschrührdramen – als eine geistige Erlösung, und dies um so mehr, als mancher Detektivfilm nicht nur aufregend, sondern sogar belustigend war. Richard Hutter schrieb manchen Stuart-Webbs-Film als Lustspiel, mit dessen Einkleidung in das beliebte Detektivgewand er das Publikum überraschen und bluffen wollte. 1919 war der Detktivfilm so gut wie zu Tode gehetzt. Er konnte sich in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges nicht mehr recht erholen, wenn er auch niemals ganz ausgestorben ist. Er mußte sich später in Inhalt und Aufmachung allerdings gründlich wandeln.
Liebe und Diebe
Ein Wort noch über die Detektivkomödie „Liebe und Diebe“: Seit Jahren führt die Internationale Kriminalpolizei einen Kampf gegen das ständig zunehmende Unwesen der Hochstapler. Besonders gefährlich sind die weiblichen Angehörigen dieses Berufes. Sie treten oft mit einer verblüffenden Sicherheit auf, benehmen sich wie wirkliche Damen der Gesellschaft, knüpfen Liebesverhältnisse an und plündern dann ihre Opfer rücksichtslos aus. Eine solche Frau ist Anna Kaludrigkeit, genannt „Brillanten-Anna". Unglücklicherweise besitzt Anna von Belling eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Hochstaplerin. Henny Porten spielt in einer glänzenden Doppelrolle (wie schon 1920 in „Kohlhiesels Töchter“) beide Frauen zugleich (Anna von Belling / Anna Magdalena Kaludrigkeit). Aus der geschickten Verwechslung ergeben sich zahlreiche romantische und heitere Konflikte.
Die Arbeit am Film nach dem Ersten Weltkrieg
Tod des stummen Films
Dem amerikanischen Filmkapital sind in den Jahren 1925–1929 aus dem Binnen- und Auslandsmarkt jährlich über eine Milliarde Goldmark zugeflossen. Diese, an europäischen Verhältnissen gemessen, ungeheuren Mittel haben nicht etwa nur der Investierung im eigenen Lande gedient, sondern auch der Eroberung des europäischen Marktes. Die Amerikaner sind in London und Paris in den Theaterbesitz eingedrungen, sie haben dort und in Berlin sich eigene Vertriebsanstalten geschaffen, sie haben sogar überall und besonders stark in Deutschland produziert. Es ging lange Zeit ums Ganze. Dieser zähe, heftige Kampf gegen Amerika konnte nur mit künstlerisch hochwertigen deutschen Filmen und vor allen Dingen mit ehrbaren Großkaufleuten in der Filmindustrie siegreich zu Ende geführt werden.
In der deutschen Filmindustrie dominierten aber in den Jahren des Stummfilms die fremdrassigen, unseriösen Elemente oder ausländischen Außenseiter. Konkurse über Konkurse waren an der Tagesordnung, so daß schließlich die Großbanken und das Großkapital sich immer mehr vom Film zurückzogen. Hinzu kam, daß der Staat seine wichtige Aufgabe völlig vernachlässigte, gerade den Film und seine bedrängte Industrie zu stützen oder zu säubern. War der Film doch nicht nur ein hochwertiges nationales Propagandamittel, sondern auch als Exportartikel mehr als wichtig. Der Film arbeitet ohne Rohstoffverlust und ohne Rohstoffeinfuhr und bringt bei richtiger Organisation Valuten ins Land, die einen ganz erheblichen Prozentsatz der gesamten deutschen Valuteneinfuhr darstellen.
Und den Filmdichtern gingen dazu auch noch allmählich die Ideen und Stoffe aus. Nach dem Kriege fanden die Sittenfilme ein aufnahmebereites Publikum. Die „Madame Dubarry“ erschien in einer Zeit, da die Revolution noch aktuell war, „Fridericus Rex“ und „Nibelungen“ setzten ein, als die nationale Bewegung an Boden gewonnen hatte, und die „Militärfilme“ wandten sich in der Zeit höchster politischer Spannung an das Publikum. Nur die Filmdramatik sah nicht die Zeichen der Zeit. Was uns die Filmdramatik in der Nachkriegszeit beschert hat, gehörte zum größten Teil einer vergessenen Zeit an. Wo blieben, von seltenen Ausnahmen abgesehen, im Film das Tempo und die Moral der Nachkriegszeit? Ein alter Fehler der Kinodramatik: Sie hat stets nur gezeigt, wie Geld ausgegeben, selten aber, wie es ehrlich verdient wurde. Das aber gerade interessierte nach dem langen Ersten Weltkrieg und zur Zeit der beginnenden Arbeitslosigkeit jeden Nachkriegsmenschen. Man hat sich damit ausgeredet, daß wir wohl eine Unmoral, aber kein neues Ethos hätten, das Filmstoffe hätte hergeben können.
Die Probleme der Nachkriegszeit stehen denen von früher in ihrer dramatischen Auswirkung nicht nach, übertreffen sie teilweise sogar, weil die Gegensätze sich in kämpferischen Zeiten wie damals ganz besonders schärfen. Das Dritte Reich hat ein paar Jahre später gezeigt, was man auf diesem Gebiete machen kann. Die vorübergehende Rettung aus diesem Dilemma kam nicht vom Filmdichter, sondern seltsamerweise vom Filmingenieur. Der Tonfilm wurde erfunden und stellte für ein paar Jahre Wegweiser ins Neuland des Films auf. Der neue Weg führte aber immer noch nicht zum Ziel, das nun einmal ohne Ideale, Glauben und Willen nicht zu erreichen ist. Erst das Dritte Reich hat nach einer imponierenden Säuberungsaktion der deutschen Filmindustrie und Filmkunst die endgültigen Richtlinien für den Film, seine Herstellung und Auswertung aufgestellt.
Blütezeit des deutschen Films
Durch das Dritte Reich entstand erst die Blütezeit des deutschen Films, und mit diesem Reich ging dann auch die ruhmreiche Zeit des deutschen Films zu Ende.