Bahr, Egon
Egon Karl-Heinz Bahr ( 18. März 1922 in Treffurt an der Werra, Thüringen; 19. August 2015 in Berlin) war ein christlich getaufter deutscher Vierteljude, Journalist und Politiker (SPD) in der BRD. Er war von 1972 bis 1974 Bundesminister für besondere Aufgaben und von 1974 bis 1976 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Inhaltsverzeichnis
Werdegang
Egon Karl-Heinz Bahr, evangelisch, wurde am 18. März 1922 in Treffurt/Thüringen als einziges Kind eines Lehrers geboren. Die aus Schlesien stammende Familie zog 1928 nach Torgau und 1938 nach Berlin, nachdem Bahrs Vater während der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) aus dem Schuldienst entlassen worden war, so die verbreitete Legende, da er sich nicht von seiner halbjüdischen Ehefrau, einer Bankbeamtin, deren Mutter (Bahrs Großmutter) Jüdin war, trennen wollte.[1] Egon Bahr besuchte das Mackensen-Gymnasium in Torgau und ab 1938 das Helmholtz-Gymnasium in Berlin-Friedenau, wo er 1940 das Abitur ablegte. Er wollte Musiker werden, soll aber, nach eigener Nachkriegslegende, keine Studienerlaubnis erhalten haben und begann 1941 eine Lehre als Industriekaufmann bei der Rheinmetall-Borsig AG.
Wehrmacht und Legendenbildung
1942 soll er beim Heer zu den „Stoppelhopsern“ (Soldatensprache für Infanterist) eingezogen worden sein. Später schrieb er, da seine Einberufung bevorgestanden habe, habe er sich lieber freiwillig gemeldet. Fest scheint zu stehen, daß er sich 1942 freiwillig zur Luftwaffe meldete, da er körperliche Anstrengung verabscheute.
- „Diese Neigung, nicht zu laufen, war damals schon da und hat sich gehalten, auch wenn ich es sehr bedaure.“
Er erhielt die Grundausbildung und wurde von den Fliegern zur Flaktruppe nach Rendsburg kommandiert. In einem Offiziersbewerber-Regiment in Zingst auf dem Darß wurde er an verschiedenen Flak-Geschützen ausgebildet. 1943 sollte es nach Minsk an die Ostfront gehen, allerdings wurden 20 Fahnenjunker nach Frankreich abkommandiert, so auch Bahr. Er diente u. a. in einer Flakstellung bei Dieppe. Als seine Kameraden und er einen Terrorflieger der RAF, eine Consolidated B-24, abgeschossen hatten, besichtigten sie das Flugzeugwrack, sahen die aufgemalten Bomben sowie das Ziel „Berlin“ und verspürten Stolz und Genugtuung, den Feind abgeschossen zu haben, wie er noch 2014 dem Tagesspiegel berichtete.
- „Erst nach sechs langen Jahren begann der prophezeite Krieg, den der Vater am Tage des Beginns für verloren erklärte. Das bezweifelte ich; denn Polen in zwei, Frankreich in sechs Wochen besiegt; das hatte nicht einmal das Kaiserreich geschafft und dann noch Dänemark und Norwegen. Stolz auf das Reich stellte sich ein [...] Mein Vater gab ein Beispiel von Anstand und Zivilcourage, als er auf seinen geliebten Beruf als Pädagoge verzichtete, um meine Mutter zu schützen. [...] Ein Jahr später meldete ich mich freiwillig zur Luftwaffe, weil ich nicht nach Rußland und zurück laufen wollte. Über Frankreich schoß meine Flakeinheit eine lahme englische Maschine ab. Sie hatte auf ihrem Rumpf für jede 1000 Kilo über Berlin abgeworfene Bombe eine Zeichnung. Seit Wochen ohne Nachricht von den Eltern empfand ich einen Augenblick Genugtuung, als ich Leichenteile in einem Baum hängen sah. [...] Auf der Kriegsschule bewahrte mich der Eintrag in der Wehrstammrolle als jüdischer Mischling II. Grades vor dem Kriegsgericht wegen versuchten Einschleichens in die Wehrmacht.“[2]
Zuletzt war er Fahnenjunker-Unteroffizier an der Luftkriegsschule (VI in Kitzingen). Am 20. Juli 1944 soll er aus der Wehrmacht entlassen worden sein, er selbst schreibt mal von „Suspendierung“ und dann wieder von „unehrenhafter Entlassung“, angeblich wegen der „verheimlichten jüdischen Großmutter“ (Wehrunwürdigkeit). Dies erscheint auch als Produkt der Nachkriegsphantasie, denn 1944 dienten auch Halb- und Vierteljuden (sogar einige wenige Volljuden) bei der Wehrmacht, nicht wenige hochdekoriert, viele fielen für das Vaterland. Es ist zu vermuten, daß andere Verfehlungen zur „Suspendierung“ führten, ggf. Feigheit vor dem Feinde oder schlichtweg die fehlende physische und/oder psychische Eignung als Soldat und Offizier. Bis 1945 wurde er erneut bei Rheinmetall-Borsig dienstverpflichtet[1] und war dort für die Verteilung von Munition und Waffen an alle Fronten zuständig.
- „Erst mal war von Befreiung keine Rede. Wir haben im Keller gesessen und das Trippeln der russischen Panje-Wagen übers Kopfsteinpflaster gehört. Die nächste Erinnerung ist das Öffnen der Tür und das Runterkommen der Rotarmisten auf der Treppe. Zuerst sahen wir ein Bajonett auf dem Gewehr, dann den Mann dahinter. Der ging durch den Mittelgang, links und rechts saßen die Bewohner des Hauses. Plötzlich sah er einen Draht, der an der Decke entlanglief und wurde sehr aufmerksam. Wir sagten: ‚Radio‘, schalteten das Gerät ein und dann spielte schöne Unterhaltungsmusik vom Reichssender Sowieso. Dann wollten die Soldaten Frauen haben. Meine spätere Frau hatte schon ein erkennbares Bäuchlein. Ich stellte mich vor sie, sagte: Die Frau bleibt hier. Da wollte er mir an die Kehle gehen, ich weiß nicht, wieso der Soldat von mir abließ, aber zum Glück tat er es. Der Begriff Befreiung hat sich erst mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker von 1985 durchgesetzt und seiner Erinnerung, der Krieg 1939 sei nicht ohne 1933 zu denken. Wir waren besiegt und wir waren befreit.“ — Egon Bahr zur „Befreiung“ im Gespräch mit Christian Schröder vom Tagesspiegel, 2014
Wirken in der Nachkriegszeit
Egon Bahr begann als Reporter 1945 bei der sowjetisch gelenkten „Berliner Zeitung“. Nach Differenzen mit dem Chefredakteur wechselte er zur amerikanischen „Allgemeinen Zeitung“, aus der später die „Neue Zeitung“ wurde.[1] Von 1948 bis 1950 wirkte er für den Berliner „Tagesspiegel“, von 1950 bis 1960 für den RIAS (zeitweilig als Chefredakteur). Von seinem Freund Willy Brandt, dem Regierenden Bürgermeister, wurde er 1960 zum Leiter des Presse- und Informationsamtes des Berliner Senates berufen, 1966 zum Sonderbotschafter im Bonner Auswärtigen Amt, dem Brandt nunmehr als Außenminister vorstand. Als Staatssekretär im Bundeskanzleramt war Bahr (Spitzname: „Tricky Egon“, auch volksmundlich: „Sonder-Bahr“) ab 1969 unter Brandt der Drahtzieher der sogenannten „neuen Ostpolitik“, die auf „Anerkennung der Realitäten“ abzielte (Verlust der Ostgebiete; DDR als eigener Staat). Von 1972 bis 1990 vertrat er die SPD im Bundestag. Zeitweise war er Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Entwicklungshilfe) und SPD-Bundesgeschäftsführer. Seit den 1980er Jahren tritt er als SPD-„Abrüstungsexperte“ auf. 1996 bezeichnete Bahr alle Kanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl als „IM der CIA“, 1998 schrieb er das Buch „Deutsche Interessen“.[3] Bahr riet 2004 der SPD, in den neuen Bundesländern stärker auf die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zuzugehen. Er kritisierte, daß es die SPD versäumt habe, nach der Wende die „große Masse unbelasteter Kommunisten“ zu integrieren.
Aufsehen erregte Bahr im Jahre 2009, als er in einem Aufsatz[4] für die ZEIT darlegte, daß alle Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis mindestens Willy Brandt einen von ihm so genannten „Unterwerfungsbrief“ zu unterschreiben hatten, der die nach wie vor bestehende Oberhoheit der Weltkriegssieger VSA, Großbritannien und Frankreich über die BRD auch nach Verabschiedung des Grundgesetzes feststellte. Dieser Zustand endete laut Bahr angeblich mit Wirksamkeit des pseudo-friedensvertraglichen Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991. Bedeutungen gewinnen diese Ausführung im Zusammenhang mit Debatten um die Frage der deutschen Souveränität, die auch für die Zeit nach der Deutschen Einheit teils bezweifelt wird.
Siehe auch: Kanzlerakte
Bahr hielt die Demokratie für eine Ideologie, welche im Zweifel gegenüber Sicherheit und gefestigten innerstaatlichen Zuständen zurückzustehen habe.[5]
Familie
Aus Bahrs 1945 geschlossener Ehe mit Dorothea Grob gingen ein - vor der Ehe gezeugter - Sohn Wolfgang ( 1945) und eine Tochter Marion ( 1950) hervor. Seine spätere Lebensgefährtin von 1981 bis 2002 war die Buchhändlerin, Lehrerin, Redakteurin und fr. Öffentlichkeitsreferentin der SPD-Bundestagsfraktion Christiane Leonhardt. Bahr lebte in Berlin.
Tod
Am 19. August 2015 starb Egon Bahr nach einem Herzinfarkt.
Auszeichnungen
Freda-Wuesthoff-Friedenspreis 1972 (1973), Großes Bundesverdienstkreuz (1973) mit Stern und Schulterband (1975), Theodor-Heuss-Preis (1976), Gustav-Heinemann-Bürgerpreis (1982), Ehrentitel „Professor des Hamburger Senats“ (1990), Mannheimer Medaille der IG Metall (1994), Kommandeur mit Stern des norwegischen Verdienstordens (2002), Ehrenbürgerschaft von Berlin (2002), Ehrenmedaille der Universität Hamburg (2002), Kommandeurskreuz des polnischen Verdienstordens (2002), norwegisch-deutscher Willy-Brandt-Preis (2007; zus. mit Thorvald Stoltenberg), Göttinger Friedenspreis der Stiftung Dr. Roland Röhl (2008)
- 6. Oktober 2008: Ehrendoktorwürde des Internationalen Hochschulinstituts (IHI) Zittau, für seine außerordentlichen Verdienste um die innereuropäische Verständigung
- 30. November 2008: „Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung“ (mit 20.000 Euro dotiert)
- 14. Juli 2009: Alte-Liebe-Preis Cuxhaven (mit 3.000 Euro dotiert)
Mitgliedschaften/Ämter
Egon Bahr war Mitglied des PEN-Zentrums (seit 1974) und des „Willy-Brandt-Kreises“ (seit 1997) sowie des Vorstandes der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Advisory Board des „Stockholm International Peace Research Institute“ (SIPRI).
Filmbeitrag
- Egon Bahr – Deutschland ist nicht souverän (13m 57s)
Veröffentlichungen
- Zu meiner Zeit. München 1996, ISBN 3-89667-001-8 (Autobiographie Bahrs)
- Willy Brandts europäische Außenpolitik (Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Heft 3). Berlin 1999
- Deutsche Interessen: Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik. München 2000, ISBN 3-442-75593-X
- Der deutsche Weg: Selbstverständlich und normal. München 2003, ISBN 3-89667-244-4
Literatur
- Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 44), Bonn 1996
Verweise
- Egon Bahrs Biographie, dhm.de
- DDR-Geschichte, DDR-Geschichte.de
Fußnoten
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